Vorsicht! Neue EU-Dienstleistungsrichtlinie „Das Herkunftslandprinzip bringt zu viel Rechtsunsicherheit“

Vorsicht! Neue EU-Dienstleistungsrichtlinie „Das Herkunftslandprinzip bringt zu viel Rechtsunsicherheit“

Die deutsche EU-Abgeordnete Evelyne Gebhardt (SPD) ist Berichterstatterin im Europäischen Parlament für die geplante EU-Dienstleistungsrichtlinie. Sie meint: Für Städte und Gemeinden ist höchste Vorsicht geboten, denn das von der EU-Kommission vorgeschlagene Herkunftslandprinzip – es gilt das Recht jenes EU-Landes, in dem der Leistungserbringer niedergelassen ist – führt zu Rechtsunsicherheit, zum Abbau sozialer Rechte und gefährdet die kommunale Daseinsvorsorge. Das Interview für die ÖGZ führte Tansel Terzioglu.

 

Warum brauchen wir diese Richtlinie überhaupt?
EVELYNE GEBHARDT: Diese Richtlinie ist, wenn man das Ziel eines freien Raumes für Dienstleistungen für Menschen vor Augen hat, eine schöne Geschichte. Das brauchen wir also durchaus. Allerdings gibt es sehr unterschiedliche Wege, wie man das machen kann. Die Europäische Kommission hat einen Weg gewählt, den ich für falsch halte. Wenn wir die Dienstleistungen überall offen haben möchten in der EU, dann sollten wir dafür sorgen, dass es auf einer gleichen Basis – das, was man auch einen fairen Wettbewerb nennen kann – geschehen sollte. Das bedeutet, dass man entweder eine Harmonisierung des Rechts in dem Bereich macht oder aber, dass man zumindest ein System der gegenseitigen Anerkennung der Abschlüsse der Leute, die die Dienstleistungen erbringen, einführt.

Und das ist im Kommissionsvorschlag nicht vorgesehen?
GEBHARDT: Nein. Im Kommissionsvorschlag ist eine ganz andere Philosophie vorgesehen, nämlich dass die Dienstleister einfach in die anderen Staaten gehen und ihre Dienste anbieten können und dann allerdings das Recht jenes Staates gilt, in dem sie niedergelassen sind. Das ist das sogenannte Herkunftslandprinzip.
Das heißt, sagen wir mal ein österreichischer Arzt möchte seine Dienste in Deutschland anbieten. Seine Patienten in Deutschland gehen davon aus, dass das wie bei jedem anderen Arzt ist, den sie gewohnt sind, wissen aber nicht, dass vielleicht ein ganz anderes Grundrecht dahinter steht, was Haftpflichtfragen betrifft, was der machen darf bzw. welche Sachen denn zu Hause in Österreich erlaubt sind oder nicht. Der Patient glaubt, dass bei einem Arzt in Deutschland eben das deutsche Recht gilt.

Haben Sie jetzt mit Absicht das Beispiel des Arztes gewählt?
GEBHARDT: Nein, aber die Gesundheit ist in diesem Zusammenhang ja eine der ganz besonderen Sachen. Man kann nicht einfach so umgehen mit all diesen Bereichen, die in die Daseinsvorsorge hineingehören. Soziale Dienste, Gesundheitsdienste usw. sind ja Dienste, wo ein besonderes Vertrauensverhältnis da sein muss zwischen den Patienten bzw. Kunden und den Dienstleistungserbringern. Man kann das nicht alles über einen Kamm scheren und sagen: „Wir kümmern uns nicht um das Recht im jeweiligen Staat, sondern jeder darf sich so anbieten, wie er es von zu Hause gewohnt ist.“ Das ist das erste große Problem, das wir in dieser Richtlinie angehen müssen, nämlich eine saubere Trennung zu machen zwischen den Diensten, die in dieser Dienstleistung festgeschrieben sind und den Dienstleistungen im allgemeinen Interesse, die auf keinen Fall in diese Richtlinie hineingehören.
Ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich. Ich habe bei einer Anhörung zu diesem Thema einen Juristen gefragt: Sagen Sie mir mal, wie das ist, wenn ein deutscher Architekt in Helsinki eine Oper bauen möchte und dazu einen britischen Ingenieur und einen polnischen Bauleiter nimmt. Wenn beim Bau irgendein Problem auftaucht, das in Helsinki vor Gericht gestellt werden muss – welches Recht gilt dann eigentlich, wenn wir das Herkunftslandprinzip hätten? Der Rechtsexperte hat mir gesagt, dann hat der finnische Richter ein Problem. Denn dann gilt nicht nur das finnische Recht, sondern auch das britische, das polnische und das deutsche. Wie soll da noch Rechtssicherheit im ganzen System herrschen?

Wie wollen Sie das vermeiden – indem sie das Herkunftslandprinzip ganz aus der Richtlinie streichen?
GEBHARDT: Wenn wir den Weg gehen, den ich für richtig halte, nämlich ein höheres Maß an Harmonisierung oder gegenseitiger Anerkennung zu erreichen, dann brauchen wir am Ende das Herkunftslandprinzip nicht, denn dann haben wir das „EU-Land-Prinzip“. Dann gelten nämlich ungefähr gleiche Rechte in der EU und die Probleme wären sehr stark entschärft. Ich bin also im Prinzip gegen das Herkunftslandprinzip, weil es einfach zu viel Rechtsunsicherheit – vor allem auch für die Verbraucher – bedeutet.

In anderen Dossiers hat man sich ja auf EU-Ebene auf das Zielortsprinzip geeinigt.
GEBHARDT: Ja. So einen umfassenden Gesetzestext wie bei der Dienstleistungsrichtlinie, bei dem das sonst in der EU geltende Prinzip auf den Kopf gestellt wird, haben wir bisher noch nicht gehabt. Bei der gegenseitigen Anerkennung von Diplomen etwa, die wir ja auch beraten, hat die Europäische Kommission ebenso wie das Europäische Parlament gesagt: Hier gilt das Zielortsprinzip. Warum soll etwas für reglementierte Berufe gelten – wie bei der Diplomanerkennung – und dann ausgerechnet bei den Berufen, die noch nicht reglementiert sind und wo die Sicherheit also am schlechtesten ist, ausgerechnet das Umgekehrte, nämlich das Herkunftslandprinzip gelten? Das ist nicht einzusehen, und ich werde mich dafür verwenden, dass dieses Prinzip in dieser Form auf jeden Fall nicht stattfinden kann.

Kritiker befürchten, dass durch diese Richtlinie die Liberalisierung der Daseinsvorsorge, also der Dienste im allgemeinen Interesse, quasi durch die Hintertüre eingeführt würde.
GEBHARDT: Diese Gefahr sehe ich durchaus. Das ist ein schwieriges Problem. Nach den Verträgen der EU dürfen wir in der EU keine gemeinsame Definition der Dienstleistungen im allgemeinen Interesse machen. Das heißt, jeder Mitgliedstaat definiert selber, welche Dienste im allgemeinen Interesse stehen und welche nicht. Da wird es also einen Fleckenteppich geben zwischen diesen Diensten in den verschiedenen Mitgliedstaaten.
Eine soziale Dienstleistung kann also in Österreich im allgemeinen Interesse sein und z. B. in Polen als einfache Dienstleistung gelten. Dann kann es passieren, dass der Pole nach dem Herkunftslandprinzip das Recht hat, diese Dienstleistung in Österreich anbieten zu können, ohne die österreichische Schutzgesetzgebung befolgen zu müssen.

"Am besten wäre es, wenn die Kommission ihren Vorschlag zurückziehen würde."

Und wie sollte beim Herkunftslandprinzip die Kontrolle durch die nationalen Behörden erfolgen?
GEBHARDT: Das habe ich die Kommission auch schon gefragt, weil ich einfach nicht nachvollziehen kann, wie die Kontrolle denn überhaupt geschehen kann, wenn nach dem Herkunftslandprinzip die Kontrolle im Niederlassungsstaat des Unternehmens stattzufinden hat. Es gibt zwei Gründe, warum das nicht gehen kann.
Erstens: Ich kenne keinen Staat, der ein Interesse hätte, viel Geld hineinzustecken in die Kontrolle dessen, was die eigenen Unternehmen in einem anderen Land machen.
Zweitens: 25 Staaten hätten ganz große Probleme, wenn eine Gewerbeaufsicht aus einem anderen Land plötzlich daherkäme und sagen würde: „Ich kontrolliere jetzt, was auf der Baustelle hier bei ihnen passiert.“ Dieses Prinzip kann absolut nicht wirksam sein. Wir müssen dafür sorgen, dass die Kontrollen weiterhin da stattfinden, wo die Dienstleistung erbracht wird. Alles andere ist sinnlos.

Wie schauen in dieser Frage die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament aus?
GEBHARDT: Das ist zur Zeit sehr schwer abzuschätzen. Wir haben ein ganz neues Parlament mit zehn neuen Staaten. Aber bei den Anhörungen und Diskussionen im Ausschuss habe ich den Eindruck gewonnen, dass es sehr viel mehr Leute gibt, die dem Herkunftslandprinzip kritisch gegenüber stehen, als ich mir erhofft hatte.

Steht und fällt diese Richtlinie mit dem Herkunftslandprinzip?
GEBHARDT: Wenn wir uns mit dem Rat und der Kommission einigen könnten, dass wir kein Herkunftslandprinzip haben, sind auch andere Wege vorstellbar, um Dienstleistungsfreiheit hinzukriegen. Im vorliegenden Entwurf gibt es zwei Artikel, in denen verlangt wird, zwei Listen aufzustellen: Was sind unerlaubte Hindernisse für die freie Bewegung der Dienstleister in der EU? Welches sind Hindernisse, die durchaus sinnvoll sind, weil sie z. B. Qualitätsmaßnahmen sind? Eigentlich wäre es sinnvoll gewesen, diesen Überblick zuerst zu machen und auf Grundlage dieser Erkenntnisse die Dienstleistungsrichtlinie zu schreiben. Wenn es uns gelingt, das umzuformulieren und die Wertigkeit der vorgesehenen Maßnahmen umzuschichten, könnten wir etwas Sinnvolles hinkriegen.
Noch besser wäre es natürlich, wenn wir die EU-Kommission dazu bringen könnten, ihren Vorschlag zurückzuziehen, um ihn zu überarbeiten und etwas Sinnvolles vorzuschlagen. Ich glaube aber nicht, dass sie das tun wird. Deshalb werde ich mich an eine tiefgreifende Änderung der Richtlinie heranmachen.

Die Lissabon-Strategie, die durch diese Richtlinie wiederbelebt werden soll, hat neben mehr Wettbewerb ja auch andere Ziele wie eine soziale Marktwirtschaft. Steht die Richtlinie nicht im Widerspruch dazu?
GEBHARDT: So ist es. Solange das Herkunftslandprinzip besteht, ist diese Richtlinie problematisch. Es steht darin zwar nirgends, dass soziale Rechte abgebaut werden müssen. Aber wenn wir dann viele schwarze Schafe kriegen, die sich in dem Land niederlassen, wo die geringsten sozialen Rechte oder Umweltnormen gelten, dann ist die Gefahr groß, dass dieser unfaire Wettbewerb ein Herabziehen dieser Rechte in den anderen Staaten bewirkt.

In die Richtlinie sollen möglicherweise viele Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip hineingeschrieben werden. Ist das eine gute Lösung?
GEBHARDT: Ich lehne solch eine Richtlinie ab. Wenn wir Herkunftslandprinzip sagen und dann fünf Seiten Ausnahmen haben, dann haben wir ein total durchlöchertes Gesetz – eine Art Schweizer Käse. Das ist zwar ein sehr guter Käse, aber nicht das richtige Motto für ein Gesetz. Es würde Rechtsunsicherheit und vor allem Unübersichtlichkeit des Rechts bedeuten. Man müsste sich ständig fragen: „Wo gilt was?“

Welchen Einfluss hätte diese Richtlinie auf die öffentliche Verwaltung?
GEBHARDT: Das hätte unter Umständen sehr weitreichende Auswirkungen. Denn nach der Definition, die darin enthalten ist, gilt diese Dienstleistungs-Richtlinie ja für alle Dienste, die gegen Entgelt gemacht werden. Das heißt, es wird praktisch definiert, dass Dienstleistungen im allgemeinen Interesse solche sind, die nicht entgeltlich gemacht werden. Allerdings sind viele Dienste, die in den Kommunen erbracht werden – öffentlicher Nahverkehr, Krankenhäuser, Abfallwirtschaft, Wasserversorgung usw. –, natürlich und auch richtigerweise gegen Gebühr. Das heißt, dass diese Bereiche, die eigentlich zur Daseinsvorsorge gehören, plötzlich dem freien Markt zugeführt und als Dienstleistungen gewertet würden. Wenn man nicht aufpasst, wie das tatsächlich gestaltet wird, könnte das dazu führen, dass solche Bereiche plötzlich vergabepflichtig würden und die Gemeinden dann das billigste Angebot nehmen müssten – möglicherweise auch von einem Privaten.
Denken wir etwas weiter und nehmen einmal an, dass in einer Gemeinde die Wasserversorgung einem privaten Anbieter übertragen wird. Dieser übernimmt sich aber und zieht sich nach einer Weile wieder zurück, weil es ihm nicht so viel bringt, wie er sich ausgerechnet hatte. Dann ist aber inzwischen in der Gemeinde das ganze Fachwissen, das man durch die eigenen Fachleute in der Behörde hatte, plötzlich weg. Und dann steht diese Gemeinde auf einmal vor dem Nichts für den Fall, dass es keinen Anbieter mehr gibt, der diese schwierige Arbeit übernimmt. Da ist also noch sehr viel Nachdenken angesagt in dieser Dienstleistungsrichtlinie, an die wir sehr sorgfältig herangehen müssen.

"In vielen Ländern haben die Gemeinden noch nicht kapiert, was auf sie zukommt."

Haben Sie das Gefühl, dass die Gemeinden sich der Tragweite und Bedeutung dieser Direktive schon bewusst sind?
GEBHARDT: In Deutschland und offensichtlich auch in Finnland hat die Diskussion in den Gemeinden und kommunalen Verbänden angefangen. Wie es in Österreich aussieht, kann ich nicht sagen. Aber in vielen Ländern haben die Gemeinden noch gar nicht richtig kapiert, was da auf sie zukommen könnte, wenn wir das so belassen wie jetzt.

Für die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse ist ja eine eigene Richtlinie vorgesehen?
GEBHARDT: Ja, es gibt darüber ein Weißbuch der Kommission. Da steht interessanterweise, dass eine Rahmenrichtlinie in diesem Bereich nicht machbar sei, weil eben die betreffenden Dienstleistungen so unterschiedlich seien, dass man sie nicht unter einen Hut bringen könne. Ich fand die Argumentation interessant und habe mich gefragt, warum dieses Argument nicht auch für die anderen Dienstleistungen gilt. Denn Ärzte, Wasserwirtschaft, Kasinos oder Architekten und die damit verbundenen Bedürfnisse kann man ja wohl auch nicht über einen Kamm scheren.

dtebund-Linktipp:
www.gebhardt-mdep.de

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