Hauptreferat zum Generalthema „Starke Städte im größeren Europa“

Hauptreferat zum Generalthema „Starke Städte im größeren Europa“

 

O. Univ.-Prof. Dr. Anton Pelinka vom Institut für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck.
„Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren!
Zu den Megatrends der Gesellschaft, in der wir leben, zählt nach wie vor die Urbanisierung. Immer mehr Menschen werden von den städtischen Ballungsräumen angezogen. Das gilt für die Dritte Welt, in der die städtischen Agglomerationen wie Mexico City und Sao Paulo, Shanghai, Mumbai und Lagos das rasanteste Wachstum aufweisen, das wir in der Welt von heute beobachten können.
Das gilt aber auch für Europa. Zwar weisen Paris und Berlin, Wien und Prag kein dramatisches Wachstum der Bevölkerung mehr auf, wenn man diese Städte nur im Rahmen ihrer formalen Grenzen als politische und Verwaltungseinheiten misst. Aber die Städte in Europa wachsen in Form der Ballungsräume, und Vieles, was für das Ruhrgebiet oder die Midlands schon vor hundert oder mehr Jahren gegolten hat, dass nämlich ganze Landschaften verstädtern, das gilt heute für alle großstädtischen Räume, in denen die gute alte Trennung von Stadt und Land weitgehend aufgehoben ist oder, besser, in denen das Land faktisch, wenn auch nicht formal zur Stadt wird.
Die Stadt ist das Labor der Gesellschaft. Das gilt für Industrie und Handel, das gilt für Wissenschaft und Forschung, und das gilt auch für die vielfältigen Lebensformen, für die sich so ausdifferenzierende Pluralität von Familien – Stichwort: ‚patchwork families‘ – und für die sich so ausdifferenzierende Pluralität von ethnisch definierten Kulturen – Stichwort: Multikulturalismus.
In den Städten Europas stehen heute Kirchen neben Moscheen, Synagogen neben Tempeln. In den Städten kann beobachtet werden, ob der Slogan des Europarates ‚We all are different – we all are equal‘ umgesetzt wird, ob die rasant wachsende kulturelle Differenz mit einer garantierten politischen und sozialen Gleichheit Hand in Hand geht. Die Städte liefern die Maßstäbe, anhand derer die Qualität unserer Gesellschaft beurteilt werden kann.
Wir alle sprechen in oft sehr unscharfer, plakativer Form von der Globalisierung. Aber vielleicht ist diese Globalisierung nirgendwo besser konkret zu erfahren als in einem urbanen Ballungsgebiet der Gegenwart: Den Taxifahrer aus Kalkutta trifft man in London ebenso wie in San Francisco; den Gemüsehändler aus Anatolien gibt es in Brüssel ebenso wie in München; und die direkte Kommunikation mit der ganzen Welt über das Internet ist in Taipeh ebenso möglich wie in Rom. Die Stadt von heute ist die globalisierte Lebensform schlechthin. Die Stadt ist die Globalisierung.“

Stadt ist Zukunft
„Eben deshalb ist die Stadt die Zukunft. Wenn Beobachter der Gesellschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts wissen wollten, in welche Richtung sich die Menschheit bewegt, was war besser geeignet, als das soziale Gefüge von Manchester zu studieren? Wenn Beobachter der Gesellschaft um die Mitte des 20. Jahrhunderts die Zukunft erfahren wollten, dann mögen die einen Moskau und die anderen New York analysiert haben, aber sie haben die großen Städte betrachtet. Und wenn wir heute nach Grundlagen für abgesicherte, für plausible Hypothesen dafür suchen, in welche Zukunft wir gehen, was bietet sich da besser an als die Extrapolation des Lebens in Kairo und Mailand, Osaka und Los Angeles, New Delhi und Peking, Madrid und Toronto?
Wer Eindeutigkeit sucht, wird sie – vielleicht – noch im Bregenzer Wald und in Laos finden. Wer hingegen die Zukunft finden will, wird diese in der Vieldeutigkeit hoch mobiler, extrem polarisierter, tief fragmentierter Riesenstädte finden: die Probleme der Umwelt und der Verteilung, des Rassismus und des Terrorismus, der Drogen und der politischen Extreme, aber auch der Forschungszentren, in denen an der Zukunft der Menschheit gearbeitet wird, der Innovationen, die, trotz alledem, der Wirtschaft eine Entwicklung und uns allen Hoffnung ermöglichen. Alles das bietet die Stadt. Alles das sehen wir in der Stadt.
Wer die Eindeutigkeit der Idylle will, darf die Stadt nicht wollen. Wer die Zukunft erfahren will, braucht sich um die Idylle nicht zu kümmern und muss sich eben deshalb mit der Stadt befassen. Wer aber über die Stadt unsere Zukunft erfahren will, muss ein Interesse daran haben, der Stadt von heute die Instrumente zu geben, die sie zur Gestaltung der Stadt von morgen braucht, zur Wahrnehmung ihrer Funktionen und zur Sicherung ihrer Strukturen:

- Funktionen, also Aufgaben; und dazu die entsprechende Möglichkeit, zur Erfüllung derselben auf Ressourcen, also auf finanzielle Mittel greifen zu können;

- Strukturen, also Institutionen; und dafür ein möglichst eindeutiges Bild der Kompetenzen zwischen Stadt und Land, Stadt und Bund, Stadt und Europäischer Union.“

Stadt ist Mobilität
„Stadt ist Mobilität, denn die Städte sind der mobilste Sektor der Gesellschaft, auch der Gesellschaft Europas. Städte sind Vorreiter der kulturellen Mobilität, die sozial und sprachlich, religiös und geschlechts- sowie generationsspezifisch differenzierten Kulturen sind in den Städten in besonderer Vielfalt und besonderer Widersprüchlichkeit anzutreffen. Migration erzeugt diese Vielfalt, deren Folge gesellschaftlicher Wandel ist. Die Migration ist gesamtgesellschaftlich induziert. Sie ist die logische und letztlich nicht vermeidbare Folge eines globalen Wohlstandsgefälles. Die primären Folgen der Migrationen – Chancen wie auch Risken – haben aber vor allem die Städte zu tragen.
Städte sind die Vorreiter der politischen Mobilität: Politische Trends – von der Arbeiterbewegung des späten 19. Jahrhunderts über die neuen sozialen Bewegungen des späten 20. Jahrhunderts zu den sich selbst organisierenden Netzwerken der Jahrtausendwende –, was politisch im Kommen ist, das lässt sich zuallererst in Städten beobachten.
Städte sind die Vorreiter beruflicher Mobilität. Das mittelalterliche Wort ‚Stadtluft macht frei‘ gilt im übertragenen Sinne noch immer: Die meisten Menschen sehen in den Städten die bestmöglichen Angebote für die Gestaltung ihrer Karrieren und damit auch ihrer Lebensqualität. Städte sind attraktiv, weil sie Freiheit ermöglichen, weil die individuellen Nutzenkalküle so vieler Menschen diese in die Städte führen.
Städte sind der Anziehungspunkt gesellschaftlicher Bewegung: Wer in Europa heute wandert, der oder die wandert vor allem in Städte; auf Dauer oder auch als Einpendler; für das Studium oder auch für die Kombination aus Berufs- und Freizeitwert.
Das große Europa – die Europäische Union – ist längst zu einer eigenen Ebene der politischen Gestaltung, zu einem spezifischen politischen System geworden. Die Europäische Union nimmt unvermeidlich allen anderen Ebenen Gestaltungsmöglichkeit, das heißt Kompetenzen, weg. Man kann lange darüber streiten, wer nun die eigentlichen Verlierer von Österreichs EU-Mitgliedschaft sind – der Bund oder die Länder oder die Gemeinden. Doch der Bund sieht seine Rolle offenbar darin, dass er seinen Anteil am politischen Kompetenz- und damit Machtverlust nach unten weitergibt.“

Städte brauchen Autonomie
„Städte aber brauchen Autonomie. Das ist auch Gegenstand des Österreich-Konvents. Weitgehend unbeeinflusst von Prinzipien wie Subsidiarität und Solidarität geht es im Konvent um die Lastenverteilung – buchstäblich und im übertragenen Sinn. Unabhängig davon, welche Prognosen dem Konvent zu stellen sind – ich persönlich neige wegen der eingebauten strukturellen Vetomacht auf so vielen Ebenen dazu, vom Konvent nur wenig zu erhoffen, aber auch wenig zu befürchten –, der Konvent könnte den Städten eine wesentliche Reduzierung der finanziellen und damit der politischen Gestaltungsmöglichkeiten bringen. Das aber würde eine Beschränkung der Politikfähigkeit der Städte bedeuten. Die Städte würden – in erster Linie als Konsequenz finanzieller Einschränkungen – die Instrumente einbüßen, auf die gesellschaftlichen Herausforderungen politische Antworten zu entwickeln. Eine solche Entwicklung wäre aus mehreren Gründen problematisch:

- Erstens: Die Städte könnten ihre Aufgabe als Labor der Zukunft Europas und Österreichs immer weniger erfüllen. Das trifft nicht nur die Städte, das trifft die Gesellschaft überhaupt. Die Fähigkeit, mit politischer und sozialer Mobilität, mit einem Europa ohne Grenzen umzugehen, diese Fähigkeit wird zuallererst in den Städten eingefordert, muss zuallererst von den Städten entwickelt werden. Die Städte müssen mit einer explosiven Vermehrung ihrer Aufgaben zurechtkommen, ohne dass sich dies in einer strukturellen, das heißt insbesondere finanziellen Folge niederschlagen würde.

- Zweitens: Die Städte wären so, wenn die pessimistische Erwartung eintrifft, Opfer einer kognitiven Dissonanz oder – anders ausgedrückt – einer Scheinmoral. Alle, die an Feiertagen so gerne vom Segen der Subsidiarität, vom Vorrang der kleinen Einheit reden, machen im politischen Alltag das genaue Gegenteil davon. Die Prediger der Subsidiarität und der Dezentralisierung werden sofort zu Praktikern des Zentralismus, wenn es um die Finanzen geht. Am Beispiel der kommunalen Selbstverwaltung und deren Ausstattung kann man sehen, wie sehr Prinzipien nur so lange Geltung haben, so lange sie die politische Bequemlichkeit nicht stören.
Alle reden von der Subsidiarität, so auch der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, der sich in Art. 5 Abs. 1 ausdrücklich und prinzipiell auf die politische und verfassungsrechtliche Struktur – Zitat – ‚einschließlich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung‘ – Ende des Zitats – der Mitgliedstaaten bezieht. Alle reden von der kommunalen Selbstverwaltung, doch die Entwicklung scheint dahin zu gehen, dieser Selbstverwaltung sukzessive die finanziellen Voraussetzungen zu nehmen.“

Wenn weniger Staat – dann mehr Stadt
„Eine solche Entwicklung richtet sich nicht nur gegen die Städte, sie richtet sich gegen die Politikfähigkeit schlechthin. Denn der Staat – der Nationalstaat, wie er sich im 19. und 20. Jahrhundert entwickelt hat – verliert schon seit einiger Zeit an Politikfähigkeit. Einer grenzenlosen, globalisierten Ökonomie steht eine in Nationalstaaten gesperrte, begrenzte Politik gegenüber. Und die Politik erweist sich gegenüber der Wirtschaft immer häufiger als die Schwächere. Zur Stärkung der Politikfähigkeit braucht es Instrumente jenseits des Nationalstaates oder über dem Nationalstaat und unter dem Nationalstaat. Dazu zählt die bundesstaatliche Komponente der Europäischen Union ebenso wie die Entwicklung von zivilgesellschaftlichen Netzwerken, wie sie NGOs grenzüberschreitend praktizieren und der Kommunitarismus theoretisch erklärt.
Doch zu dieser Stärkung der Politikfähigkeit braucht es auch die Kommunen, braucht es starke Städte, die zu den urbanen Großräumen die Labors der Zukunft gestalten. Der Großraum Wien–Bratislava etwa verlangt, damit im Europa ohne Grenzen die sozialen Entwicklungen politisch gesteuert werden können, politisch handlungsfähige Städte. Ballungszentren wie Paris oder Brüssel, aber auch wie Graz oder Linz benötigen, damit sie für morgen gestalten und nicht die sich ständig ändernden gesellschaftlichen Verhältnisse nach den Maßstäben von gestern bloß verwalten können, Kompetenzen – und das heißt auch Finanzen. Die wichtigen Funktionen, das heißt, die Zukunftsaufgaben der Städte, verlangen nach Strukturen und deren entsprechender Ausgestaltung.
Das ist nicht nur im Interesse der Städte, das ist im Interesse der gesamten Gesellschaft. Der Umgang mit der für eine urbane Gesellschaft besonders typischen Mobilität – mit der sozialen und politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Mobilität – ist eine besondere Aufgabe, die primär von den Städten in einer gesamten Gesellschaft wahrgenommen werden soll. Dafür müssen die Städte von der Gesellschaft auch entsprechend ausgestattet werden.
Das ist nicht nur eine Forderung des Österreichischen Städtebundes an den Österreich-Konvent, das deckt sich grundsätzlich auch mit der öffentlichen Meinung, denn eine große Mehrheit der österreichischen Bevölkerung fordert ausdrücklich, dass die zentralen Aufgaben der Bewahrung und Entwicklung der Infrastruktur – von der Wasserversorgung und dem öffentlichen Verkehr bis zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen – in der Kompetenz der Gemeinden bleiben sollen. Die Alternative, die Privatisierung dieser Aufgaben, wird mit großer Mehrheit abgelehnt.
Damit hat die Kommunalpolitik Aufgaben zu erfüllen, die nicht nur traditionell, sondern auch aktuell den Gemeinden zugeordnet werden. Dazu muss sie aber in die Lage versetzt werden, diesen Aufgaben gerecht zu werden, vor allem durch eine entsprechende Gestaltung der Finanzverfassung und des Finanzausgleichs. Und hier besteht auch eine Gefahr, dass indirekt und langfristig das Vertrauen in die Städte sinken könnte: durch die Kluft zwischen einem ständigen Mehr an Aufgaben, die Gemeinden zu erfüllen haben, und der finanziell eingeschränkten Möglichkeit, diese Aufgaben auch zu erfüllen. Den Städten die Wahrnehmung dieser Funktionen aufzutragen, ihnen aber die dafür erforderlichen Mittel zu verweigern, das muss langfristig zu einem Vertrauensverlust führen, das kann langfristig zu einer wachsenden Attraktivität der heute noch breit abgelehnten Privatisierung kommunaler Aufgaben führen.
Ein Schelm ist, wer hier Schlechtes denkt, wer eine kausale Verbindung sieht zwischen einer finanziellen, von oben und außen diktierten Verengung des politischen Gestaltungsspielraumes der Städte auf der einen Seite und den Privatisierungsinteressen, wie sie sich im Rahmen etwa der Welthandelsorganisation artikulieren, auf der anderen Seite. Doch Schlechtes zu denken, das muss noch nicht ein Denken an der Wirklichkeit vorbei sein. Wer im Einklang mit der öffentlichen Meinung öffentliche Aufgaben weiterhin den Kommunen übertragen will, muss dafür sorgen, dass diese dem auch gerecht werden können.
Deshalb: Wenn es gilt, dass es weniger Staat geben soll, dann braucht es mehr Stadt als Korrektiv zum freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte.“

Chance und Risken der direkten Demokratie
„‚All politics is local‘, so eine amerikanische Beobachtung. Man könnte auch hinzufügen: ‚All politics is personal.‘ Politik ist immer lokal, also kommunal, und sie ist immer persönlich. Wer könnte dies besser verstehen als die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der österreichischen Städte? Und was drückt diesen Zusammenhang besser aus als die Direktwahl der Bürgermeister?
Diese Direktwahl ist Ausdruck eines, wie ich glaube, unvermeidlichen Trends, aber gleichzeitig auch Ausdruck eines Widerspruchs, eines Dilemmas. Die Direktwahl ist unvermeidlich, weil sie dem Zeitgeist entspricht und weil dieser Zeitgeist etwas ausdrückt, was seit Jahrzehnten abläuft, nämlich den Rückzug der festgeformten Loyalitäten zu Parteien, den Rückgang der Lagermentalität. Die Parteien sind weniger denn je in der Lage, den Großteil der Wählerinnen und Wähler fest an sich zu binden. Die Folgen sind bekannt: wachsende politische Schwankungen und eine zunehmende Unberechenbarkeit der Wahlergebnisse.
Die Parteien haben aber, auch in der Kommunalpolitik, eine unersetzbare Aufgabe: Sie rekrutieren die Personen, die zur Wahl stehen. Die Parteien sind und bleiben ‚gate keeper‘ auch des kommunalen politischen Prozesses. Die Parteien sind immer weniger aber diejenigen, die emotional mobilisieren können. Der Rückzug der Parteien von der Funktion der politischen Mobilisierung und der emotionalen Bindung macht aber einen Platz, eine Aufgabe frei, und diese füllen nun Personen. Es sind immer mehr Personen, also konkrete Menschen, die gerade in der relativ überschaubaren Kommunalpolitik andere Menschen motivieren können, sich für Politik zu interessieren, sich am politischen Prozess aktiv zu beteiligen, Politik, zuallererst Kommunalpolitik, als wichtig zu erkennen.
Eben deshalb ist der Prozess, der zur Einführung der Direktwahl der Bürgermeister in den meisten Städten Österreichs geführt hat, ein unvermeidlicher Trend. Die Direktwahl ist die unmittelbare Folge der Personalisierung der Politik. Ohne die Direktwahl der Bürgermeister hätte die österreichische Politik ein wichtiges Mobilisierungsinstrument weniger.
Doch die Direktwahl wirft auch Probleme auf. Sie zwingt ein dem politischen System Österreichs eigentlich fremdes Element in die Kommunalpolitik. Denn Politik in Österreich baut – wie fast überall in Europa – auf der Grundlage eines parlamentarischen Systems. Die Wählerinnen und Wähler wählen ein Parlament – den Nationalrat, den Landtag. Aus diesem Parlament heraus legitimieren sich durch parlamentarische – und nicht plebiszitäre – Mehrheitsentscheidungen Regierungen, legitimieren sich Bundeskanzler und Landeshauptleute. Und diese sind auch den Parlamenten gegenüber politisch verantwortlich.
Das war bis zur Einführung der Direktwahl auch in allen österreichischen Gemeinden so: Die Mehrheitsverhältnisse im Gemeinderat bestimmten, wer das Amt des Bürgermeisters ausübt. Aber auch die Direktwahl hat an der politischen Verantwortung des Bürgermeisters gegenüber dem Gemeinderat nichts geändert. Niemand kann auf längere Sicht gegen den Willen des Gemeinderates Bürgermeister oder Bürgermeisterin sein. Im Fall des direkten Konfliktes mit dem Bürgermeister ist der Gemeinderat noch immer der Stärkere – etwas, was aber dem Gedanken der Direktwahl eigentlich nicht entspricht.
Deshalb ist das Prinzip der Direktwahl ein potentieller Störfaktor: Ein parlamentarisches Element – nämlich die politische Verantwortung des Bürgermeisters gegenüber dem Gemeinderat – reibt sich mit einem quasi-präsidentiellen Element, mit der Direktwahl. Dass dieser Widerspruch bisher noch nicht zu Blockierungen des kommunalen Entscheidungsprozesses in einer signifikanten Zahl von Gemeinden geführt hat, heißt nicht, dass es nicht dazu kommen könnte.
Die Fähigkeit der meisten österreichischen Städte und Gemeinden, mit diesem Widerspruch – bisher zumindest – pragmatisch umgehen zu können, spricht für die Lebendigkeit und Kraft des Trends zur Personalisierung. Österreichs Gemeinden, Österreichs Städte werden also auch in Zukunft mit diesem Widerspruch leben müssen und wohl auch leben können.
Die Problematik der Direktwahl von Bürgermeistern gleicht der Problematik der direkten Demokratie überhaupt: Sie ist weder ein Patentrezept, das eine Idealform der Demokratie herstellen könnte, noch ist sie ein Übel, das demokratische Politik unvermeidlich zersetzen würde. Die Direktwahl speziell und jede direkte Demokratie generell bringen dann mehr Vorteil als Nachteil, wenn sie im Zusammenspiel mit den indirekten Formen der Demokratie gesehen werden, wenn sie den Parlamentarismus nicht ersetzen, wenn sie diesen ergänzen sollen. Die Direktwahl der Bürgermeister ist dann sinnvoll, wenn dieser oder diese sich als Partner des Gemeinderates entwickelt und nicht als dessen Gegenspieler.“

Soziales und wirtschaftliches Korrektiv
„Städte sind ein soziales und ein wirtschaftliches Korrektiv. Wir leben in einer Welt, deren wirtschaftliche Ordnung primär durch das Konzept der Marktwirtschaft bestimmt wird. Wir leben aber auch in einer Welt, deren wirtschaftliche Ordnung durch korrigierende Eingriffe mitbestimmt werden muss, soll aus der Ordnung einer balancierten Marktwirtschaft nicht die Unordnung werden, die durch das Urwaldprinzip eines anarchischen Kampfes aller gegen alle gekennzeichnet ist. Marktwirtschaft, aber mit sozialen Korrektiven – das ist das Prinzip.
Für diese sozialen Korrektive stehen aber vor allem auch die Städte. Öffentlicher Verkehr und ein öffentliches Bildungssystem, öffentliche Spitäler und eine öffentliche Wasserversorgung – das alles sind nicht Aufgaben der Öffentlichkeit schlechthin, das sind zu allererst Aufgaben der Kommunen. Diese sorgen dafür, dass die soziale Schere zwischen Arm und Reich sich nicht größer und noch größer auftut. Die Städte sorgen für ein Minimum an Balance, an sozialem Ausgleich, an gesellschaftlicher Verträglichkeit.
Wer das will, muss autonome und starke Städte wollen. Wer autonome und starke Städte verhindert, will offenkundig nicht den sozialen Ausgleich, nicht die gesellschaftliche Symmetrie. Dort, wo der Nationalstaat – als Opfer der neuen, vor allem ökonomischen Grenzenlosigkeit – an Bedeutung verliert, dort ist die Stadt als soziales Korrektiv umso mehr gefragt.
Globalisierung ist nicht nur Gefahr, sie bedeutet auch Chance – gerade für die Städte, die ihrem Wesen nach ja von Grenzüberschreitungen, von Grenzaufhebungen profitieren. Es sind die großen Städte des neuen Europas, die aus der Grenzenlosigkeit einen Nutzen ziehen. Budapest und Prag und Warschau können und müssen heute mit Wien und Berlin und Mailand konkurrieren. Die junge Intelligenz in Ljubljana und Bratislava lässt sich eher von den positiven als von den negativen Potentialen der Globalisierung beeindrucken.
Aber gerade deshalb sind die Städte aufgefordert – und sind auch dazu grundsätzlich geeignet –, die Chancen dieser Entwicklung zu fördern, etwa durch die Betonung von Internationalität, von Vielsprachigkeit, von Mobilität. Und die Städte sind gefordert, den Gefahren eben dieser Entwicklung entgegenzuwirken: durch die Sicherung der infrastrukturellen Voraussetzungen des Lebens in den Städten und durch die Garantie einer Lebensqualität, die den Menschen in urbanen Räumen stärker das Positive und weniger das Negative an der Globalisierung vor Augen führt.“

Land wird Stadt und Stadt wird Land
„Wir erleben, meine Damen und Herren, das Land zu Stadt und Stadt zu Land wird. Stein Rokkan, ein vielzitierter norwegischer Politikwissenschafter, hat in seinen Arbeiten zur Cleavage-Theorie, zur Erklärung gesellschaftlicher Dynamik aus den gesellschaftlichen Widersprüchen, dem Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie eine große Bedeutung eingeräumt. Für Rokkan war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diese Bruchlinie zwischen Zentrum und Peripherie vor allem auch eine zwischen Stadt und Land. Rokkan hatte natürlich Recht: beginnend vom Heirats- bis zum Wahlverhalten, vom religiösen bis zum kulturellen Verhalten war Europa vom Nebeneinander, von einer spannungsreichen Koexistenz zwischen einer städtischen und einer ländlichen Zivilisation gekennzeichnet.
Wer die Diskussionen über das ‚Rote Wien‘, über den ‚Wasserkopf Wien‘ und über die explosiven Spannungen aus der Zeit der Ersten Republik kennt, weiß, wie sehr der Ansatz von Rokkan auch Österreichs Vergangenheit beschreibt. Und wer die Ergebnisse der Bundespräsidentschaftswahl 2004 etwas näher betrachtet, weiß, dass der Stadt-Land-Gegensatz nicht nur einer der Vergangenheit ist: Noch immer ist in der österreichischen Wahlforschung von einer klaren Korrelation zwischen Gemeindegröße und Wahlverhalten auszugehen.
Doch dieser Gegensatz zwischen Stadt und Land hat sich relativiert. Sind heute die Probleme von Pasching von den Problemen von Linz zu trennen, und sind die Gemeinden des Innsbrucker Mittelgebirges nicht auch urban wie Innsbruck selbst? Unterscheidet die Grenze zwischen Wien und Schwechat auch zwischen den Herausforderungen, denen sich die Großstadt und denen sich die Kleinstadt ausgesetzt sieht? Es sind nicht die oft historisch zufällig entstandenen Grenzen zwischen den Gemeinden, die Unterschiede zwischen der sozialen Situation der einen und der sozialen Situation der anderen Gemeinde schaffen. Dem werden ja auch die Städte und Gemeinden gerecht – durch ein System der Verbände und des Verbundes, vom Wasser bis zum öffentlichen Verkehr.
Der Gegensatz zwischen Stadt und Land hat nicht zu existieren aufgehört, aber er hat sich reduziert. Denn Stadt und Land sind in einem Prozess gesellschaftlicher Konvergenz: Viele Lebensformen des Landes sind verstädtert – von der über die Massenmedien vermittelten, vor allem urbanen Alltagskultur bis hin zur beruflichen Mobilität, die es erlaubt, auf dem Lande zu leben und in der Stadt zu arbeiten. Viele Lebensformen der Stadt sind wiederum auch traditionell ländlichen Formen näher gerückt: Öffentliche und private Grünflächen vermitteln mitten in Städten einen Hauch des Landes, und der massenhafte öffentliche und Individualverkehr ermöglicht eine Kombination eines typisch städtischen mit einem typisch ländlichen Freizeitverhalten. Damit ist aber erst recht die These bestätigt, dass die Stadt die Zukunft ist, auch dort, wo nicht Stadt ist, dort, wo nach einem traditionellen Verständnis das Landleben stattfindet, sind städtische Lebensformen allgegenwärtig. Die Stadt ist die Zukunft – auch die Gesellschaft schlechthin.
Meine Damen und Herren! Ich komme zum Ende. Es macht wenig Sinn, aus den – noch – vorhandenen Widersprüchen zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Stadt und Land einen dauerhaften politischen Interessenkonflikt ableiten zu wollen. Das gemeinsame Interesse ist, die Städte und Gemeinden mit den Mitteln auszustatten, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben brauchen. Das kann, das muss auch im Interesse der sich verstädternden Gesamtgesellschaft sein.
Das, was heute die Städte betrifft, betrifft nicht nur das Land – Land als ‚countryside‘, als nicht unmittelbar städtischen Bereich der Gesellschaft –, das, was heute die Städte sind, das ist morgen die ganze Gesellschaft, das ganze Land. Deshalb ist dieses Land – jedes Land – gut beraten, die Städte nicht als einen isolierten oder isolierbaren Teil zu sehen, sondern als den Teil, in dem sich die unmittelbare Zukunft des Ganzen spiegelt.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.“

OEGZ

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