4. EU-Kohäsionsforum: Spannender Bericht, fade Diskussion

4. EU-Kohäsionsforum: Spannender Bericht, fade Diskussion

„Wachsende Regionen, wachsendes Europa“ war das Motto des 4. Europäischen Kohäsionsforums. Auf Basis des faktenreichen und interessanten 4. Kohäsionsberichts der Europäischen Kommission wurde mit – großteils – uninspirierenden Wortspenden die Debatte über die Zukunft der Kohäsionspolitik nach 2013 eröffnet.

 

Mitte Mai legte die Europäische Kommission (EK) ihren nunmehr „Vierten Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt“ (= kurz: 4. „Kohäsionsbericht“) mit dem Titel: „Wachsende Regionen, wachsendes Europa“(1) vor.
Diese Berichte liefern jeweils eine Fülle an aktuellen Zahlen und Fakten zur wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Situation und den Entwicklungstendenzen. Dies nicht nur für die Mitgliedstaaten, sondern vor allem für die 268 NUTS(2)-II-Regionen der EU. Zusätzlich werden jeweils aktuelle thematische Schwerpunkte analysiert, diesmal die Kohäsionswirkung nationaler und gemeinschaftlicher Maßnahmen. Auch für den 4. Kohäsionsbericht trifft jene Einschätzung zu, die Bürgermeister Häupl bezüglich des 2. Kohäsionsberichts traf: „Dieser höchst anregende Bericht sollte eigentlich eine ,Pflichtlektüre‘ für alle in Europa politisch Tätigen sein.“

Spannende „Pflichtlektüre“: Appetizer gefällig?
Die folgende Auswahl von Inhalten des 4. Kohäsionsberichts hat weder den Anspruch, den fast 200 Seiten starken Bericht noch dessen 20 Seiten lange Zusammenfassung weiter zu verdichten. Diese subjektive Auswahl an Zahlen und Fakten sollen den Leserinnen und Lesern lediglich Appetit auf „mehr“ machen. Die Mühe des Selbst-nachlesens kann niemandem erspart werden. Es sei denn, man schaut sich das 8-Minuten-Video über den Bericht an – siehe Kasten.

Wirtschaftlicher Zusammenhalt: Aufholprozess mit Schattenseiten
Auf der Ebene der Nationalstaaten nimmt der wirtschaftliche Zusammenhalt weiter zu. So hat sich etwa das BIP der drei baltischen Staaten von 1995 auf 2005 fast verdoppelt. Aber selbst wenn die derzeitige gute Konjunktur anhält, dürfte es noch mehr als 15 Jahre dauern, bevor Polen, Bulgarien und Rumänien ein Pro-Kopf-BIP von 75% des EU-27-Durchschnitts erreichen. Auf der Ebene der Regionen konzentriert sich der Aufholprozess häufig auf die dynamischsten Regionen, während von 2000 bis 2004 das reale Wachstum je Einwohner in 27 Regionen rückläufig war. In den Regionen mit Entwicklungsrückstand hat sich die Produktivität zwischen 1995 und 2004 viermal schneller erhöht als im EU-Durchschnitt. Andererseits ging die Produktivität im gleichen Zeitraum in 29 Regionen in Italien, Frankreich, Spanien und Deutschland zurück.

Sozialer Zusammenhalt
75 Millionen armutsgefährdet

Zur Erreichung der Beschäftigungsziele von Lissabon fehlen in der Union noch 23,5 Millionen Arbeitsplätze. Insgesamt kam es zwischen 2002 und 2005 zwar zu einer Annäherung der Beschäftigungsquote. In den Regionen mit Entwicklungsrückstand war sie aber noch immer rund 11 Prozentpunkte niedriger als im Rest der EU. In diesen Regionen nahm die Arbeitslosenquote von 13,4% auf 12,4% ab, gleichzeitig stieg sie aber in 17 dieser Regionen um über 2 Prozentpunkte. In 75% der insgesamt 258 „Urban-Audit“-Städte liegt die Beschäftigungsquote unter der des gesamten Landes. Zwei Drittel dieser Städte haben eine Arbeitslosenrate über dem nationalen Durchschnitt.
2004 waren durchschnittlich 16% der EU-Bevölkerung (= 75 Millionen Menschen) armutsgefährdet. Neben den Alleinerzieherinnen und -erziehern ist das Armutsrisiko besonders hoch bei jungen Menschen (19% in der Altersgruppe der unter 18-Jährigen) und bei den über 65-Jährigen. Interessant, wenn auch nicht neu, ist aber auch eine andere Feststellung der Europäischen Kommission in diesem Zusammenhang: „Die Mitgliedstaaten mit dem geringsten Anteil an armutsgefährdeten Menschen weisen normalerweise auch die gleichmäßigste Einkommensverteilung auf.“(3)

Territorialer Zusammenhalt: Suburbanisierung dominiert
Das traditionelle wirtschaftliche „Herz“ Europas (das Gebiet London, Paris, Mailand, München und Hamburg) trug 2004 deutlich weniger zum BIP der EU-27 bei als 1995. Dieser Trend ist mit dem Entstehen neuer Wachstumszentren wie Dublin, Madrid, Helsinki und Stockholm, aber auch Warschau, Prag, Budapest und Bratislava zu erklären. Innerhalb der EU hat sich indessen die Wirtschaftstätigkeit stärker auf die Hauptstadtregionen konzentriert.
Zwischen 1995 und 2004 erhöhte sich der durchschnittliche Anteil der Hauptstadtregionen am BIP um 9%, während ihre Bevölkerung nur um 2% wuchs.
Aufgrund von Agglomerationskosten könnte die zunehmende Konzentration der Bevölkerung und der Wirtschaftstätigkeit auf die Hauptstädte längerfristig das Wirtschaftswachstum bremsen. Die Suburbanisierung ist der vorherrschende Trend in europäischen Städten. Zwischen 1996 und 2001 wuchs in 90% der städtischen Agglomerationen die Bevölkerung im Umland stärker als im Stadtzentrum. Die Konzentration sozialer Deprivation und Arbeitslosigkeit in städtischen Wohngebieten ist in vielen europäischen Großstädten weiterhin ein Problem.
In jeder dritten EU-Region ging die Bevölkerungszahl zwischen 2000 und 2003 zurück. Ab 2017 könnte der Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zu Stagnation und in der Folge zu einem Rückgang des absoluten Beschäftigungsniveaus führen.
Öffentliche Investitionen werden zunehmend auf Ebenen unterhalb des Zentralstaates verwaltet. So lag der Anteil der von regionalen und lokalen Behörden kontrollierten öffentlichen Investitionen in Belgien bei über 90%, in Deutschland und Österreich bei rund 75%.
Der Bericht bietet also eine Fülle von differenzierten Fakten, zeigt widersprüchliche Entwicklungen auf – eigentlich eine ideale Basis, um eine interessante, kritische Diskussion beim 4. Kohäsionsforum zu erwarten. Was leider nicht der Fall war.

4. Kohäsionsforum: braver Mainstream
Das von der Generaldirektion Regionalpolitik der Europäischen Kommission organisierte Forum fand vom 26. bis 27. September in Brüssel statt. An der Veranstaltung nahmen zunächst mehr als 800 Vertreter der Mitgliedstaaten, der Regionen, der Kommunen und der europäischen Institutionen teil. Das für EU-Großveranstaltungen leider schon traditionelle Format des Forums (= de facto keine Diskussionsleitung, weil sich die jeweilige Leitung offensichtlich nicht traut, die Zeitdisziplin der Podiumsbeiträge durchzusetzen; schriftliche Vorlage von Publikumsfragen, deren Auswahl durch die Leitung erfolgt) hatte dann ein „voting by feet“ der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zur Folge. Waren am 1. Tag die Videosäle des Charlemagne-Gebäudes noch dicht gefüllt, so war am 2. Tag der große Sitzungssaal für die verbliebenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer ausreichend. An der österreichischen Delegation nahmen übrigens 5 Vertreter der Bundesländer teil, einer davon war ich.
Inhaltlich standen folgende Themenblöcke zur Diskussion: Regionen als Wachstumsmotoren Europas, neue Herausforderungen für die EU und ihre Regionen, Regionen als Akteure des Wachstums und der Wettbewerbsfähigkeit und der Mehrwert der europäischen Kohäsionspolitik. Dabei sollte eine Bewertung der bisherigen Strukturpolitik vorgenommen und darüber reflektiert werden, welche Rolle die künftige Regionalpolitik zur Bewältigung dringender Herausforderungen wie Klimawandel, sozialer Zusammenhalt oder demografische Entwicklung spielen könnte. Auch die Kompetenzverteilung zwischen EU, Mitgliedstaaten und Regionen sollte diskutiert werden.

Zukunftsdebatte eröffnet: EK-interne Positionierungen
Mit dem Kohäsionsforum gab Kommissarin Hübner den Startschuss für einen intensiven Konsultationsprozess über die Zukunft der Kohäsionspolitik. Dies vor dem Hintergrund, dass die Haushaltskommissarin Grybauskaité am 12. September 2007 unter dem Titel „Den Haushalt reformieren, Europa verändern“ bereits das Konsultationsverfahren um die Zukunft der EU-Finanzen eröffnet hatte. Es ist ein offenes Geheimnis, dass sich Hübner von der regionalen Ebene breite Unterstützung erwartet, die sie im kommissionsinternen Verteilungskampf um die Ausgestaltung des künftigen EU-Haushalts nutzen will.
Umgekehrt befürchtet Grybauskaité eine präjudizierende Wirkung der regionalpolitischen Reformüberlegungen für das künftige EU-Budget, was mit ihrem Auftrag einer „ergebnisoffenen“ Herangehensweise unvereinbar wäre. Angeblich kam es deshalb zwischen den beiden Kabinetten zu Verstimmungen. Nur vor diesem Hintergrund ist es erklärlich, warum bereits jetzt – wo die meisten Programme der Periode 2007 bis 2013 gerade erst genehmigt wurden, aber noch keinerlei Ergebnisse über die Auswirkungen der jüngsten Reform vorliegen, also zu einem Zeitpunkt, der für eine inhaltlich fundierte Debatte ungeeignet ist – die Diskussion über die Periode nach 2013 eröffnet werden soll. Dementsprechend allgemein waren dann auch die meisten Wortspenden. Insofern ist es kein allzu großer Schaden, dass das 4. Kohäsionsforum fast unbemerkt von der Öffentlichkeit stattfand. Zumindest im deutschsprachigen Raum gab es dazu kaum Resonanz in den Medien.

Forumsbeiträge: Viele Schlagworte, wenig Inhalt
Die Ausführungen fast aller Podiumsrednerinnen und -redner kreisten um die Begriffe: Lissabon, Strukturwandel, Modernisierung, Migrationsdruck, Energie, Klimawandel, Demografie etc. Auf prinzipielle Fragen wurde nicht eingegangen. Gibt es Konflikte zwischen den Zielen der einzelnen EU-Politiken? Eignet sich der chancenorientierte Ansatz der Lissabonstrategie (= Stärken stärken) für das Erreichen des Kohäsionsziels (= Förderung der entwicklungsschwächsten Regionen)? Wie wirkt sich das Ziel der möglichst vollständigen Umsetzung des Binnenmarktes auf die Kohäsion aus? Demgegenüber wurde allgemein betont, dass die Lissabon-Ziele – wahrscheinlich durch das Wirken der „invisible hand“ – natürlich auch der Kohäsion in der EU dienlich sind. Die Vollendung des Binnenmarktes bringt nur Gewinner mit sich, Verlierer scheint es nicht zu geben. Dieses Zukleistern von Widersprüchen schlägt sich auch in den neuen Wortkreationen des EU-speakes nieder. Nach der „coopetition“ sind wir nun bei den „prosumers“ angelangt. Historisch hat das Ausblenden von realen Widersprüchen schon zum Scheitern einiger gesellschaftlicher Systeme geführt. Zu hoffen ist, dass der EU nicht ähnliches widerfährt.

Positiver Aspekt: Städte zunehmend anerkannt
Das 4. war das bereits dritte Kohäsionsforum, an dem ich teilnahm. Diese Erfahrung bietet den Vorteil – neben den aktuellen –, auch längerfristige Diskussionslinien zu sehen. Dazu gehört zweifelsohne eine geänderte Sicht der Rolle und Bedeutung der Städte. War Bürgermeister Häupl 2001 mit seinem Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung der Städte in der Kohäsionspolitik noch allein auf weiter Flur, so wurde diesmal die Bedeutung der Städte, der städtischen Ballungszentren und der Hauptstädte in vielen Beiträgen explizit angesprochen. Delebarre, der Präsident des AdR, betonte hinsichtlich des territorialen Zusammenhalts die Rolle der Hauptstädte, die sich wirtschaftlich rascher entwickeln, wies aber ebenso auf die Probleme der Ballungsräume hin. Er erinnerte an die „Leipzig Charta“(4) für eine integrierte Stadtentwicklung und daran, dass die Herausforderungen der Zukunft vor allem in den Städten und Regionen bewältigt werden müssen. Der Minister für Umwelt, Raumplanung und Regionalpolitik in Portugal, Correia, betonte die Verantwortung der Hauptstadtregionen für die Entwicklung der Regionen insgesamt. Morgan, erster Minister von Wales, sprach die Bedeutung der städtischen Grundstückspreise für den Strukturwandel der Wirtschaft auch in den Umlandregionen an. Kommissarin Hübner bezog sich ebenfalls auf die „Leipzig Charta“ und wies auf die Notwendigkeit hin, auch die zweitrangigen städtischen Zentren zu entwickeln. Der spanische Staatssekretär für EU-Angelegenheiten, Navarro Gonzalez, forderte, dass im Rahmen der Kohäsionspolitik Projekte in allen Großstädten und Ballungszentren finanziert werden müssen. Da diese die Zentren von Wachstum und der Verbreitung von Technologien sind, sollten sie auch gefördert werden. Der Budapester Bürgermeister, Demszky, der aber in seiner Rolle als Vorsitzender des Forums für wirtschaftliche Entwick¬lung von EUROCITIES sprach, forderte eine Fokussierung der Strukturfondsmittel auf die Städte. Einerseits weil damit die größte Hebelwirkung erzielt werden kann, andererseits weil die Städte auch die Hauptlast der Integration tragen. Wichtig sei insbesondere die Berücksichtigung der „funktionalen“ Stadtregionen, die in der Regel nicht den administrativen Grenzen entsprechen. Ohne gute Koordination auf dieser Ebene können keine nachhaltigen Lösungen für die Herausforderungen der Zukunft gefunden werden. Er forderte auch spezielle Kapitel über „Städte“ in allen einschlägigen zukünftigen Berichten der EU sowie eine Bewertung des „Mainstreamings“ der städtischen Dimension im EK-Strategiebericht des Jahres 2010. Die Wichtigkeit der Betrachtung der „funktionalen“ wirtschaftlichen Regionen wurde auch zusammenfassend vom Generaldirektor für Regionalpolitik, Ahner, betont.
Inwieweit diese rethorische Bedeutungszunahme der städtischen Dimension der Kohäsionspolitik der tatsächlichen finanziellen in den neuen „Operationellen Programmen“ entspricht, lässt sich derzeit noch nicht beurteilen. Erste indikative Erhebungen von EUROCITIES stimmen allerdings nicht sehr optimistisch.

Ein Lichtblick: EU-Supermarkt und Euro zu wenig
Die bereits angesprochene Rede des Spaniers Navarro Gonzalez war übrigens die einzige „politische“ und zugleich rhetorisch brillante Rede am Forum. Er wies darauf hin, dass das EU-Budget weniger als die Hälfte der EU-weiten Rüstungsausgaben ausmacht. Die Ausgaben für die Kohäsionspolitik betragen nur ein Drittel des EU-Budgets, haben aber enorme positive Auswirkungen. Er betonte, dass viele Bürgerinnen und Bürger schön langsam die Zuversicht in die EU verlieren, da ihnen ein „EU-Supermarkt“ und der Euro nicht genügen. Benötigt ist ein politisches Europa, ein europäisches Gesellschaftsmodell, und dazu gehören die für Europa typischen Werte, insbesondere Solidarität. Die wirtschaftliche und soziale Kohäsion ist die „Seele“ Europas, die es zu bewahren gilt. Vom ansonst wahrlich nicht verwöhnten Publikum wurde dem Redner mit großem Beifall gedankt. Von mir auch, es war ein Lichtblick im übrigen stromlinienförmigen Mainstream.


(1) Den 4. Kohäsionsbericht gibt’s unter:
ec.europa.eu/regional_policy/sources/docoffic/
official/reports/cohesion4/index_de.htm
(2) Nomenclature des unités territoriales statistiques – „Systematik der Gebietseinheiten für die Statistik“
(3) 4. Kohäsionsbericht, Seite 30
(4) www.eu2007.de/de/News/download_docs/
Mai/0524-AN/075DokumentLeipzigCharta.pdf

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