Der Europäische Verfassungsvertrag „Die Verfassung, die wir haben (…), heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist.“1 (Thukydides, II, 37)

Der Europäische Verfassungsvertrag „Die Verfassung, die wir haben (…), heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist.“1 (Thukydides, II, 37)

Nach 9 Monaten der Verhandlungen, des Bangens und des Hoffens in krisenhaften Momenten konnte der Europäische Rat am 18. Juni 2004 endlich den Verfassungsvertrag der Europäischen Union vorlegen. Es handelt sich um ein Dokument (CIG 87/1/04 vom 13. Oktober 2004) von 349 Seiten, das nunmehr in seiner endgültig redigierten Fassung vorliegt. Am 29. Oktober wurde die Verfassung in Rom mit viel Pathos im Blitzlichtgewitter der internationalen Presse unterzeichnet – 47 Jahre nachdem in der italienischen Hauptstadt am 25. März 1957 die „Römischen Verträge“ unterschrieben worden sind.

 

In der Präambel verweisen die Vertragsparteien auf das kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas, „aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen, Demokratie, Gleichheit, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben“. Es sind pathetische Wendungen, die den Müttern und Vätern der Verfassung in langen Nächten des Verhandelns in den Sinn gekommen sind.
Es ist ein Europa, das auch den „Schwächsten und Ärmsten“ gerecht werden, den Frieden fördern, die „Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen und der Erde“ übernehmen und „diese große Abenteuer“ fortsetzen will, „das einen Raum eröffnet, in dem sich die Hoffnung der Menschen entfalten kann“.
Hehre Worte, die wohl den handelnden Akteuren als auch den Bürgern Europas Mut machen sollen. Eines steht fest: Der von den Staats- und Regierungschefs am 18. Juni 2004 beschlossene Verfassungsvertrag wird Europa zwar nicht neu erfinden, aber erneut begründen.

Aufbau der Verfassung
Die Verfassung besteht aus einer Präambel und aus vier Teilen.

- Im ersten Teil (Artikel I-1 bis Artikel I-59) wird über die Definition und die Ziele der Union gesprochen.

- Im zweiten Teil (Artikel II-1 bis Artikel II-54) wurde die im Jahre 2000 durch den damaligen Grundrechtskonvent erarbeitete Charta der Grundrechte verankert.

- Im Teil 3 (Artikel III-1 bis Artikel III-342) findet man die allgemein anwendbaren Bestimmungen und

- im Teil 4 (Artikel IV-1 bis Artikel IV-10) finden sich die Schlussbestimmungen.

Im Anhang folgen Protokolle (z. B. zur Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit, über die Stimmgewichtung im Europäischen Rat und im Ministerrat) und Erklärungen.

Kommunales in der Verfassung
Der Verfassungsvertrag sieht eine entscheidende Stärkung der Kommunen in Europa vor. Erstmals wird im EU-Primärrecht die ausdrückliche Achtung des Rechts der kommunalen und der regionalen Selbstverwaltung festgeschrieben. Ebenso wird die Einbeziehung der Kommunen in die Subsidiaritätsprüfung und eine deutliche Stärkung des Subsidiaritätsprinzips mit einer klaren Kompetenzordnung aufgenommen. Der Ausbau der Konsultation zwischen den EU-Institutionen und den Kommunen in Europa wurde verankert, wie auch die Schaffung eines eigenen Klagerechts für den Ausschuss der Regionen (AdR) vor dem Europäischen Gerichtshof bei einer Verletzung der kommunalen und regionalen Rechte. Wichtig für die Kommunen ist auch die Einführung von Folgeabschätzungsverfahren, vor allem im Hinblick auf die finanziellen Folgen der EU-Gesetzgebung bzw. EU-Politik auf die kommunale Ebene.

Kommunale Auswirkungen der Änderungen des Verfassungsentwurfs
In den Ratsverhandlungen vom 18. Juni 2004 wurden die zentralen Bestimmungen des Verfassungsentwurfs aus der Sicht der Städte unberührt gelassen. Trotzdem wurden einige kommunalrelevante Änderungen durchgesetzt.
So wurde eine neue EU-Gesetzgebungskompetenz für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse aufgenommen. Diese zielt auf eine europaweite Regelung der Grundsätze, Bedingungen und Finanzierung der Dienste der Daseinsvorsorge ab. Der entsprechende Artikel III-6 wurde aufgrund intensivstem Lobbying von Seiten der Kommunen aufgenommen und ist zur Wahrung der Rechtssicherheit in diesem Bereich notwendig. Er soll den Kommunen Schutz vor den Kräften eines allzu freien Marktes bieten und bedeutet auch einen Fortschritt gegenüber der derzeitigen Rechtslage in der Europäischen Union.
Das Wettbewerbsrecht erlaubt nämlich europäische Regelungen in diesem Bereich schon seit langem, allerdings kann bisher die Generaldirektion Wettbewerb ohne Kontrolle des Rates oder des Europäischen Parlaments Gesetze erlassen.
Mit dem neuen Verfassungsartikel müsste das Europäische Parlament angehört, wenn nicht sogar im Mitentscheidungsverfahren in den Gesetzgebungsprozess einbezogen werden. Dies würde den Kommunen verstärkte Einflussmöglichkeiten gegenüber dem Europäischen Parlament eröffnen.
Eine weitere Änderung betrifft die Strukturpolitik. Hier wurde im Artikel III-116 die Verfassung dahingehend verändert, dass unter den Gebieten, denen besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist, ausdrücklich ländliche Gebiete und Gebiete, die von einem industriellen Wandel betroffen sind, genannt werden. Aufgewertet wurde das Argument, dass auch städtische Räume von Wandlungsprozessen betroffen sind.
Ebenso hat der Gedanke des öffentlichen Auftrags im Verkehr eine Stärkung erfahren. Im Artikel III-134 Absatz 3 wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass den Fällen Rechnung zu tragen ist, in denen die Anwendung der Gesetze den Lebensstandard, die Beschäftigungslage sowie den Betrieb der Verkehrseinrichtungen ernstlich beeinträchtigen könnten.

Wichtige Daten auf dem Weg zur EU-Verfassung
Der Verfassungsvertrag wird erst wirksam, wenn er in allen Mitgliedstaaten nach den bestehenden innerstaatlichen Verfassungsbestimmungen ratifiziert wurde. Ein Referendum ist nur in Irland zwingend vorgeschrieben.

18. Juni 2003: Fertigstellung des EU-Verfassungsvertrages durch den EU-Verfassungskonvent (nach nur 17 Monaten Arbeit).

20. Juni 2003: erste Vorlage des EU-Verfassungsvertrages am Europäischen Rat in Thessaloniki.

4. Oktober 2004: Eröffnung der Regierungskonferenz über die EU-Verfassung durch die italienische Ratspräsidentschaft in Rom.

12. Dezember 2003: Scheitern der Annahme des EU-Verfassungsvertrages am Europäischen Rat in Brüssel (hauptsächlich aufgrund der Thematik der Stimmgewichtung im Rat).

18. Juni 2004: Annahme des EU-Verfassungsvertrages am Europäischen Rat von Brüssel (mit leichten Änderungen im Text).

29. Oktober 2004: Unterzeichnung des Verfassungsvertrages durch die Staats- und Regierungschefs in Rom (nach Sprachbereinigungen und juristischer Überprüfung).

Februar 2005: Erste Ratifizierungen (voraussichtlich findet das erste Referendum am 20. Februar 2005 in Spanien statt; weitere Referenden sind derzeit in Frankreich, in den drei Benelux-Staaten, in Portugal, in Irland, in Dänemark, in Tschechien, in Polen und in Großbritannien vorgesehen oder in Planung).

Frühjahr 2005: erste sprachbereinigte Fassungen für die Unionsbürger in allen 20 Sprachen der Union erhältlich.

2007–2009: In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrages ein Jahr nach der letzten Ratifizierung (wichtig: Die Reorganisation der Europäischen Kommission findet erst 2015 statt).

„Es lebe die rationale Idee Europa“
Der Verfassungsvertrag ist wichtig, aber er entscheidet nicht über das Schicksal Europas. Es wird nicht die letzte grundsätzliche Änderung sein, denn die Union muss sich auf neue Gegebenheiten einstellen und weiter institutionell lernen können. Es kommt auf die politischen Inhalte und auf die Richtung an. Die europäische Ordnung ist nicht streng hierarchisch, nicht autoritär und nicht scharf abgrenzend. Sie ist eine vernetzte Ordnung. Es soll nicht vergessen werden, dass Europa ohne politisch, wirtschaftlich und sozial leistungsfähige Mitgliedstaaten nicht existieren kann.
Prof. Dr. Udo di Fabio, einer der angesehensten deutschen Verfassungsjuristen, hat in einem Vortrag in Brüssel am 15. Juli 2004 wie folgt Stellung genommen: „Wir sollten die Ratifizierung des Verfassungsvertrages gelassen betrachten und nicht falschen Druck erzeugen. Das Gerede, eine Ablehnung des Verfassungsvertrages führe zur Ausschließung des betreffenden Staates aus der Union, ist Unsinn. Mit Drohgebärden aus falschem Munde könnte dagegen bei selbstbewussten Bürgern Renitenz erzeugt werden, wo heute noch Zustimmung vorherrscht. Keine Union wird auf Frankreich oder England oder Polen verzichten wollen oder können. Europa wächst nicht mit Kraftsprüchen, gedeiht nicht durch Reglementierung, nicht durch das Prinzip, wer nicht mit uns ist, ist gegen uns. Europa beruht auf der rationalen Idee eines in der fortbestehenden Vielfalt geeinten Kontinents.“

Städtebund-Linktipp:
ue.eu.int/igcpdf/de/04/cg00/cg00087-re01.de04.pdf

Fußnote:
1 Dieses Zitat von Thukydides setzte der Europäische Konvent an die Spitze der Präambel des von ihm ausgearbeiteten Verfassungsentwurfs.

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