PISA, der „Reformdialog Bildung“ und die österreichischen Städte

PISA, der „Reformdialog Bildung“ und die österreichischen Städte

Die Ergebnisse von PISA 2003 – Internationaler Vergleich von Schülerleistungen – haben beträchtliche Aktivitäten hinsichtlich der Inangriffnahme umfassender Reformmaßnahmen im Schulwesen ausgelöst. Neue und neu entdeckte alte Ideen wurden bei einer am 14. Februar 2005 in der Wiener Hofburg abgehaltenen Veranstaltung auf hohem Niveau präsentiert, diskutiert und teilweise auch konsentiert. Allen diesen Vorhaben ist eines gemeinsam: die Frage, wer die Reformen letztendlich bezahlen soll, bleibt weithin ausgeklammert. Dass dies aus Sicht der Städte und Gemeinden, die schon jetzt als Schulerhalter einen guten Teil der Bildungsaufgaben finanzieren, kein befriedigendes Ergebnis sein kann, liegt auf der Hand.

 

Der PISA-Schock
Die Veröffentlichung der Ergebnisse von PISA 2003 lösten in der österreichischen Bildungslandschaft geradezu einen Schock aus: die Einstufung der Kompetenzen unserer Schüler in den Bereichen Mathematik, Lesekompetenz, Naturwissenschaften und Problemlösen war im OECD-Vergleich gerade „durchschnittlich“ und rüttelte an den Grundfesten des nationalen Selbstverständnisses. Auch wenn man in Betracht zieht, dass PISA nur einen Teilaspekt aus der pädagogischen Scorecard, nämlich die kognitive Fähigkeit zur Lösung von Problemen, untersucht, war zumindest eine Aussage geeignet, die Alarmglocken schrillen zu lassen: Ca. 20% unserer 15- bis 16-Jährigen sind gefährdet, auf Grund ihrer mangelhaften Mathematik- und Lesekompetenz am künftigen beruflichen und privaten Leben voll teilnehmen zu können. Im „PISA-Siegerland“ Finnland gehören lediglich 6% der gleichen Altersgruppe zu dieser Risikogruppe. Das bedeutet in absoluten Zahlen, dass rund 18.000 Österreicher nach zumindest neun Jahren Pflichtschulzeit nicht ausreichend rechnen und sinnerfassend lesen gelernt haben. Der größte Teil dieser Jugendlichen absolviert das neunte Schuljahr an den Polytechnischen Schulen, an welchen 40% (Mathematik) bzw. 54% (Lesen) der Schüler der Risikogruppe zugehören.
Soweit der Befund, der nur die Defizite bestätigt, die in den letzten Jahren vor allem in den größeren Kommunen verstärkt zu konstatieren waren: Die Hauptschulen und Polytechnischen Schulen der Städte werden zunehmend zu „Restschulen“, in denen Pädagogik nur mehr unter äußerst schwierigen Umständen möglich ist und deren Output sich immer mehr verschlechtert. Es gibt auch immer weniger Absolventen von Hauptschulen, die danach weiterführende Schulen besuchen. Darüber hinaus sind die kommunalen Ballungsräume verstärkt mit dem Problem der Integration von Migranten in das Schulsystem konfrontiert. Weiters sollen sie dem immer größer werdenden Bedarf an Nachmittagsbetreuungsplätzen Rechnung tragen, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für die oft alleinerziehenden Mütter zu ermöglichen.

Erfolgsfaktoren laut PISA-Studie
Was zeichnet nun die Länder aus, die bei PISA 2003 am besten abgeschnitten haben und in ihrer Gesellschaftsstruktur mit Österreich einigermaßen vergleichbar sind, also z. B. Finnland und Kanada? Man kann, grob gesehen, fünf „PISA-Erfolgsfaktoren“ definieren:

- Individuelle Förderung der SchülerInnen nach ihren Stärken und Schwächen durch Differenzierung des Unterrichts;

- Vermeidung von früher Selektion durch gemeinsamen Schulbesuch mindestens bis einschließlich der sechsten Schulstufe;

- große Eigenverantwortung der Schulen;

- Definierung von Bildungsstandards mit ständiger Evaluierung der Zielerreichung;

- ganztägige Schulen als Regelform.

Die Reformvorhaben
Um diese Punkte bewegt sich auch die gesamte aktuelle Bildungsdiskussion. Auf Basis der bisher vom Bildungsministerium veröffentlichten Vorschläge und des Ergebnisses des „Reformdialoges Bildung“ vom 14. 2. 2005 kristallisieren sich insbesondere drei Themen heraus, die in engem Zusammenhang mit den Aufgaben der Städte und Gemeinden stehen:

1. Der Fragenkomplex „Frühförderung“, vor allem mit dem Ziel der Verbesserung der Sprachkompetenz von Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache;

2. das Thema „Nachmittagsbetreuung“ an Schulen;

3. die Sinnhaftigkeit der Selektion im Bereich der Sekundarstufe (differenzierte Schulorganisation oder gemeinsame Schule für alle über die Grundstufe hinaus).

Eine Gesamtschule bedarf umfassender Neuregelungen aller Kompetenzen hinsichtlich Schulerhalterschaft, Schulorganisation und Schulaufsicht und würde die Aufgabe der Städte und Gemeinden als Schulerhalter stark verändern. Da dieses Thema sich beim Reformdialog als langfristig zu diskutierende Perspektive erwiesen hat und auch selbst mittelfristig mit diesbezüglichen Reformen nicht zu rechnen ist, müssen wir uns zunächst vor allem mit den ersten beiden Punkten näher befassen.

Frühförderung von Kindern vor Eintritt in die Schule
Als grundsätzlicher Konsens zwischen den politischen Parteien zeichnet sich die Einführung eines so genannten „Vorschuljahres“ ab, in welchem vor allem verstärkte Kompetenz in der Beherrschung der deutschen Sprache erreicht werden soll. Nicht geklärt ist jedoch die Frage, ob dieses Jahr verpflichtend für alle Schüler oder nur für jene mit sprachlichen Defiziten sein soll. Auf Grund der bevorstehenden Eliminierung des Erfordernisses einer Zweidrittelmehrheit für Schulgesetze ist zu erwarten, dass der Vorschlag der Bundesregierung, welche das Vorschuljahr als Verpflichtung aus der Integrationsvereinbarung für MigrantInnen und als Angebot für die übrigen SchülerInnen vorsieht, realisiert wird.
Dabei ist bisher die Frage der Finanzierung völlig ausgeklammert worden. Findet das Vorschuljahr in den Kindergärten statt, bliebe die Belastung alleine bei den Gemeinden als Träger dieser Einrichtung. Dies umso mehr, wenn die Eltern von einer Beitragsleistung befreit würden, was aus Sicht der sozialen Gerechtigkeit geboten wäre. Wird hingegen diese Vorschulstufe als Teil der Schule abgewickelt, hat der Bund zusätzliche Lehrer zu finanzieren.
Die Kommunen kommen bei beiden Varianten in Zugzwang – sie müssen (abgesehen vom Personalaufwand beim Vorschuljahr in Kindergärten) zusätzlichen Schul- bzw. Betreuungsraum schaffen. Die zu erwartende Größenordnung am Beispiel Graz: Von 1.850 Kindern, die im heurigen Schuljahr die erste Schulstufe besuchen, sind 260, also 14%, außerordentliche SchülerInnen (das sind solche, die auf Grund mangelhafter Deutschkenntnisse dem Unterricht nicht ohne weiteres folgen können). Für diese Zahl müsste zusätzlicher Raum an den Schulen (oder Kindergärten) zur Verfügung gestellt werden, das sind zumindest 10 Klassenzimmer. Angesichts der Auslastung der Schulen in den Ballungsräumen ist dies wohl nur im Wege von Zubauten oder Raumanmietungen zu lösen.

Nachmittagsbetreuung an Schulen – Vorstellungen des Bundes
Seitens des Bundes ist geplant, in folgender Form eine flächendeckende Ganztagsbetreuung an den Schulen anzubieten:

- Das Schulforum bzw. der Schulgemeinschaftsausschuss soll entscheiden, ob und in welcher Form (getrennte Abfolge von Unterrichts- und Betreuungsteil oder verschränkte Form) eine Betreuung angeboten wird.

- Der Bund ist bereit, weiterhin 5 Lehrerstunden pro Gruppe und Woche zur Verfügung zu stellen. Nach seiner Auffassung ist damit ein Großteil der Betreuungszeit abgedeckt, da diese 5 Lehrerstunden praktisch 10 Betreuungsstunden bedeuten würden.

- Die Kosten für den erforderlichen Raumbedarf und die zusätzlich erforderliche Betreuungszeit im Freizeitteil hätten wie bisher die Gemeinden (oder Länder) zu tragen; dies sei ohne weiteres möglich, da es an vielen Schulen ohnehin bereits Küchen und Aufenthaltsräume gäbe, die Schülerzahlen zurückgingen und daher genügend Raumkapazität zur Verfügung stünde.

- Den Gemeinden soll es möglich sein, für Mittagessen und Betreuung einen Elternbeitrag einzuheben, womit die Nachmittagsbetreuung kostendeckend geführt werden könne.

Beurteilung aus kommunaler Sicht
Dieser Vorschlag ist aus der Sicht der Städte keine adäquate Antwort auf die Ergebnisse der PISA-Studie, da er in erster Linie eine sozialpolitische, keine bildungspolitische Maßnahme darstellt. Im Sinne der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf sollen zwar mehr Betreuungsplätze angeboten werden, eine pädagogische Innovation erfolgt jedoch allein damit nicht. Er geht über die bisherige Rechtslage, die ganztägige Schulformen – sowohl solche mit getrennter Abfolge von Unterrichts- und Betreuungsteil (so genannte „Tagesheimschulen“) als auch in verschränkter Form (so genannte „echte Ganztagsschulen“) – jetzt schon ermöglicht, mit einer Ausnahme nicht hinaus.
Diese Ausnahme ist aber von entscheidender Bedeutung: Nach den derzeit geltenden gesetzlichen Bestimmungen obliegt die Einrichtung von ganztägigen Schulformen den Gemeinden, die als Schulerhalter für die Bereitstellung des Mittagessens und die Bezahlung der Betreuer des Freizeitteils aufzukommen haben. Sie bedarf der Bewilligung durch die Landesregierung. Sollte diese Entscheidung den Schulen übertragen werden, würde dies gewaltige Mehrbelastungen für die Kommunen mit sich bringen, ohne dass diese in die Willensbildung einbezogen werden.
Die Annahme, die Gemeinden könnten die Nachmittagsbetreuung kostendeckend durchführen, beruht nämlich leider auf Fehleinschätzungen. So ist die Rechnung, 5 Lehrerstunden seien 10 Betreuungsstunden, schlicht falsch. Der Bund stellt 5 Stunden zur Verfügung, deren Verteilung das Schulforum autonom bestimmen kann; es hat die Möglichkeit, 2 Stunden gegenstandsbezogene und 6 Stunden individuelle Lernzeit (diese zählen zu 50% für die Lehrverpflichtung, die Summe der zu bezahlenden Stunden beträgt somit 5) festzulegen oder 4 Stunden gegenstandsbezogene und 2 Stunden individuelle Lernzeit (ergibt in Summe ebenfalls 5bezahlte Stunden).
Die vom Bund zur Verfügung gestellte Betreuungszeit beträgt somit je nach Beschluss des Schulforums 8 oder 6 Stunden. Der Rest der Betreuung gilt als Freizeitteil und ist laut geltender Rechtslage von den Gemeinden zu übernehmen. Dieser Teil umfasst an Volksschulen in der Regel ca. 26 bis 28 Wochenstunden, d. h. der Bund kommt nur für knapp ein Drittel des Personaleinsatzes auf.
Die Elternbeiträge, welche die Gemeinden für ihren Kostenanteil einheben dürfen, müssen je nach finanzieller Leistungskraft der Erziehungsberechtigten sozial gestaffelt sein. Auf Grund dieser Sozialstaffel wird eine Kostendeckung bei weitem nicht erreicht. Der Zuschussbedarf beträgt derzeit für die Städte pro Kind und Jahr rund 1.000 €, wobei in dieser Berechnung die Personalkosten für Freizeitbetreuer und Küchenhilfen sowie die Kosten für die Ausstattung, nicht jedoch die Finanzierung der zusätzlich benötigten Räumlichkeiten berücksichtigt sind.
Der Raumbedarf für Essensausgabe und -einnahme sowie für Freizeitbetreuung kann auch nicht überall abgedeckt werden. Die meisten Schulen haben angesichts der in den Ballungsräumen sogar steigenden Volksschülerzahlen keine freien Kapazitäten, Lehrküchen sind nur an den Hauptschulen vorhanden und außerdem für Ausspeisungszwecke nicht geeignet. Ein flächendeckendes Angebot von Nachmittagsbetreuung an Schulen erfordert somit zweifellos ein nicht unerhebliches Schulausbauprogramm.
Das damit geschaffene Betreuungsangebot stünde dann in Konkurrenz zu den bereits bestehenden und qualitativ hochwertige pädagogische Arbeit leistenden städtischen sowie privaten Horteinrichtungen. Anstelle der Nutzung von Synergien würden auf Kosten der Kommunen ökonomisch fragwürdige Parallelstrukturen aufgebaut.

Die Position des Städtebundes
Das Erfordernis von Reformen auf den skizzierten Problemfeldern steht für die Städte und Gemeinden außer Diskussion. Gefragt sind dazu aber keine punktuellen Schnellschüsse, sondern ausgewogene Maßnahmenpakete unter den Prämissen

- klare Zielvorgaben und daraus abgeleitete miteinander vernetzte Einzelmaßnahmen;

- Verteilung der Aufgaben in partnerschaftlichem Zusammenwirken aller Gebietskörperschaften (Bund, Länder, Städte und Gemeinden);

- Berechnung des jeweiligen Finanzierungsbedarfes;

- Abgeltung von zusätzlichen Kostenbelastungen, die den Kommunen durch weitere Übernahme von Bildungsaufgaben entstehen.

Ein Scheitern der angekündigten Neugestaltung der Schullandschaft kann sich das „Bildungsland“ Österreich nur leisten, wenn es weiterhin hinnehmen will, dass ein Fünftel seiner Pflichtschulabgänger nur eingeschränkte Lebensbewältigungschancen besitzt. Ein echter Dialog zwischen den Gebietskörperschaften ist daher dringend geboten.

Städtebund-Linktipp:
www.pisa-austria.at

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