Von Srebrenica nach Europa – Südosteuropa zwischen Krise und europäischen Hoffnungen

Von Srebrenica nach Europa – Südosteuropa zwischen Krise und europäischen Hoffnungen

Die Ausgangssituation für die Entwicklung der südosteuropäischen Gesellschaften war angesichts der Kriege und Krisen der 1990er Jahre keinesfalls gut. Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien-Montenegro, Kosovo und Mazedonien sind auch heute mit zahlreichen Schwierigkeiten konfrontiert: mit strukturellen Problemen, ungelösten Statusfragen, mangelnder politischer Stabilität, schwacher wirtschaftlicher Dynamik, enormen Problemen im sozialen Bereich und – wie die Ereignisse der März-Tage 2004 im Kosovo gezeigt haben – noch immer mangelnder Sicherheit. Während notwendige Reformen erst sehr langsam durchgeführt werden, werden Erwartungen an eine Mitgliedschaft in der EU zunehmend größer. Der Balkan steht vor einem europäischen Paradigmenwechsel.

 

Am 11. Juli 2005 blickte die ganze Welt nach Bosnien, nach Srebrenica. Am Ort des größten Massakers auf europäischem Boden seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, an dem vor zehn Jahren die Truppen des bosnisch-serbischen Generals Ratko Mladiç 8.000 muslimische Männer ermordeten, trug man mehr als 600 sterbliche Überreste zu Grabe. Hochrangige einheimische und internationale Persönlichkeiten hielten pathetische Reden, in denen sie „Nie wieder“ gebetsmühlenartig wiederholten.
50.000 Menschen hörten ihnen zu, die meisten unter ihnen die Frauen von Srebrenica, denen seit dem Verlust ihrer Verwandten vor zehn Jahren nur noch ein unermessliches Leid und tiefste Trauer ins Gesicht geschrieben waren. Dabei auch der serbische Präsident Boris Tadiç, mitten unter zahlreicher Prominenz, gut abgeschirmt von seinen Bodyguards.
Nahezu gleichzeitig fand im Belgrader Sava-Zentrum unter Organisation der serbischen Radikalen Partei des in Den Haag angeklagten Vojislav ·e‰elj eine Veranstaltung ab, bei der eine Dokumentation über die Verbrechen der Muslime an der serbischen Bevölkerung in Bosnien gezeigt wurde. Man fühlte sich in der übervollen Halle selbst als Opfer und bestritt den Genozid in Srebrenica. Ebenso laut griff man den serbischen Präsidenten Tadiç wegen seiner Teilnahme an der Gedenkfeier in Srebrenica an. Man glaubte an die eigene Wahrheit.
Einige Wochen später feierte man in Kroatien den zehnten Jahrestag der „Befreiung“ der serbisch besiedelten Krajina im Zuge der Offensive „Sturm“ der kroatischen Armee, bei der es laut Jurisdiktion des Den Haager Kriegsverbrechertribunals zu zahlreichen Kriegsverbrechen der Kroaten an der serbischen Bevölkerung kam. Im Vorfeld der kroatischen Feierlichkeiten sprach der serbische Präsident Tadiç von der Notwendigkeit, alle Verbrechen am Gebiet des ehemaligen Jugoslawien gleich zu behandeln, was zu heftigen Gegenreaktionen der kroatischen Seite führte.
Wir schreiben das Jahr 2005. Ein Jahrzehnt nach dem Ende des Krieges in Bosnien-Herzegowina und bereits sechs Jahre nach dem Ende des Kosovo-Krieges gehen die Emotionen bei den ehemaligen Kriegsparteien regelmäßig hoch, wenn es um die Frage der Schuld und der Verantwortung für die Kriege geht. Gegenseitige Schuldzuweisungen und Aufrechnungen stehen dann auf der Tagesordnung, jede Seite besitzt ihre eigene Wahrheitskonstruktion, die als unverrückbare und einzig gültige Tatsache dargestellt wird. Die große Katharsis – eine offene und produktive Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und der eigenen Gegenwart – ist bis heute ausgeblieben. Gleichzeitig sind die Staaten Südosteuropas bestrebt, ihren Status möglichst schnell zu verändern und bald Mitglieder der Europäischen Union zu sein.
Die meisten Politiker haben schon längst die Sprache der EU gelernt und geben sich als begeisterte Europäer und Reformer. Die Realität und die Selbstdarstellung klaffen dabei oft stark auseinander.

Der schwierige Beginn nach den Kriegen
Die Ausgangssituation für die Entwicklung der südosteuropäischen Gesellschaften war angesichts der Kriege und Krisen der 1990er Jahre keinesfalls gut. Zerstörungen, kaputte Wirtschaften, nicht funktionierende Sozialsysteme, Korruption, nationalisierte und ethnisierte Gesellschaften – all dies machte den Beginn einer neuen und anderen Zeit nach dem Kriegsende besonders schwierig.
Im Vergleich mit anderen Transitionsländern Ost- und Mitteleuropas standen die Staaten des ehemaligen Jugoslawien am Ende der Kriege vor dem Dilemma einer dreifachen Transition: aus dem Kriegs- in den Friedenszustand, von einer schlecht funktionierenden sozialistischen und staatlich gelenkten Wirtschaft zur Marktwirtschaft und aus einem Zustand der Abhängigkeit und der direkten Hilfe aus dem Ausland in ein Stadium der Selbstverantwortung und der eigenständigen nachhaltigen Entwicklung.
Die Balkanregion bleibt auch zehn Jahre nach Srebrenica und sechs Jahre nach dem Ende des Krieges im Kosovo ein Teil Europas mit vielen strukturellen Problemen, ungelösten Statusfragen, mangelnder politischer Stabilität, schwacher wirtschaftlicher Dynamik, enormen Problemen im sozialen Bereich und – wie die Ereignisse der März-Tage 2004 im Kosovo gezeigt haben – noch immer mangelnder Sicherheit. Gleichzeitig sind Südosteuropa und der Balkan in der letzten Zeit zunehmend aus dem Schlaglicht der internationalen und europäischen Aufmerksamkeit verschwunden. Die Prioritäten der internationalen Politik haben sich gewandelt, die Probleme sind geblieben.
Gleichzeitig sind aber auch in vielen Bereichen Fortschritte erzielt worden – man spricht wieder miteinander, wirtschaftlich haben die meisten Staaten, vor allem Kroatien, einen großen Sprung nach vorne gemacht, im Zuge der EU-Integration werden strukturelle Reformen in Angriff genommen. Südosteuropa bleibt eine Region voller Widersprüche.

Die großen Probleme Südosteuropas
Wo liegen generell betrachtet die größten Probleme der Staaten Südosteuropas heute? Ein gewaltiges Hindernis für eine schnellere Entwicklung der Region liegt sicherlich in einer ganzen Reihe ungelöster Statusfragen. Neben der weiterhin offenen Frage nach dem endgültigen völkerrechtlichen Status des Kosovo und der Zukunft des Staatenbundes zwischen Serbien und Montenegro kämpft auch Bosnien-Herzegowina mit einer ineffizienten Verfassungsstruktur von Dayton, die substantielle Reformen bremst. Ein anderes großes Problem substantieller Natur stellen auch die stark bürokratisierten Verwaltungen dar, die z. B. allein in Bosnien-Herzegowina fast 50% des Bruttosozialprodukts des gesamten Staates aufbrauchen.
Im wirtschaftlichen und sozialen Bereich ergibt sich ebenfalls ein widersprüchliches Bild. Einerseits sind alle Staaten Südosteuropas bereits heute stark von ausländischem Kapital durchsetzt. So sind es vor allem westliche – und hier im besonders starken Ausmaß österreichische – Banken und Versicherungen, die den Markt vollkommen beherrschen.
Gleichzeitig sind Direktinvestitionen in produzierende Betriebe geringer, angesichts der billigen und guten Arbeitskräfte in der Region aber doch zunehmend stärker. Durch die Angebundenheit der Staaten an die Weltwirtschaft wirken sich alle weltweiten wirtschaftlichen Turbulenzen direkt aus – so zuletzt die Ölkrise, die zu Verteuerungen und zur Verschlechterung des ohnehin geringen Lebensstandards der Bevölkerung führt. Andererseits kämpfen alle Staaten mit einer großen Anzahl an Arbeitslosen, die z. B. im Kosovo inoffiziell mehr als 60% beträgt. Dazu kommen akute Schwächen im Sozialsystem, eine ausgeprägte Armut breiter Bevölkerungsteile und gleichzeitig ein perverser Reichtum der Kriegsprofiteure und großer Oligarchen.
Durch die starke Marginalisierung der Mittelschicht und enorme Provinzialisierung der Gesellschaften haben auch Städte als urbane Zentren und Zellen des Fortschritts viel von ihrer Rolle verloren.
Wie sieht die Situation in den einzelnen Nachfolgestaaten Jugoslawiens 15 Jahre nach Beginn der Auflösungstendenzen des alten Bundesstaates aus?

Von Kroatien bis Mazedonien – ein Überblick
Das kroatische Dilemma – zwischen Vergangenheit und der EU

Nach dem Tod von Franjo Tudjman 1999 und dem Sieg der Sozialdemokraten bei den ersten Wahlen der Post-Tudjman-Ära begann der demonstrative Abschied der neuen kroatischen Regierung unter Ivica Raãan vom autoritären Erbe des verstorbenen kroatischen Präsidenten. Bei den Wahlen im November 2003 kehrte die frühere Tudjman-Partei HDZ an die Macht zurück. Unter ihrem neuen Vorsitzenden Ivo Sanader entwickelte sich die HDZ zu einer Mitte-Rechts-Partei, dessen Vorsitzender den Weg in die EU und die NATO und die Stärkung der Wirtschaft bewusst als seine obersten Prioritäten ausgab. Dennoch – die Wahlen gewann Sanadar nicht wegen seiner dem Westen recht genehmen demokratischen Rhetorik. Vielmehr trugen die Enttäuschung der Bevölkerung über das Nichterreichte der Raãan-Regierung und vor allem die patriotisch-nationalen Appelle der noch immer durch die alte Tudjman-Garde durchzogenen HDZ entscheidend zum Sieg bei.
Auf dem Weg in die EU machte Kroatien seit 2001 zweifellos große Fortschritte: nach dem erfolgreichen Abschluss des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens im Jahr 2001 hat Kroatien im Februar 2003 den Antrag auf die Mitgliedschaft in der EU gestellt. Im April 2004 kam ein positives „Avis“ (Beitrittsgutachten) der Europäischen Kommission für den Beginn der Verhandlungen über die Vollmitgliedschaft in der EU. Die Aufnahme der Verhandlungen wurde zwar wegen mangelnder Kooperation Kroatiens mit dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag im März dieses Jahres hinausgeschoben, allerdings ist es nur eine Frage der Zeit, bis Kroatien die Verhandlungen beginnen wird. Dennoch zeigt gerade der Umgang Kroatiens mit dem gesuchten General Ante Gotovina noch einmal deutlich, dass es trotz zahlreicher erfolgreicher Reformversuche und einer deutlich besseren wirtschaftlichen Lage bis heute nicht gelungen ist, den endgültigen Abschied vom Nationalismus der Tudjman-Zeit zu vollziehen. Dies zeigen nicht zuletzt die in den letzten Monaten angestiegenen Anti-EU-Reflexe, die sich sehr stark alter kroatischer Nationalrhetorik bedienen.

Bosnien-Herzegowina – ein Land auf der Suche nach sich selbst
Die Bilanz, die zehn Jahre nach dem Friedensabkommen Dayton gezogen werden kann, ist eine gemischte. Die bosnische Transformation von der Implementierung des Friedensvertrages hin zu den Vorbereitungen auf einen allfälligen EU-Beitritt ist von Fortschritten wie Rückschlägen gekennzeichnet. Das Land ist sicherlich politisch stabiler geworden, der Zentralstaat ist gestärkt, auch viele Flüchtlinge sind zurückgekehrt. Die Liste der Probleme ist aber mindestens genauso lang: die ethno-nationalistisch orientierten Parteien sind weiterhin an der Macht, die Wirtschaft stockt, die Arbeitslosenzahlen sind enorm hoch, der Sozial- und Gesundheitssektor leiden an Unterfinanzierung und – so wie der Staat insgesamt – an Ineffizienz. Eines der grundlegenden Probleme des bosnischen Staates besteht im mangelnden politischen Willen und Konsens über einen gemeinsamen Weg innerhalb Bosniens und in der mangelnden Selbstverantwortung der bosnischen Bürger. Verstärkt durch die nur in ihrem engen (macht)politischen Interesse agierenden Eliten ist dies schuld daran, dass sich das Land noch immer in einem „permanenten Krisenzustand“ befindet. Auch die internationale Staatengemeinschaft hat Fehler gemacht, was viele Erfolge im Staatsbildungsprozess überschattet.
Eines ist klar – die Daytoner Staatskonstruktion ist schlicht und einfach keine Lösung für einen modernen demokratischen Staat und somit auch keine ausreichende Voraussetzung für die Integration in die EU. Sie ist viel mehr ein Hindernis auf diesem Weg. In dem bereits vor einigen Jahren begonnenen, derzeit aber sehr schleppend verlaufenden EU-Integrationsprozess besteht die Chance, Schritt für Schritt die Daytoner „Zwangsjacke“ abzulegen. Gerade der zehnte Jahrestag des Dayton-Abkommens in diesem Herbst sollte den Beginn der europäischen Ära in Bosnien-Herzegowina einläuten und aus einem artifiziellen bosnischen Staat ein modernes und demokratisches Gemeinwesen machen.

Tiefe Spaltung – Serbien und Montenegro vor wichtigen Entscheidungen
Der Sturz von Milo‰eviç im Oktober 2000 und der darauf folgende Regimewechsel in Belgrad waren nach einer tiefen Demoralisierung der serbischen Gesellschaft in den 1990er Jahren mit Hoffnung der Menschen auf den Ausbruch aus der gesellschaftlichen, politischen und vor allem auch wirtschaftlichen und sozialen Stagnation und Isolation verbunden. Das Regime war gestürzt, die radikalen gesellschaftlichen Veränderungen und Reformen werden nur langsam umgesetzt.
Das heutige Serbien ist gespalten: Auf der einen Seite stehen national-konservative Parteien und politische Persönlichkeiten, die geschickt die Emotionen der Bevölkerung in der Kosovo- und Montenegro-Frage und die miserable wirtschaftliche Situation benutzen, um politisches Kleingeld zu schlagen. Die demokratischen Kräfte und die vielen zivilgesellschaftlichen Vereinigungen auf der anderen Seite konnten sich mit ihren Forderungen nach einem endgültigen und radikalen Abschied vom Erbe der Milo‰eviç-Zeit bislang nicht durchsetzen.
So musste auch die Galionsfigur des anderen Serbien, der reformorientierte serbische Premierminister Zoran Djindjiç, seinen Kampf gegen die (kriminellen) Strukturen der Post-Milo‰eviç-Zeit im März 2003 mit seinem eigenen Leben bezahlen.
Ein Ausweg aus der Krise der serbischen Gesellschaft wird ähnlich wie in anderen Nachfolgestaaten Jugoslawiens in einer raschen Integration in die EU gesehen.
Die EU-Annäherung hat nach dem heurigen positiven Abschluss der Durchführbarkeitsstudie nicht wie erwartet und erhofft zu einer zusätzlichen Reformdynamik in Serbien geführt. Die meistgesuchten Kriegsverbrecher Ratko Mladiç und Radovan KaradÏiç sind noch immer nicht in Den Haag, die Konflikte zwischen Serbien und Montenegro haben an Intensität gewonnen, auch im wirtschaftlichen Bereich stocken die Reformen. Dennoch ist zu erwarten, dass die Europäische Kommission im Oktober den Beginn der Verhandlungen mit Serbien über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen als wichtigen Meilenstein auf dem Weg in die EU einläuten wird. Wenn in den nächsten Monaten das Schicksal der Staatengemeinschaft zwischen Serbien und Montenegro und des Kosovo entschieden sein sollte und die Spaltung der serbischen Gesellschaft durch einen einheitlichen Willen für rasche Reformen auf dem EU-Weg überwunden ist, sollte es auch in Serbien zum lang ersehnten politischen und gesellschaftlichen Aufschwung kommen.
Ähnlich wie Serbien selbst ist auch die Bevölkerung in Montenegro zwischen dem Wunsch nach Unabhängigkeit der politischen Eliten und den Widerständen seitens Serbiens und den Teilen der pro-serbisch orientierten Bevölkerung gespalten. Montenegro ist aber de facto bereits heute ein unabhängiger Staat mit eigener Währung, weitgehend selbständig agierenden Institutionen und mit eigenständiger Außenpolitik. Die Differenzen zwischen Montenegro und Serbien werden immer größer, die Gesellschaft immer gespaltener. Auch die Propaganda aus Belgrad gegen die Proponenten der montenegrinischen Unabhängigkeit wird immer stärker. Somit bleibt auch der Ausgang des Referendums für die Unabhängigkeit, das nach einem 2003 beschlossenen dreijährigen Moratorium vermutlich im Frühling 2006 stattfinden wird, ungewiss.

Kosovo im Vorfeld der Status-Entscheidung
Die Kosovo-Frage birgt noch immer höchste Brisanz. Der völkerrechtliche Status der ehemaligen serbischen Provinz ist weiterhin offen, der Weg zu seiner Lösung schwierig und völlig ungewiss. Nach dem Ende des Krieges 1999 begann im Kosovo eine der umfangreichsten Staatsbildungsaktionen der internationalen Gemeinschaft, die bislang wenige Erfolge mit sich brachte. Die gewalttätigen Ausschreitungen der Kosovo-Albaner gegen Serben und andere Minderheiten im März 2004 haben deutlich die Fehler der sogenannten Internationals gezeigt, die sich in einem selbstgenügsamen und fehleranfälligen Protektoratssystem im Kosovo eingerichtet haben.
In entscheidenden Punkten für die Zukunft des Kosovo sind seit dem Kriegsende 1999 klare Fortschritte ausgeblieben: die wirtschaftliche und soziale Situation der kosovarischen Bevölkerung ist weiterhin katastrophal, die Korruption und Kriminalität allgegenwärtig. Die Jugendarbeitslosigkeit unter der jüngsten Bevölkerung Europas (mehr als 60% der Kosovaren sind jünger als 26) liegt bei alarmierenden 80 bis 90%. Auch die interethnischen Beziehungen haben sich nicht verbessert: Die serbischen Vertreter boykottieren weiterhin die kosovarischen Institutionen, die kosovo-albanischen Politiker sind zu passiv und setzen keine klaren Versöhnungsgesten. Dieser Zustand einer „gespannten Stabilität“, in der – wie die Unruhen im März 2004 gezeigt haben – die tief liegenden gesellschaftlichen Spannungen jederzeit wieder aufbrechen können, dauert weiter an. Es erscheint noch offen, wie sich dieser Prozess gestalten wird. Auch negative Szenarien sind denkbar und nicht unwahrscheinlich. So könnte es zu neuerlichen Unruhen wie im März 2004 kommen, wenn sich herausstellt, dass die Vorstellungen der Kosovaren in Bezug auf eine rasche und uneingeschränkte Unabhängigkeit unrealistisch sind und in den Statusverhandlungen von der internationalen Staatengemeinschaft nicht akzeptiert werden. Zuletzt zeichnet sich offensichtlich ein leichter Wandel in der Politik der internationalen Gemeinschaft im Kosovo ab – die Erfüllung der Standards wird nicht mehr mit gleicher Vehemenz verlangt, so wie es noch vor einigen Monaten der Fall war. So wird der Beginn der Verhandlungen über den endgültigen Status des Kosovo wahrscheinlich auch bei einer negativen Einschätzung der Implementierung der Standards eingeläutet werden.

Der mazedonische Sonderweg zwischen Ohrid und der EU
Mazedonien blieb als einziger Nachfolgestaat des ehemaligen Jugoslawien im Verlauf der 1990er Jahre von direkten Kriegshandlungen im größeren Ausmaß verschont. Doch die anschwellenden Differenzen zwischen der slawischen Mehrheitsbevölkerung und den mazedonischen Albanern, die laut Schätzungen zwischen 25 und 30% der mazedonischen Bevölkerung ausmachen, wuchsen sich in Folge des Kosovo-Krieges 1999 zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit vielen Toten und Verletzten aus, die Mazedonien an den Rand eines Bürgerkriegs brachten. Auf Vermittlung der Europäischen Union konnte der Konflikt im Jahr 2001 mit der Unterzeichnung des Ohrider Abkommens und einer damit verbundenen Erweiterung der Rechte der albanischen Mazedonier gestoppt werden. Kleinere Auseinandersetzungen sind seit damals nicht verschwunden, das Ohrider Abkommen wird nicht von allen akzeptiert. Die Differenzen zwischen slawischen und albanischen Mazedoniern über die Verfasstheit Mazedoniens werden dieses Land auch in der Zukunft begleiten.

Europäischer Paradigmenwechsel?
In so gut wie allen Nachdenkversuchen über die Zukunft des Balkans verspricht man sich von der Perspektive der Annäherung an die EU entscheidende Impulse für die Entwicklung des Raumes. Die gewünschte Europäisierung der Gesellschaften und die EU-Integration der südosteuropäischen Staaten gehen aber mit überzogenen Erwartungen und idealisierenden Vorstellungen von einer besseren Zukunft einher.
Die von einfachen Menschen mit der EU verbundenen Wünsche wie Bewegungsfreiheit ohne Visa und Recht auf Arbeit in Europa werden sicherlich noch länger auf sich warten lassen. Die Europäisierung wird im öffentlichen Diskurs immer mehr zu einem unreflektierten Dogma, das einerseits Missverständnisse über Europa und Illusionen einschließt, gleichzeitig aber auch den politischen Eliten viel Spielraum für Manipulationen und inhaltslose „EU-Rhetorik“ bietet.
Südosteuropa steht also im Jahr 2005 vor einem Paradigmenwechsel – vor dem endgültigen Abschied von Kriegen und Konflikten und dem Beginn einer neuen europäischen Ära. Für einen erfolgreichen Verlauf dieses Prozesses und seinen guten Abschluss bedarf es noch vieler Anstrengungen, sowohl auf der Seite der EU als auch in den Ländern selbst. Europa trägt gerade angesichts der Ereignisse der letzten Dekade Verantwortung für den Balkan, heute mehr denn je. Bislang vertraute die EU in Südosteuropa zu sehr auf technische Aspekte der Entwicklung, auf eine institutionelle, ja sogar technokratische Logik. In den Ländern Südosteuropas sind in der nächsten Zeit – insbesondere auch während der österreichischen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2006 – statt Appellen und diplomatischen Floskeln konkrete Schritte notwendig.

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