Garantien der kommunalen Selbstverwaltung in der neuen EU-Verfassung

Garantien der kommunalen Selbstverwaltung in der neuen EU-Verfassung

Die neue EU-Verfassung enthält erstmals einen ausdrücklichen Bezug zur kommunalen Selbstverwaltung. Die Union ist danach verpflichtet, die kommunale Selbstverwaltung zu achten, was allerdings nicht vor inhaltlich reglementierenden europäischen Eingriffen in den Bereich der Kommunen schützt. Österreich muss es gelingen, einen optimalen Ausgleich zwischen den Erfordernissen der Europäisierung heimischen Rechts und dem auch in der Praxis gelebten Respekt vor den Rahmenbedingungen der kommunalen Selbstverwaltung zu finden.

 

Das geltende europäische (Verfassungs-)Recht enthält nur einige – durchwegs positive oder zumindest positiv gemeinte – Bezugnahmen auf die kommunale Ebene. In der noch nicht ratifizierten EU-Verfassung2 wird die kommunale Selbstverwaltung ein erstes Mal ausdrücklich angesprochen, und das an hervorragender Stelle, nämlich bereits in Art. I-5 Abs. 1: „Die Union achtet (…) die nationale Identität der Mitgliedstaaten, die in deren grundlegender politischer und verfassungsrechtlicher Struktur einschließlich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.“ Im Klartext bedeutet dies – im Wesentlichen auch bereits auf der Grundlage der derzeitigen Fassung der Römischen Verträge3 gewährleistet – eine institutionelle Garantie in Form eines (Nicht)Eingriffsvorbehaltes. Das heißt, die Union respektiert eine durch die jeweiligen nationalen Rechtsordnungen konstituierte Gemeindestruktur, im Fall Österreichs die kommunale Selbstverwaltung nach Maßgabe der Art. 115 ff. B-VG. Diese Achtung wird unterstrichen und unterstützt durch Vorschriften über das kommunale Wahlrecht4 und über den Ausschuss der Regionen (AdR)5.

Januskopfcharakter des europäischen Rechts
Schon an diesen ersten inhaltlichen Bezugnahmen auf kommunale Fragen wird allerdings der Januskopfcharakter europäischen Rechts manifest. Europa „respektiert“, „achtet“, „schützt“ nicht nur, sondern greift damit gleichzeitig reglementierend ein: EU-Bürgern ist kommunales Wahlrecht zu geben, eine Beschränkung nur auf Staatsbürger wäre damit gemeinschaftsrechtswidrig. Und für die Vertretung kommunaler Anliegen sind nur einige wenige Funktionsträger ausdrücklich durch EU-Recht legitimiert; ein Bürgermeister, der nicht im AdR Mitglied ist,6 kann sich selbstverständlich auch für Anliegen seiner Gemeinde in Europa stark machen, er ist aber eben kein (automatisches) AdR-Mitglied.
Die „Nichteingriffsgarantie“ des Art.
I-5 Abs. 1 der EU-Verfassung wirkt sich im Übrigen ähnlich janusköpfig auch auf sämtliche materielle Zuständigkeitsbereiche der Gemeinde aus. Wenn die EU sich verpflichtet, nicht in die staatliche Kompetenzverteilung einzugreifen, und damit auch nicht in die Gemeindeautonomie, dann heißt das lediglich, dass sich die EU im Rahmen der Wahrnehmung ihrer Zuständigkeiten keine Sorgen um die Einhaltung der Selbstverwaltungsgrenzen des Art. 118 B-VG zu machen braucht, und das erwiesenermaßen auch nicht tut!
Die Achtung der kommunalen Selbstverwaltung durch Art. I-5 Abs. 1 der EU-Verfassung schützt unter diesen Vorzeichen nicht vor inhaltlich reglementierenden Eingriffen in den Bereich der kommunalen Selbstverwaltung. Immer dort und überall dort, wo in der Zuständigkeitsverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten Europa das Recht hat, Recht zu setzen, sind gesetzgeberischen Initiativen der Union keine Schranken gesetzt. EU-Recht geht auch in allen Fällen nationalem Recht7 – selbst nationalem Verfassungsrecht8 – vor. In diesem Sinn waren und bleiben die Binnenmarkt-, die Umweltschutz- und zahlreiche sonstige materielle Zuständigkeiten der Union offene und auch immer wieder genutzte Eingriffspforten in die kommunale Selbstverwaltung. Was in Gender-Mainstreaming-Programmen9, in Vergaberichtlinien10, in der Abwasser-Richtlinie11 oder in der Natura-2000-Richtlinie12 auf kommunaler Ebene zu vollziehen ist, wird durch europäisches Recht vorgegeben, Selbstverwaltungsgarantien hin oder her.
Eine besonders spürbare Einfallspforte für europäisches Recht in den Bereich der Selbstverwaltungsgarantie findet sich in Art. II-96 der EU-Verfassung. Wenn die Union den „Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ achtet und anerkennt, dann schützt die formelhafte Wendung „wie er durch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten (…) geregelt ist“ eben auch nur bedingt, nämlich lediglich insoweit das Angebot und der Zugang zu derartigen Leistungen der Daseinsvorsorge „im Einklang mit der [europäischen] Verfassung geregelt ist“.

Verfassungsrechtliche Garantien unter EU-Vorbehalt
Im Klartext heißt das, dass etwa in allen Bereichen traditioneller kommunaler Leistungsangebote – von der Abfallentsorgung bis zur Wasserversorgung – die bundesverfassungsrechtlichen Garantien des Art. 116 B-VG unter einem EU-Vorbehalt stehen. Vorab sei diesbezüglich aber ausdrücklich vor einem gleichsam Pawlow’schen Reflex gewarnt: Wenn, wie das häufig der Fall ist, europäisches Recht für diverse als kommunale Dienstleistungen angebotene Geschäftsbereiche deren Liberalisierung anordnet, dann heißt das nicht automatisch Privatisierung!
Ähnlich janusköpfig wie die EU-Verfassungsgarantien für die kommunale Selbstverwaltung stellt sich die Frage europäischer Fördergelder dar. Ob, wann und wofür europäische Euros gegeben werden, bestimmt die Union im Rahmen ihrer Zuständigkeiten bzw. Möglichkeiten.13 Immer sind diese Fördergelder mit „strings attached“ zu sehen, das heißt der Grundsatz „wer zahlt, schafft an“ hat auch im Verhältnis zu europäischen Instanzen seine Bedeutung. Dieser Grundsatz wird modifiziert, wenn – wie im Falle der Regionalfördergelder – die Union sich auf Programmgenehmigungen zurücknimmt, und er kommt in vollem Umfang im Wesentlichen nur bei so genannten Gemeinschaftsprojekten zum Tragen; in der Sache wirken Gemeinschaftsförderungen aber gleich wie die im Staatsrecht sattsam bekannten „goldenen Zügel“. Noch ein wenig problematischer für die Gemeindeautonomie sind die Vorgaben aus den Maastricht-Kriterien14, in die prinzipiell auch kommunale Budgets mit eingerechnet werden.
Der eigentlich durchaus positive Eindruck, der sich auf der Grundlage einer Analyse des geltenden Rechts ergibt, ist durch einige Informationen über die tatsächliche Praxis zu ergänzen und abzurunden. Dabei fallen einige Schatten auf das eher „sonnige“ Bild. Sie betreffen zum einen die Inanspruchnahme der europäischen Rechtsetzung durch den europäischen Gesetzgeber und dort im Besonderen den Rechtsetzungstyp Richtlinie. EG-Richtlinien begnügen sich vielfach nicht wirklich damit, Grundsätze und Ziele vorzugeben, sondern gehen häufig bis ins letzte Detail.15 Für eine Nutzanwendung des Subsidiaritätsprinzips16 und für eine den lokalen und regionalen Gegebenheiten entsprechende Durchführungsgesetzgebung bleibt unter diesen Umständen oft allzu wenig Spielraum.

Vorauseilender Gehorsam nicht zielführend
Noch problematischer als die Rechtsetzungspraxis der EU-Organe im Zusammenhang mit Richtlinien erweist sich häufig auch der nationale Gesetzgeber dann und dort, wo Richtlinienvorgaben durch Landes- oder Bundesrecht umgesetzt werden.17
Hier wird nicht selten bereits in vorauseilendem Gehorsam oder mit dem Bemühen, Musterschüler oder Klassenbester zu sein, sehr viel mehr in das europäische Recht hineininterpretiert, als von diesem tatsächlich beabsichtigt war. In Verbindung mit dem bekannt strengen Legalitätsprinzip18 und einer jahrzehntelangen Praxis seriöser Anwendung des Verständnisses der Rechtsstaatlichkeit überlässt dies den Gemeinden oft nur mehr wenig Platz zum Atmen.
Im gegebenen Zusammenhang ist überhaupt zu betonen, dass wir europäische Rechtstexte nicht so lesen und (miss)verstehen dürfen, als wären sie österreichische Gesetze.19 Es handelt sich hier vielmehr um ein anderes, eigenständiges, eben europäisches Recht, das sich von seinen Vorgaben her durchaus der Tatsache bewusst ist, dass es in bisher 15 und nunmehr 25 sehr unterschiedlich gewachsenen Rechtsordnungen lediglich ein gewisses Maß an Einheitlichkeit erreichen will, nicht aber das Ob und das Wie staatlichen Verwaltungshandelns genau vorherbestimmen will.20
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die europäischen Vorzeichen für die kommunale Selbstverwaltung nicht schlecht stehen. Es muss uns nur gelingen, mit einer zu Hause in Österreich zu leistenden, vernünftigen Interpretation des europäischen Rechts eine optimale Balance zwischen den Erfordernissen der Europäisierung unseres Rechts und dem auch in der Praxis gelebten Respekt vor den Rahmenbedingungen der kommunalen Selbstverwaltung zu finden.
Jeder der nach der Erweiterung 450 Millionen Unionsbürger lebt und arbeitet in einer Gemeinde. Diese bleiben daher auch weiterhin Maß der Dinge und Mittelpunkt der Lebensbeziehungen.

Fußnoten:
1 Unter Mitarbeit von Parlamentsassistentin Nina Lintner und Wiss. Mit. Mag. Albert Posch.

2 Vgl die endgültige Fassung des Vertrags über eine Verfassung für Europa, CIG 87/1/04 REV 1 v 13. 10. 2004, ue.eu.int/igcpdf/de/04/ cg00/cg00087-re01.de04.pdf (19. 10. 2004).

3 Vgl zur konsolidierten Fassung des Vertrags über die Europäische Union ABl C 325 v 24. 12. 2002, S. 5 ff.; zur konsolidierten Fassung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft ABl C 325 v 24. 12. 2002, S. 33 ff.

4 Vgl. für das geltende primäre Gemeinschaftsrecht Art. 19 Abs. 1 EGV, für den Vertrag über eine Verfassung für Europa Art. I-10 Abs. 2 lit b Verfassungsvertrag.

5 Vgl. für das geltende Primärrecht Art. 7 Abs. 2 EGV, für den Vertrag über eine Verfassung für Europa Art. I-32 Abs. 1 f. Verfassungsvertrag.

6 Zur Ernennung der österreichischen Mitglieder des Ausschusses der Regionen vgl. Art. 23c Abs. 4 B-VG.

7 Grundlegend EuGH Rs 6/64 (Costa ENEL), Slg 1964, 1251, Rz 12.

8 EuGH Rs 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg 1970, 1125, Rz 3.

9 Entschließung des Europäischen Parlaments zu Gender Mainstreaming im Europäischen Parlament (2002/2025(INI)), Women’s Rights and Gender Equality; RL 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 zur Änderung der RL 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl L 269 v. 5. 10. 2002, S. 15–20.

10 RL 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste, ABl L 134 v 30. 4. 2004, S. 1–113; RL 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge, ABl L 134 v. 30. 4. 2004, S. 114–240.

11 RL 91/271/EWG des Rates vom 21. Mai 1991 über die Behandlung von kommunalem Abwasser, ABl L 135 v. 30. 5. 1991, S. 40–52.

12 RL 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, ABl L 206 v. 22. 7. 1992, S. 7–50.

13 Im geltenden primären Gemeinschaftsrecht Art. 158 ff. EGV, im Vertrag über eine Verfassung für Europa Art. III-220 ff. Verfassungsvertrag.

14 Vgl. Streinz, Europarecht6 (2003) Rz 880 ff.

15 Vgl. Öhlinger, Verfassungsrecht5 (2003) Rz 144.

16 Im geltenden Primärrecht verankert in Art. 5 Abs. 2 EGV; vgl auch Art. I-11 Abs. 3 des Vertrags über eine Verfassung für Europa.

17 Gem. Art. 249 Abs. 3 EGV (nahezu wortgleich für „Europäische Rahmengesetze“ in Art. I-33 Abs. 1 des Vertrags über eine Verfassung für Europa) sind Richtlinien nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen jedoch die Wahl der Form und der Mittel der Umsetzung den Mitgliedstaaten; zur Möglichkeit der „unmittelbaren Wirkung“ von Richtlinien vgl. etwa Frank, Altes und Neues zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor staatlichem Recht, ZÖR 55 (2000) 1 (21 ff).

18 Vgl. Walter/Mayer, Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts9 (2000) Rz 569 ff.

19 Zum „großzügigeren“ Verständnis des EuGH iZm der hinreichenden Bestimmtheit von Gemeinschaftsrechtsnormen im Vergleich zur Rechtsprechung des VfGH zu Art. 18 B-VG vgl. etwa Öhlinger/Potacs, Gemeinschaftsrecht und staatliches Recht2 (2001) 52.

20 Zum österreichischen Legalitätsprinzip vgl. Öhlinger, Verfassungsrecht5 (2003) Rz 580 ff.

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