„Wir müssen das europäische Modell wieder fit machen“

„Wir müssen das europäische Modell wieder fit machen“

Europaminister Nicolas Schmit über die Schwerpunkte der luxemburgischen EU-Präsidentschaft: Stabilitätspakt, Lissabon-Strategie, Finanzielle Vorausschau

 

Ein EU-Vorsitzland hat natürlich immer viele Schwerpunkte zu bearbeiten. Was ist die oberste Priorität für Luxemburgs Präsidentschaft?
NICOLAS SCHMIT: Die Präsidentschaft erfindet ja die Prioritäten nicht, sondern sie werden ihr in einem gewissen Sinne auferlegt. Die erste Priorität ist die Lissabon-Strategie. Gelingt es uns, ihr einen neuen Inhalt zu geben und sie auch in der öffentlichen Meinung überhaupt erst einmal zu verankern? Denn das ist ja etwas, über das eigentlich kein Mensch Bescheid weiß. Aus Anlass der Mid-Term-Review beim europäischen Rat im März gibt es auch einen realen Druck, im Wirtschaftsbereich und im Bereich der Wettbewerbsfähigkeit über das europäische Modell nachzudenken, um es durch eine Reformpolitik zu erhalten.
Die zweite Priorität ist der Stabilitätspakt als wesentlicher Punkt in der aktuellen europäischen Debatte. Wir müssen ihn reformieren und an das wirtschaftliche Umfeld anpassen, um ihn zu erhalten. Wir wissen ja, dass seine Glaubwürdigkeit durch die Ereignisse des vergangenen Jahres angeschlagen ist. Durch eine konsequente Anpassung müssen wir dem Stabilitätspakt eine neue Glaubwürdigkeit geben. Dies ist sehr wichtig, weil hier auch die globale Wirtschaftspolitik in Europa direkt angesprochen wird.
Dritter Punkt ist die Finanzielle Vorausschau. Das mit Österreich gemeinsam aufgestellte Dreijahresprogramm 2004 bis 2006 sieht im Prinzip einen globalen politischen Kompromiss für Juni 2005 vor. Was in Berlin beschlossen wurde, läuft 2006 ab, und wir brauchen ab 2007 eine neue Finanzielle Vorausschau. Um dies in die Wege zu leiten – mit all den legislativen Texten, die dafür gebraucht werden –, müssen wir im Juni einen politischen Kompromiss finden.
Das sind also die drei großen Blöcke, die aber auch miteinander verbunden sind. Denn Strukturpolitik ist ja auch mit der globalen Wirtschaftspolitik, die im Stabilitätspakt zum Tragen kommt,

"Wir müssen dem Stabilitätspakt eine neue Glaubwürdigkeit geben."

in einem Bezug. Und die Finanzielle Vorausschau stellt eine Reihe von großen wirtschaftspolitischen und sozialen Prioritäten, besonders auch was die Verwirklichung von Lissabon anbelangt. Das ist die globale Priorität der luxemburgischen Präsidentschaft.

Es gab ja bei der Vorstellung des luxemburgischen Programms schon eine deutliche Meinungsverschiedenheit zwischen Kommissionspräsident Barroso und Ratspräsident Juncker bezüglich der Agenda für die Finanzplanung. Warum glaubt Luxemburg, hier so rasch – noch während des luxemburgischen Vorsitzes – zu einer Einigung kommen zu können?
SCHMIT: Wir glauben überhaupt nicht, so rasch zu einer Einigung zu kommen. Wir sind der Meinung, dass hier ein politischer Wille zur Einigung notwendig ist und man den Eindruck nicht einfach hinnehmen soll, dass es nicht zu einer Einigung kommen kann. Hier gibt es also keine wirkliche Meinungsverschiedenheit.
Für die wirtschaftliche Glaubwürdigkeit der Union müsste es aber zu einer Einigung kommen. Wenn nicht, dann wird der globale Fahrplan der EU – insbesondere auch, was eine Reihe von wichtigen wirtschaftspolitischen Entscheidungen und Rahmenentscheidungen anbelangt – verzögert. Europa braucht jetzt aber eine gute Orientierung und muss rasche Entscheidungen treffen.

Ist das Ihre Strategie, sich ehrgeizige Ziele zu setzen, um möglichst viel zu erreichen?
SCHMIT: Dieses Ziel wurde nicht von uns alleine, sondern von mehreren europäischen Räten gesetzt. Seit Sevilla gibt es ja eine Programmierung der Präsidentschaften, die also ihr Programm nicht mehr selbst erfinden können. In diesem Programm steht auch ein politischer Kompromiss über die Finanzielle Vorausschau im Juni 2005. Wir wollen dies respektieren und glauben nicht, dass man mit einer schon fast defätistischen Haltung an dieses Problem herangehen soll. Wenn eine Lösung an fehlendem politischen Willen scheitert, dann hat die Präsidentschaft ihre Pflicht getan. Sie kann natürlich alleine keinen politischen Kompromiss hervorbringen, dazu braucht sie die anderen 24 Mitgliedsstaaten.

Österreich zählt zu den sechs Nettozahlerländern, die den berühmten Brief an die Kommission unterschrieben haben, wonach das EU-Budget bei 1% des BIP eingefroren werden soll. Luxemburg hat nicht unterzeichnet und ist gegen eine solche Deckelung. Wie will man die unterschiedlichen Positionen zusammenbringen?
SCHMIT: Bei jeder großen Entscheidung, insbesondere wenn es ums Geld geht, gibt es immer größere Meinungsverschiedenheiten. Auch vor Berlin gab es schon ähnliche Positionen. Es gibt tatsächlich diesen Brief, aber es gibt, wie sie angemerkt haben, auch Nettozahler, die diesen Brief nicht unterzeichnet haben.
Man sollte die Debatte nicht von vornherein in ein solches Korsett einschnüren, sondern sie offen führen. Wir sind uns natürlich bewusst, dass es ganz klare Grenzen gibt, was die Nettozahlungen verschiedener Mitgliedsstaaten anbelangt. Hier stelle ich fest, dass es zumindest intellektuelle Verbindungen zum Stabilitätspakt gibt. Man kann aber nicht alles automatisch auf 1% einfrieren. Man kann nach Kompromissen suchen, und da muss und wird es wohl eine Marge geben.

Wie lange muss Europa noch mit dem Britenrabatt leben?
SCHMIT: Gute Frage. Ich hoffe, nicht mehr sehr lange. Aber auch hier muss man Realist sein. Wir werden noch während einiger Zeit einen Britenrabatt haben, aber wir müssen auch zumindest einen Einstieg in eine Reduzierung dieses Rabatts haben. Das ist ein wesentlicher Bestandteil einer Kompromisslösung. Es darf in dieser Verhandlung keine Tabus geben und sicherlich kein Tabu über den Britenrabatt.

In welche Richtung will Luxemburg bei der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts gehen? Hat sich die Kommission in dieser Streitfrage bisher richtig verhalten?
SCHMIT: Die Kommission hat die Diskussion

"Europa braucht eine aktive Sozialpolitik, aber auch Reformen und eine stärkere Wachstumspolitik."

positiv mitgestaltet und sicher auch etwas entkrampft. Wir wollen die bisherigen Stabilitätsziele nicht in Frage stellen, sie sollen ihren Wert behalten. Was wir wollen, ist eine andere Herangehensweise. Insbesondere muss das globale wirtschaftliche Umfeld besser in Betracht gezogen werden. Zweitens muss es auch eine nuancierte Haltung zum Defizit als solches geben, d. h. Defizit ist nicht unbedingt gleich Defizit. Man muss sich also näher ansehen, was ein Land sich vorgenommen hat, warum es ein Defizit gab und insbesondere was die zusätzlichen Ausgaben sind, die zu diesem Defizit geführt haben.
Zumindest während einer begrenzten Periode kann es sein, dass in Bezug auf Strukturreformen bestimmte Ausgaben gemacht werden müssen, sei das für Investitionen oder für Forschung, Entwicklung, etc. Also nicht nur das Niveau, sondern auch die Qualität der öffentlichen Ausgaben strikter unter die Lupe nehmen.

Aus dem „Stupiditätspakt“ soll also ein intelligenter Pakt werden?
SCHMIT: Ich würde es nicht Stupiditätspakt nennen, aber man muss aus der Erfahrung lernen. Der Pakt wurde ja unter sehr spezifischen politischen Bedingungen festgelegt.
Damals galt es hauptsächlich, den Deutschen die europäische Währung schmackhaft zu machen und deshalb die Defizitgrenzen sehr eng zu ziehen. Aber wir haben daraus gelernt. Eine gute Wirtschaftspolitik braucht einen Stabilitätspakt, aber einen, der die wirtschaftliche Konjunktur nicht einfach ignoriert, sondern sich daran anlehnen muss.

Sowohl in der Diskussion um den Stabilitätspakt als auch bei der Lissabon-Strategie wird ein Gegensatz zwischen Wachstum und Sozialpolitik aufgebaut. Sind das Gegenpole, von denen nur einer gewinnen kann?
SCHMIT: Nein, das ist nicht unsere Auffassung. Wir können unsere Sozialsysteme nicht ohne Wachstum und ohne eine dynamische Wirtschaft finanzieren. Wachstum kann aber nicht auf Kosten der Sozialpolitik gehen. Wir müssen versuchen, beides weitestmöglich miteinander anzugehen. Das heißt nicht, dass wir nicht auch Reformen unserer Sozialmodelle brauchen. Es gibt ja auch Zwänge wie das demographische Problem in Europa. Wir brauchen also aktive Sozialpolitik, aber auch Reformen und eine stärkere Wachstumspolitik.

Die neue EU-Kommission scheint in erster Linie für Wettbewerbsfähigkeit zu stehen. Wird die luxemburgische Präsidentschaft ein Gegengewicht dazu darstellen?
SCHMIT: Ich kann hier keine so großen Meinungsverschiedenheiten ausmachen. Ratspräsident Juncker hat ja klar gemacht, dass Wettbewerbsfähigkeit für uns ein sehr wichtiges Ziel ist im Bereich der Revitalisierung der Lissabon-Strategie. Aber Wachstumspolitik und Wettbewerbsfähigkeit sind keine Ziele an sich. Wettbewerbsfähigkeit ist ein Mittel, um unsere Gesellschaft so zu gestalten, wie die europäischen Bürger das möchten. Das heißt auch eine soziale Absicherung und eine Orientierung im Bereich des ökologischen Ausgleichs.

Die Befürchtung, dass sich die EU mit diesem Stabilitätspakt und der Lissabon-Agenda immer rascher zu einer zweiten USA entwickelt, ist also ungerechtfertigt?
SCHMIT: Unser Ziel ist es nicht, das US-Modell zu kopieren. Wir leben natürlich nicht auf einem anderen Planeten, sondern in der gleichen Weltwirtschaft,

"Wettbewerbsfähigkeit ist ein Mittel, um unsere Gesellschaft so zu gestalten, wie die Bürger das möchten - inklusive sozialer Absicherung und einer Orientierung im Bereich des ökologischen Ausgleichs."

sodass wir also die Zwänge nicht einfach wegschieben können. Wir wollen aber kein anderes Modell kopieren. Es gilt das europäische Modell, das ja auch seine Anziehungskraft und seine Stärken hat. Pessimismus ist also nicht angebracht. Es gilt, dieses Modell wieder fit zu machen, indem wir unsere Wirtschaft stärken und mehr in unsere potenziellen Stärken investieren. Hier hat Europa etwas nachgelassen und in den vergangenen Jahren zu wenig in die Erneuerung unserer Wirtschaft investiert, auch was Kreativität, Innovation und Forschung betrifft.

Städtebund-Linktipp:
www.eu2005.lu

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