Brücken bauen – nicht trotz, sondern wegen der vielen Sprachen!

Brücken bauen – nicht trotz, sondern wegen der vielen Sprachen!

In den Kinderbildungs- und -betreuungseinrichtungen der Stadt Graz treffen junge Menschen aus 40 verschiedenen Nationen, mit vier verschiedenen Konfessionen und zwölf Sprachen aufeinander. Eine Kindergarten- und eine SchülerInnenhort-Leiterin berichten, wie die Integration der Kulturen gelingen kann.

 

Gelingende Integration von verschiedenen Kulturen ist nur dann möglich, wenn gegenseitiges Vertrauen, Offenheit, Mut für neue Wege und Toleranz miteinander gelebt werden – und wenn diese Werte keine Schlagworte bleiben!
Die Stadt Graz nimmt sich dieser bereichernden Herausforderung in ihren Kinderbildungs- und -betreuungseinrichtungen seit rund zehn Jahren gezielt an.
Insgesamt werden 4.736 Kinder in den 12 Kinderkrippen (Krabbelstuben), 49 Kindergärten und 25 SchülerInnenhorten betreut.
Mit der stetig wachsenden Zahl der Kinder mit Migrationshintergrund in den städtischen Kindergärten stieg vor rund zehn Jahren auch die Zahl der offenen Fragen. Wie kann Integration für alle Beteiligten gut gelingen? Wie gehen wir mit dem Thema „Interkulturalität“ um? Welche religiösen Feste werden im Kindergartenalltag gefeiert? In welcher Sprache unterhalten sich die PädagogInnen und BetreuerInnen mit den Kindern und deren Eltern? Wie kann Elternarbeit gut gelingen usw.?
Immerhin treffen in den städtischen Kinderbildungs- und -betreuungseinrichtungen Kinder aus 40 (!) verschiedenen Nationen, mit vier verschiedenen Konfessionen und mit rund zwölf verschiedenen Sprachen aufeinander.
Zum Thema „Interkulturalität“ nehmen Anneliese Strasser (Leiterin Kindergarten Josef-Huber-Gasse & Leitung „Arbeitsgruppe Interkulturalität“ [AKIKU]) und Carmen Paugger (Leiterin SchülerInnenhort Dominikanergasse [Andrähort]) Stellung.
Seit wann beschäftigen Sie sich beruflich mit dem Thema „Interkulturalität“?

Anneliese Strasser, Carmen Paugger: Aufgrund der steigenden Zahl der Kinder mit Migrationshintergrund in unseren Einrichtungen haben wir bereits 1998 begonnen, einen eigenen Arbeitskreis, bestehend aus rund 15 Personen, mit den vielen offenen Fragen, die wir alle hatten, zu befassen. Wir nennen den Arbeitskreis „AKIKU“ – das steht für Arbeitskreis Interkulturalität. Schon bald nach der Gründung des Arbeitskreises war es uns gelungen, eine umfassende Materialsammlung für die tägliche Arbeit in unseren Kinderbildungs- und -betreuungseinrichtungen zu erarbeiten und zusammenzustellen. Zweisprachige Kinderbücher, Liedertexte, Geschichten und Spielmaterialien standen und stehen seither in allen unseren städtischen Kinderbildungs- und -betreuungseinrichtungen zur Verfügung. 2003 verschrieb sich der Arbeitskreis einem weiteren, sehr ambitionierten Ziel, nämlich der Erarbeitung eines interkulturellen Leitbildes, das für alle städtischen Einrichtungen gelten soll. 2006 wurde das interkulturelle Leitbild stolz der breiten Öffentlichkeit präsentiert.
Jeder Mensch möchte integriert werden, egal welcher Herkunft, welcher Religion, aus welchem sozialen Umfeld und aus welcher Erziehung. Jede/r möchte in einer Familie, in einem FreundInnenkreis, in einer Gruppe, einer Schule, einem Kindergarten etc. integriert sein, also einem bestimmten (Mikro-)System angehören. Welche Rolle spielt Sprache in diesem Integrationsprozess?

Anneliese Strasser: Ein ganz wesentlicher Baustein, der Integration (mit)ermöglicht, ist die Sprache. Sprache ist Identität. Sprache erklärt uns die Welt.
Sprache ist notwendige Voraussetzung für soziale und kulturelle Kompetenz und entscheidend dafür, dass wir in unserem Bildungssystem überhaupt bestehen können. Die soziale, emotionale und kognitive Entwicklung eines Kindes ist eng an die Muttersprache gebunden. Sie ist der Reichtum, der unsere Aufmerksamkeit und Wertschätzung verdient.
Im Kindergarten Josef-Huber-Gasse beträgt der Anteil an Kindern mit nicht- deutscher Erstsprache derzeit 76%. So ist eine Vielfalt an Sprachen durch die Anwesenheit von Kindern aus unterschiedlichen Kulturen gegeben. Ein hohes Maß an Kompetenz in der Muttersprache ist allerdings eine wesentliche Voraussetzung für einen gelingenden Zweitsprachenerwerb.

Carmen Paugger: Im SchülerInnenhort Dominikanergasse (Andrähort) beträgt der Anteil an Kindern mit nicht-deutscher Erstsprache 96%. Bei uns werden Kinder und Jugendliche von 6 bis 15 Jahren betreut. Große Kommunikationsprobleme haben wir eher mit den fremdsprachigen Eltern denn mit den Kindern. Doch grundsätzlich erlebe ich die interkulturelle Arbeit als große Bereicherung für mein Le¬ben. Viele Kinder sind schwer traumatisiert nach Österreich gekommen und haben ein „Leben“ hinter sich, von denen sich viele bei uns nicht mal eine Vorstellung machen können. Es ist für mich sehr schön, mitzuerleben, wie sich die Kinder hier entwickeln können, wie sie gemeinsam lachen und zueinander Brücken bauen, wie sich die unterschiedlichsten Kulturen mischen und täglich das Verbindende eindeutig vor das Trennende gestellt wird.
Wie werden Kinder mit Migrationshintergrund in Ihren Einrichtungen unterstützt?

Anneliese Strasser: Wir haben viele Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien (Bosnien, Kroatien Serbien) sowie türkischsprechende Kinder im Kindergarten Josef-Huber-Gasse. Um die Kinder in ihrer eigenen Identitätsfindung zu unterstützen, arbeiten bei uns zwei Betreuerinnen mit Migrationshintergrund, also „Native Speaker“.
Maria Drusko arbeitet seit rund zehn Jahren in unserem Kindergarten und kann gezielt die Kinder mit bosnischer, kroatischer und serbischer Erstsprache betreuen und unterstützen. Im Kindergarten gibt es dazu zahlreiche zweisprachige Bilderbücher. Eines dieser Bücher „Was denkt die Maus am Donnerstag“ ist im Kindergarten Josef-Huber-Gasse anlässlich eines Bilderbuchprojekts entstanden. Illustriert wurde es von den Kindern des Kindergartens, der Text, ein Gedicht von Josef Guggenmos, wurde von Frau Drus¬kos Bruder, Blago Vukadin, ins Kroatische übersetzt. Er hat für unsere Arbeit im Kindergarten aber auch einige Klassiker der Bilderbuchliteratur übersetzt; so auch das legendäre Buch von Mira Lobe „Das Kleine Ich bin Ich“. Nun kann dieses wunderbare Buch, in dem es um Identitätsfindung geht, auch Kindern mit Migrationshintergrund nähergebracht werden – in ihrer eigenen Sprache.
Die Muttersprache von Gürel Günes, der zweiten Betreuerin mit Migrationshintergrund, ist türkisch. Durch ihre Sprachkompetenz werden auch die türkischsprechenden Kinder des Kindergartens gezielt gefördert und begleitet.

Carmen Paugger: Wir unterstützen die Kinder hier im Hort in sehr vielen Aufgaben, die zu einem großen Teil in der Kompetenz der Eltern und/oder der Schule liegen sollten. Doch für die fremdsprachigen Eltern ist es meist unmöglich, ihre Kinder bei den Aufgaben wirklich zu unterstützen. Wenn die Kinder z. B. ein Gedicht lernen müssen, arbeiten wir mit ihnen daran, die einzelnen Wörter überhaupt erst mal zu verstehen, bevor sie ein Gedicht erfassen und lernen können. Hier sind unsere Ressourcen begrenzt, und wir würden diesen Aufgaben gerne viel mehr Zeit und Personal zukommen lassen, weil wir sehen, wie wichtig es ist, die Kinder hier gezielt zu unterstützen. Unser Team wird zusätzlich verstärkt durch eine Betreuerin mit Migrationshintergrund. Amira Hakeem-Boules spricht arabisch und kann Kinder aus diesem Sprachraum daher gezielt unterstützen.
Wir haben über die Integration der fremdsprachigen Kinder gesprochen. Welche Maßnahmen setzen Sie gezielt in Ihren Einrichtungen, um auch die Eltern in das „Kindergartensystem“ zu integrieren?

Anneliese Strasser: Die fremdsprachigen El¬tern bekommen von uns umfassende Un¬terstützung. Vertrauen ist dabei eine ganz wesentliche Voraussetzung für gelingende interkulturelle Arbeit. In Elternrunden, Workshops etc. werden wichtige Themen gemeinsam besprochen und erarbeitet – gemeinsam mit unseren Betreuerinnen mit Migrationshintergrund steht einer gezielten Kommunikation meist nichts im Wege. Wir ermutigen unsere fremdsprachigen Eltern auch immer wieder, mit ihren Kindern zu Hause in der Erstsprache zu sprechen und ihnen einen reichen Wortschatz zu vermitteln. Damit schaffen Eltern die Grundlage, auf der wir die Förderung der deutschen Sprache aufbauen können.
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es für viele unserer Eltern ein großes Anliegen ist, gut Deutsch zu lernen. Im Rahmen des transnationalen EU-Projekts „parenting“ (http://www.parenting-eu.com) ha¬ben wir einen Deutschkurs für fremdsprachige Mütter angeboten. Die Sprachkurse wurden in den Räumlichkeiten des Kindergartens Josef-Huber-Gasse angeboten, um den Eltern Schwellenängste zu nehmen (sie kennen die Räumlichkeiten, sind mit den MitarbeiterInnen vertraut etc.). Die Kurse fanden sehr großen Anklang. An eine Weiterführung ist längst gedacht … einzig die SponsorInnen fehlen noch.
(Hinweis: InteressentInnen melden sich bit¬te bei: Anneliese Strasser,
ltg.kdg.josef.huber.gasse@stadt.graz.at oder unter +43(0)316/872-2616.)
Im Rahmen dieses Projekts, das seit Ok¬tober 2006 läuft und im September 2009 abgeschlossen sein wird, gibt es noch zahlreiche andere Aktivitäten.
Das aktuellste Projekt in Sachen „Elternunterstützung/Elternbildung“ erlebe ich bei meinem Besuch im Kindergarten Jo¬sef-Huber-Gasse „live“ mit: Geleitet von Maria Drusko findet im Hof des Kindergartens ein eigener „Fahrradkurs“ für fremdsprachige Mütter statt. Die Räder wurden dem Kindergarten vom Sozialökonomischen Betrieb „Bicycle“ (http://bicycle.at) kostenlos zur Verfügung gestellt. Die Pedale wurden abmontiert und so starten die Frauen mit ihrem großen „Laufrad“. Mit Begeisterung sind sie dabei und können so ihren Kindern ein gutes Vorbild sein, nämlich darin, dass Lernen Spaß macht, sehr positiv sein kann und unser Leben bereichert.

Carmen Paugger: Bei uns im Hort ist die Elternarbeit etwas reduzierter als im Kindergarten. Die Eltern geben viel an Erziehungsarbeit an Schule und Hort ab, wenn die Kinder schon älter sind. Doch die fremdsprachigen Eltern bringen uns sehr großes Vertrauen entgegen. Sie kommen oft mit privater Post oder z. B. mit Formularen aus der Schule ihres Kindes und bitten uns um Unterstützung beim Ausfüllen, weil sie den Inhalt einfach nicht verstehen. Wir unterstützen die Eltern hier gerne und kontinuierlich, um ein gelingendes Miteinander zu forcieren und die Integration zu erleichtern.
Der Anteil an österreichischen Kindern ist im Kindergarten Josef-Huber-Gasse eher gering. Was sind Ihrer Erfahrung nach die Beweggründe von österreichischen Eltern, ihre Kinder in diesem Kindergarten betreuen zu lassen?

Anneliese Strasser: Die Eltern entscheiden sich meist sehr bewusst für diesen Kindergarten, weil sie die Vielfalt der Sprachen und Kulturen bei uns als sehr bereichernd empfinden und sie ihre Kinder zudem möglichst früh in Kontakt mit fremden Sprachen bringen möchten. Es spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, ob dieses Angebot in Englisch, Kroatisch oder in anderen Sprachen gegeben ist.
(Während des Interviews holt eine Mutter ihren Sohn vom Kindergarten Josef-Huber-Gasse ab.) Was waren ihre Beweggründe, ihren Sohn in diesem interkulturellen Kindergarten betreuen zu lassen?

Josefa Posch: Wir haben bereits das zweite Kind hier untergebracht und sind sehr zufrieden mit dem Angebot des Kindergartens. Das große Engagement des Kindergarten-Teams hat uns von Beginn an begeistert; zudem liegt der Kindergarten ganz in der Nähe unserer Wohnung. Ich finde außerdem, dass in diesem Rahmen sehr gut Brücken gebaut werden können zwischen verschiedenen Kulturen und Men¬talitäten – und das nicht trotz, sondern wegen der vielen Sprachen hier.
Mit welchen Schwierigkeiten sind Sie bzw. die PädagogInnen und BetreuerInnen der städtischen Kinderbildungs- und -betreuungseinrichtungen konfrontiert in ihrer täglichen interkulturellen Arbeit?

Anneliese Strasser, Carmen Paugger: Da der Anteil an Kindern mit nicht-deutscher Erstsprache in manchen städtischen Einrichtungen sehr hoch ist (fast bis zu 100% in manchen Gruppen!), gibt es einige dringend nötige Maßnahmen, die wir im Arbeitskreis Interkulturalität erarbeitet ha¬ben, um die Bildungs- und -betreuungsqualität in unseren Einrichtungen zu sichern. Mit diesen Forderungen treten wir an die verantwortlichen Stellen heran, um auf unsere Lage aufmerksam zu machen.
- Reduzierung der Kinderzahl in Kindergärten und Horten, wo der Anteil an Kindern mit nicht-deutscher Erstsprache mehr als 70% beträgt
- Höherer Personalschlüssel für diese Einrichtungen
- Ein „Interkulturelles Team“, in welchem fremdsprachige BetreuerInnen mit pädagogischer Vorbildung und guten Deutschkenntnissen arbeiten. Dies wäre auch eine gute Präventivmaßnahme im Bereich der Logopädie, um z. B. Sprachfehler bei fremdsprachigen Kindern besser erkennen zu können. Zudem wären diese Personen ein ganz wichtiges Bindeglied zwischen Eltern, Kindern und Betreuungspersonal. Dieses Interkulturelle Team könnte mobil je nach Bedarf eingesetzt werden.
- Gute und verpflichtende Vernetzung zwischen städtischen und privaten Einrichtungen, um eine bessere Aufteilung der Kinder zu gewährleisten.

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