Wie „wurscht“ ist der EU unser Europa?1

Wie „wurscht“ ist der EU unser Europa?1

Gerade einmal 10 Prozent aller EU-Rechtsmaterien seien pünktlich und fehlerfrei umgesetzt, steht in einer aktuellen europaweiten Studie. Nicht einmal ein Drittel aller Fälle waren zumindest „fast pünktlich“. Dies einmal schwarz auf weiß in gut recherchierten Zahlen zu lesen, ist ein Alarmsignal. Die interessante Frage lautet: Warum ist das so? Was ist in einer Europäischen Union los, deren Umsetzung von EU-Rechtsakten an die Säumigkeit chinesischer oder russischer Provinzen heranreicht?

 

Beispiel Öffentlicher Personennahverkehr – Verordnung EWG 1191/69
Nehmen wir als Beispiel eine der am meisten missachteten EU-Verordnungen aus dem Beihilfenrecht: Die Verordnung EWG 1191/69 ist jener Rechtsakt, durch den Mitgliedstaaten Beihilfen im öffentlichen Verkehr bezahlen dürfen (öffentlicher Regionalverkehr ist praktisch in der gesamten EU ein öffentlicher Dienst, den der Staat erheblich mitfinanziert). Die Bestimmungen der Verordnung 1191/69 sind (wenn man sie genau liest) sehr rigide: Es dürfen Beihilfen in keiner Art vergeben werden, die den Binnenmarkt verzerren oder zu verzerren drohen. Öffentlicher Nahverkehr müsste also – streng genommen – in Europa „marktkonform“ vergeben werden. Einige Experten sind der Meinung, dass dies eigentlich nur durch Ausschreibung möglich sei.

Ausschreibungen – zumindest problematisch
Die es probiert haben, sind über weite Strecken elend aufs Maul gefallen. Großbritannien hat im städtischen Busbereich außerhalb Londons mehr als ein Drittel seiner Fahrgäste verloren, der Lohn der Busfahrer ist um ein Viertel eingebrochen. Die Busbetriebe in Schweden und den Niederlanden plagen sich mit enormen Qualitätsproblemen. Es gibt zwar auch einige positive Beispiele, aber das Ergebnis ist bestenfalls gemischt. Ein Recht zur Ausschreibung ließe sich ja noch begründen (aber das besteht schon fast überall), ein Ausschreibungszwang ist statistisch einfach nicht begründbar.
Ein Großteil von Europas Städten hat sich das Ausschreibungschaos erspart (unter anderem auch Wien, das allerdings die Möglichkeit einer Ausnahme im EU-Recht rechtzeitig wahrgenommen hat) und setzt stattdessen lieber auf einen gut funktionierenden öffentlichen Verkehr. Die zurückhaltenden Städte haben Grund zur Vorsicht: Das Missachten einiger EU-Richtlinien macht Europas Städte ein großes Stück lebenswerter.

Standortwettbewerb – Gefährdung sozialer Standards
Nun beschreibt aber die Studie auch, dass die Mitgliedstaaten der EU gerade auch bei der Sozial- und der Umweltgesetzgebung besonders säumig sind. Aber auch dafür gibt es eine Erklärung, und diese heißt Standortwettbewerb. Der Existenzgrund der EU war ursprünglich zweierlei: ein politisches Friedensprojekt und ein neoliberales Marktkonzept. Das ausgeprägte Marktkonzept feiert seit einigen Jahren fröhliche Urständ. Alle Regulierungen aus dem Bereich Wettbewerb und Binnenmarkt laufen nicht nur in die Richtung, den Wettbewerb zwischen Unternehmen zu forcieren, sondern auch den Wettbewerb zwischen Staaten, Regionen, Ballungszentren, Gemeinden und Einzelpersonen: Ist ein Land wettbewerbsfähig genug? Hat es die geringste Körperschafts- und Kapitalbesteuerung? Hat es die am laxesten kontrollierten Sozial-, Sicherheits- und Qualitätsbedingungen? Dann wird dieses Land einen etwas größeren Anteil am Wirtschaftskuchen anziehen. Die Politik hat sich scheinbar schon an das Prinzip „Den Letzten beißen die Hunde“ gewöhnt. Ziel und Logik des Standortwettbewerbs ist allerdings, überall die niedrigsten Standards zu haben, mit denen alle schlechter dran sind. Alle, außer jene Großunternehmen und Finanzanleger, bei denen die eingesparten Gelder dann hängen bleiben.
So haben wir also einen zweiten Grund für die mangelnde Umsetzung der EU-Richtlinien: Den Standortwettbewerb, den die EU selbst am stärksten fördert. Praktisches Beispiel ist die vorgeschlagene „Richtlinie zu Dienstleistungen im Binnenmarkt“: So dürfte damit ein irisches Bauunternehmen in Wien ein Hochhaus bauen, und niemand weiß, mit welchen Baustandards oder welchen Feuerschutzbestimmungen. Die Arbeiter müssten zwar österreichische Löhne bekommen, aber kontrolliert würden sie von der irischen Sozialversicherungsbehörde. Wenn die Firma betrügerisch pleite macht (was in der Bauwirtschaft in bis zu 40% der Fälle „passiert“), dann ist völlig unklar, wen die Krankenkasse für die nie bezahlten Sozialversicherungsbeiträge vor welchem Gericht mit welchem Recht klagen kann. Die EU-Kommission beschreibt in ihrem Vorwort zur Richtlinie ihr Ziel klar: Es gilt, „einen Wettbewerb der Systeme“ zu schaffen. Wettbewerb nach unten, wohlgemerkt.
Ein etwas älteres Beispiel gibt es auch, und zwar die Entscheidung des EuGH zu Gunsten der Stadt Helsinki, die für ihren öffentlichen Verkehr aus Umweltgründen den Betrieb von Flüssiggasbussen in ihrer Ausschreibung verlangte. Ein Privater mit Dieselbussen klagte, weil er billiger war, aber nicht genommen wurde. Der EuGH stellte fest, dass eine Behörde nicht nur ihr eigenes finanzielles Wohl bedenken dürfe, sondern auch das der durch sie vertretenen Bürger. Danke schön, aber wo sind wir, dass so etwas überhaupt ein Streitfall ist? Wir sind auf einem neoliberalen Liberalisierungszug, und in dem ist fast jedes Menschenrecht ein Streitfall.

Spagat zwischen Liberalisierung und Wählerwillen
Die EU ist leider vor Jahren auf den Liberalisierungszug aufgesprungen. Die EU-Kommission sitzt dabei in der Steuerungskabine. Rätselhafterweise schwenkt auch das Europäische Parlament ohne einen diesbezüglichen Wählerauftrag immer öfter auf einen strikten Marktkurs ein. Der Ministerrat eiert zwischen zwei widersprüchlichen Polen hin und her: Einerseits steht das nationalstaatliche Begehren im Vordergrund, eigenen Industrien den europäischen Markt zu erschließen (Frankreich und Deutschland sind hier die Vorreiter), andererseits der Versuch, die Folgen der selbst betriebenen Liberalisierung zu Hause soweit abzufangen, dass die nächste Wahl nicht verloren geht. Eigentlich traurig, dass ausgerechnet ein so macchiavellistisches Gremium wie der EU-Ministerrat die größte Liberalisierungsbremse Europas ist.

Städte müssen stärker vor Ort präsent sein
Eine Bremse täte nämlich not: Neoliberale Politik ist in der Europäischen Union nicht mehrheitsfähig. Sie kommt deswegen zu Stande, weil die Konzerne und konservativen „Think Tanks“ ihre Interessen vor Ort mit Nachdruck verfolgen und durchsetzen. Sie verfügen über die Ressourcen, tausende Lobbyisten durch Brüssel und Europas Hauptstädte zu schicken und bei allen Europapolitikern kräftig ihre Werbetrommel zu rühren.
Gerade die Städte und Gemeinden müssen deshalb ihre Aktivitäten in diesem Bereich ausweiten, um ihre grundsoliden kommunalen Einrichtungen in Brüssel und Straßburg langfristig absichern zu können.

Was wollen Europas Bürger?
Wenn EU-Rechtsakte nicht wirklich umgesetzt werden, dann hat das erheblich mit dem Inhalt der Rechtsakte zu tun: Europas marktschreierische Gesetzgebung ist von den Betroffenen in Europa in vielen Fällen leider weit entfernt.
Und genau diese europäische Gesetzgebung schafft „Sachzwänge“, mit denen die von der EU selbst auf den Weg gebrachten Reparaturmaßnahmen im sozialen Bereich nicht umgesetzt werden. Es ist nicht das Problem, dass die Politik den Menschen nicht ausreichend „erklärt“ wird, wie wir es oft zu hören bekommen. Die europäische Politik ist ziemlich gut erklärt. Europas Bürger wollen einfach etwas anderes.
Die geplante Richtlinie zu „Dienstleistungen im Binnenmarkt“ wird der nächste Prüfstein für Brüssel sein. Wird dieses Unding wirklich Gesetz?
Hier hilft uns nur eines: Bessere, sachlich fundierte europäische Gesetze statt undifferenziertem Wettbewerbsdenken.

Fußnote:
1 Dieser Artikel entstand aus einer konstruktiven Kontroverse im „Kommentar der Anderen“ in der Tageszeitung „Der Standard“.

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