Altern in Würde – gesellschaftspolitische Aspekte und Sichtweisen

Altern in Würde – gesellschaftspolitische Aspekte und Sichtweisen

Die Menschen werden älter – diese durch zahlreiche demografische Untersuchungen belegte Realität gehört unzweifelhaft zu den brennenden Zukunftsthemen, denen die Gesellschaft bewusst, mit Fantasie und mit Methode begegnen muss. Schenkt man den Demografen Glauben, dann „überaltert“ die Gesellschaft. Eine interessantes und oft strapaziertes Wortgebilde, das wahrscheinlich völlig unbeabsichtigt impliziert, dass wir „zu alt“ werden. Unmittelbar darauf stellt sich die Frage, was nun „überaltert“ oder „zu alt“ oder alleine „alt“ für eine Gesellschaft bedeutet – und auch, wofür zu alt?

 

Der Altersbegriff
Mit dem Begriff „Alter“ assoziieren wir Verfall, Verlangsamung, Ruhe, Ruhestand, Einsamkeit und Tod. Viele Menschen begegnen dem Älterwerden und dem Altsein mit Sorge und Angst, denn alt sein bedeutet oft, auf Hilfe angewiesen zu sein, seine Mobilität zu verlieren und an Vitalität einzubüßen. Alfred Adler sagt in seinem Buch „Menschenkenntnis“ sinngemäß: „Wer seine Mobilität verliert, der verliert seine Seele.“ Im Umkehrschluss bedeutet dieser Satz, dass nur jene Lebewesen eine Seele besitzen, die sich selbst bewusst bewegen können. Weil der Begriff Seele schwer greifbar und religiös behaftet ist, kann man Alfred Adlers Aussage so interpretieren, dass mit abnehmender Mobilität der Lebenssinn abhanden kommt.
Der Altersbegriff unterliegt Modetrends und einem ständigen Wandel. Im Vordergrund einer breiteren Diskussion steht jedoch nicht das Lebensalter als Zahlenwert, auch nicht der pragmatische Ansatz das Alter mit dem Pensionsantritt zu definieren. Der spannendste Moment des Altseins liegt in den differenzierten Betrachtungsweisen unterschiedlicher Interessengruppen, beispielsweise Wirtschaft und Staat. Bewusst provokant und nicht dem realen Gesellschaftsgefüge entsprechend polarisierend formuliert ist ein Mensch dann alt, wenn er aufgrund seiner körperlichen und geistigen Defizite aus der Gruppe der Konsumenten fällt. Wer sein Geld nicht bewusst ausgeben kann, ist wirtschaftlich unattraktiv und somit alt. Aus der Sicht des Staates ist ein Mensch dann alt, wenn er zum unproduktiven Kostenverursacher wird. Sprich, wenn sich das Sein als Staatsbürger auf einen budgetbelastenden Betreuungsfall reduziert. Durch die zunehmende Auseinandersetzung mit dem Alter auf unterschiedlichen Ebenen zeichnet sich ein deutlicher Trend ab, diese zeitaktuelle Interpretation des über Jahrhunderte geprägten Defizitmodells des Alterns in unserer Gesellschaft zu überwinden.

<bGesellschaftlicher Wandel</b>
Die Reife einer Gesellschaft kann man vereinfacht dargestellt auch daran erkennen, wie sie mit ihren alten Menschen umgeht. Jeder Mensch begehrt das Recht, in Würde zu leben und somit auch in Würde zu altern. Die aktuell vorherrschende Denkrichtung der Gesellschaft zählt jedoch die Dynamik und Jugend zu den vorrangigsten Zielen. Der Trend erschwert im letzten Abschnitt eines Lebens bewusste Qualität und Sinn für das Leben zu finden. Wir leben in einer „werte-verrückten“ Welt – eine Zeit¬erscheinung, die soziale Ethik als Auslaufmodell der postmodernen Gesellschaft betrachtet. Die Werte rücken von sozial, gemeinschaftlich und mitverantwortlich zunehmend rasch in Richtung ökonomisch, individuell und selbstverantwortlich.
In diesem Spannungsfeld des Wertedrifts sind Gebietskörperschaften aufgefordert, steuernd als Bindeglied und stabilisierender Faktor einzugreifen. Den politischen Steuerungsmechanismen über Geldströme fällt eine bedeutende Rolle zu. Sie steuern nicht ausschließlich die Finanzierung des bestehenden Versorgungssystems, sondern auch andere wichtige Einflussgrößen. Stabilität und Zusammenhalt wird zu einem Teil über die allgemeine Sozialversicherung definiert. Quasi eine gesetzlich aufoktroyierte Solidarität, die von den Menschen ohne verpflichtenden Charakter in dieser Breite nicht getragen würde. Die vermeintliche Freiheit und Unabhängigkeit voneinander durch völlige Liberalisierung der Versicherungssysteme trägt dazu bei, die Gesellschaft zu segmentieren. Budgets sind letztlich von Menschen geschaffene Realitäten, die bei aller notwendigen Flexibilität zweckgebunden Sinn und Nutzen stiften müssen.

Herausforderungen
Im Spannungsfeld zwischen den ökonomischen Zwängen und den sozialen Bedürfnissen gilt es sich zahlreichen Herausforderungen zu stellen: der demografischen Altersstrukturverschiebung, dem Fachkräftemangel, dem steigenden Qualitätsbewusstsein der künftigen SeniorInnen und deren Erwartungen in Bezug auf individuelle Bedürfnisse, der Finanzierung, dem regionalen und kultursensiblen Angebot etc.
Die Errungenschaften der Medizin tragen ganz wesentlich zur Erhöhung der Lebenserwartung bei. Die eigentliche Herausforderung liegt in der Annäherung der Autonomie an die Lebenserwartung. Nicht ausgeschöpftes Potenzial liegt dabei in der medizinischen Prävention, aber auch in der gesundheitsfördernden Anpassung der Lebensweise. Wenn man von der Fiktion ausgeht, dass sich die Autonomiekurve mit der Lebenserwartungskurve deckt, dann wäre rein hypothetisch keine geriatrische Betreuung mehr notwendig. Diese Vorstellung kann nie wirklich eintreten, die aufgezeigte Entwicklungsrichtung ist aber sinnvoll und richtig.
Die Betreuung von SeniorInnen liegt meist in öffentlicher Hand oder wird mit öffentlichen Mitteln unterstützt. Diese Einrichtungen unterliegen nicht vollständig den Marktmechanismen gewinnorientierter Un¬ternehmen. In unserer vom Markt geprägten Wirtschaftsordnung finden sich soziale Einrichtungen jedoch zunehmend dem Wettbewerb um Marktanteile ausgesetzt. Der Seniorenmarkt bildet keine Ausnahme. Wenn jedoch die Ökonomie alle Überlegungen dominiert, dann „verrückt“ der Mensch aus dem Zentrum. Wer mehr Effizienz fordert, muss zuerst seine Qualität definieren, denn wenn Kostenreduktion nicht mit Qualitätssicherung einhergeht, dann bleibt meist die Qualität auf der Strecke. Wer hingegen die Qualität fokussiert, der fördert gleichzeitig die Wirtschaftlichkeit. Die richtige Definition der Qualität in der Altenbetreuung bedeutet, dass jeder Mensch jene Betreuung bekommt, die er braucht. Im bedarfsspezifischen Ausdifferenzieren des Leistungsangebots steckt erhebliches Potenzial zur Steigerung der Effizienz und auch der Effektivität in der Betreuung alter Menschen bei gleichbleibender oder sogar steigender Qualität.
Die künftigen „Alten“ werden erwarten, dass sich Angebote und Leistungen ihren Bedürfnissen anpassen und nicht umgekehrt. Sie werden durchaus häufiger in der Lage sein, für Dienstleistungen zu bezahlen. Die selbstbewusste und fordernde Grundeinstellung gegenüber der Gesellschaftsordnung, wie etwa die revolutionäre Haltung der „68er“, wird, wenn auch in abgeschwächter Form, erhalten bleiben. Die künftigen „Alten“ werden individueller und selbstbestimmter sein, als wir es von der bescheideneren Kriegs- und Nachkriegsgeneration gewohnt sind. Das Bildungsniveau der neuen Alten liegt höher. Das bedeutet, dass man im Durchschnitt mit höheren Einkommen rechnen kann. Der Parameter „Bildungsniveau“ ist ein wichtiger Hinweis in Bezug auf die Eigenheiten und Wünsche, mit denen Betreuungseinrichtungen künftig rechnen müssen: Sie werden mehr soziale Kontakte auch außerhalb der Familie pflegen, ein höheres Aktivitätsniveau und einen besseren psychosomatischen Zustand aufweisen.
Um anlassbedingtem und meist verzögertem Reagieren vorzubeugen, müssen sich gesellschaftspolitische einflussreiche Denkmaschinen auf die zu erwartenden Bedürfnisse der neuen Alten vorzeitig einstellen. Die Zukunft wird innovative Lösungen bringen, an die wir heute aus noch „fehlendem Mangel“ nicht zu denken in der Lage sind.
Für jede Entwicklung gilt fern von jeder Sozialromantik der Grundsatz, dass Einrichtungen zur Betreuung alter Menschen ohne Wirtschaftlichkeit nicht zu halten sind – ohne Menschlichkeit ist es in ihnen jedoch nicht auszuhalten.

OEGZ

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