„König Kunde“ oder öffentlicher Nah- und Regionalverkehr in der Schweiz

„König Kunde“ oder öffentlicher Nah- und Regionalverkehr in der Schweiz

In Österreich soll in den nächsten Monaten die Reform des öffentlichen Personennah- und Regionalverkehrs (ÖPNRV) auf den Weg gebracht werden. Bei allen Überlegungen geht es ums Geld. Wie man mit besserem Mitteleinsatz besseren Kundenservice und damit mehr Nachfrage generieren könnte, bleibt in der Debatte weitgehend ausgespart. Das Musterbeispiel Schweiz zeigt, wie man bundesweit kundennahen Nah- und Regionalverkehr schaffen könnte.

In diesen Tagen könnte die Abwandlung eines alten Witzes lauten, dass jeder Tourist, der nach Österreich kommt und „Schwyzerdütsch“ spricht, ein Verkehrsexperte ist. Gäste aus der Schweiz geben sich im Rahmen der Diskussion über eine Neuordnung des ÖPNRV die Türklinke in die Hand.
Die Schweiz hat das, was Österreich offensichtlich fehlt: Integrierte Verkehre, garantierte Anschlüsse, klare System- und Kompetenzstrukturen. Und die Schweizer haben erkannt, dass man auf einen ganz wesentlichen Parameter im öffentlichen Nah- und Regionalverkehr nicht vergessen darf: den Fahrgast!

Die Schweiz ist ganz anders
Schauplatz Zürcher Hauptbahnhof, Zentralstellwerk: Hier herrscht um 9.30 Uhr geschäftige Ruhe. Während unten die Züge in und aus dem Bahnhof hinausgleiten, flimmern im Computerraum an 8 Arbeitsplätzen die Bildschirme. Alle Zugverbindungen scheinen hier auf, die von dieser Steuerungsbasis aus bedient werden. Hie und da ein klärendes Telefonat, die Finger streichen über die Tastatur, konzentrierte Mienen, eine Tasse Kaffee. Unten, da fahren die Fahrgäste im Takt. Sie wissen das auch. Denn kurz vor der vollen Stunde fahren die Regionalzüge in den Bahnhof ein, kurz nach der vollen Stunde geht es wieder in die andere Richtung. Durch bauliche Maßnahmen im Schieneninfrastrukturbereich gelang es im Rahmen des Langfristprojektes „Bahn 2000“, die Fahrzeit zwischen den wichtigen Bahnknotenpunkten (Bern, Zürich, Basel) auf unter 60 Minuten Fahrzeit zu senken. Züge aus und in alle Richtungen warten daher immer zur selben Zeit in einem Bahnhof (dieses fast zeitgleiche Ein- und Ausfahren von Zügen erinnert an Spinnenarme, den Körper stellt der Bahnhof dar). Der Bahnkunde weiß ganz ohne „Fahrplanmatura“ somit, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt – den er sich leicht merkt – stündlich (oder sogar halbstündlich) in seinem Bahnhof immer eine Verbindung in jede beliebige Richtung auf ihn wartet. Und jetzt kommts: Fahren Sie mit den Öffis nach Saas-Fee, so können sie sich sicher sein, dass am Bahnhof Brig wirklich ein Postbus steht. Ganz sicher. Fragen sie einmal einen Schaffner im Zug irgendwo hinter Villach nach dem Postbus-Anschluss von Spittal nach Heiligenblut. Sie werden sich wundern ... Das Investitionsprogramm „Bahn 2000“ hat übrigens 4 Mrd. Euro gekostet, etwa jene Summe, die alleine der Koralmtunnel kosten wird.

Österreich: Kunde? Nie gehört!
Auch das Gesetz über den öffentlichen Personennah- und Regionalverkehr 1999 (ÖPNRV-G), das jetzt in Österreich reformiert werden soll, berücksichtigt nur indirekt den Kunden. Zwar wird vage von der Verpflichtung des Bundes gesprochen, dessen Aufgabe es ist, gemäß diesem Bundesgesetz ein Grundangebot im öffentlichen Schienenpersonennah- und Regionalverkehr im Umfang der im Fahrplanjahr 1999/2000 bestellten oder erbrachten Leistungen sicherzustellen – dieser Verpflichtung ist er in den letzten fünf Jahren ohnedies nur sehr schleppend und nicht vollständig nachgekommen. Ob aber alle Bürger Österreichs in diesem Fahrplanjahr überhaupt die Möglichkeit hatten, Zugang zum ÖPNRV zu erhalten, wird vom ÖPNRV-G 1999 nicht hinterfragt. Beim Individualverkehr sieht es hingegen anders aus: Abgesehen von einem Naturschutzgebiet in einem kleinen Tiroler Seitental, dessen Straßeninfrastruktur nur über eine Seilbahn erreichbar ist, ist wohl jeder österreichische Hauptwohnsitz und Firmenstandort an das Straßennetz angebunden, das dem Bürger rund um die Uhr in derselben Qualität zur Verfügung steht. Was es bei uns auf der Straße gibt, das haben sich die Schweizer für „ihren“ ÖPNRV an der Urne geholt.

Schweizer verlangen öffentlichen Verkehr
Schauplatz Bahnhof Oerlikon, Zürich: Der Bahnhof Oerlikon ist vergleichbar mit Hütteldorf oder Meidling im Wiener Bahnnetz. Ein wichtiger Umstiegknoten in der äußeren Stadt. Hier fahren die Züge in die Innerschweiz, die Fernverkehrszüge nach Mailand, Nahverkehrs- und Regionalzüge. Oerlikon ist eine Haltestelle von sage und schreibe 22.309 in der ganzen Schweiz. Dort werden im öffentlichen Verkehr 1,738 Millionen Menschen bedient. Auf einer Netzlänge von 25.000 Kilometern. Übrigens: Die Schweiz ist nicht einmal halb so groß wie Österreich und hat um einige hunderttausend Menschen weniger Einwohner. Das nur am Rande.
All diese Zahlen liegen 2005 ein Drittel über den Zahlen des Jahres 1980. Während woanders ständig das Zusperren in den Köpfen ist, haben die Schweizer den öffentlichen Verkehr ausgebaut. Wie war das möglich? Über den Dächern der Zürcher Innenstadt klärt uns Nationalrat Peter Vollmer auf: Das integrierte System (Nahverkehr, Fernverkehr, Seilbahnen, Schiff, Bus), ein Fahrausweis für die ganze Schweiz (von der Straßenbahn bis zum Postauto), eine enge Kooperation aller Verkehrsunternehmen, eine klare Verantwortungszuordnung der einzelnen Gebietskörperschaften, eine übergeordnete Verkehrsplanung durch das Bundesamt für Verkehr sowie durch Verkehrsämter auf Kantonsebene – und eine Bevölkerung, die sich direktdemokratisch immer wieder hinter den öffentlichen Verkehr gestellt hat. Nämlich hochqualitativ, gut vertaktet, vorhanden, wenn man ihn braucht. Öffentlicher Verkehr als Bürgerrecht, nicht als Schülerverkehr mit Zusteigemöglichkeit für Unterprivilegierte ohne Auto oder Randgruppen.

Österreichische Mangelwirtschaft geht weiter
„Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.“ Ausgehend
von dieser These eines 1883 verstorbenen Trierer Philosophen, befürchtet man ohnedies schon Schlimmes für den ÖPNRV, wenn seine gesetzliche Verankerung von Menschen reformiert werden soll, die ihn nur vom Pkw-Fenster aus wahrnehmen. Dass das aktuelle Reformierungsvorhaben keine Verbesserung für den Fahrgast bringen wird, ersieht man gerade aus den Passagen, die man im Gesetzesentwurf auch nach langem Suchen nicht findet. Die Sicherstellung eines Grundangebotes als Verpflichtung des Bundes entfiel, der Fahrgast hat abermals keine rechtlich verankerte Zugangsmöglichkeit zum ÖPNRV-Netz. Somit ist die ÖPNRV-Reform 2005 keine nach verkehrspolitischen Gesichtspunkten, sondern verfolgt nur eine Reorganisation und Neustrukturierung der bestehenden Mangelwirtschaft. Die Sicherstellung einer Zugangsmöglichkeit des Bürgers zum ÖPNV fehlt zur Gänze.

Schweizer Versorgungsauftrag in der Fläche
Genau aber das macht den Unterschied zum Schweizer Modell aus: In der Schweiz werden durch einen klaren gesetzlichen Auftrag und der Finanzverantwortung des Bundes sichergestellt, dass jeder Weiler mit mehr als 100 Personen ganzjährig täglich mit mindestens vier Verbindungen zu versorgen ist. Kunden können mit einer Karte und garantierten Anschlüssen durch die ganze Schweiz fahren. Betrachtet man im Vergleich dazu die Verbindung Lienz (12.100 EW) nach Innsbruck (113.400 EW), gibt es zwischen der Bezirks- und Landeshauptstadt nur zwei Bahnverbindungen am Werktag. Das sind also um zwei weniger (!) als zwischen 100-Einwohner-Weilern in der Schweiz, obwohl viele Osttiroler in Innsbruck arbeiten oder studieren! Fordert man daher, wie jüngst geschehen, die Erhöhung der Preise für ÖBB-Tickets beim Regional- und Fernverkehr auf Schweizer Niveau, muss dieser erst eine entsprechende Qualitätsanhebung und Kundenorientierung vorangehen. Erst dann kann man als Eigentümer eines Verkehrsunternehmens auch eine Preisakzeptanz wie in der Schweiz erwarten, wo Kunden freiwillig auf Preisvorteile (durch Senioren-, Aktions- und sonstige Ermäßigungen) von Einzelfahrten gegenüber der in der ganzen Schweiz gültigen Netzkarte gerne verzichten, da ihnen der Komfortgewinn – mit einer Karte sämtliche ÖPNRV-Angebote der Schweiz, also Bahn, Bus, Schifffahrtslinien, viele Seilbahnen und den innerstädtischen Verkehr – diesen Aufpreis wert ist.

Organisationsweltmeister Schweiz
Dass eine perfekte Organisation im Hintergrund ihr Geld wert ist, beweist selbige beim ÖPNRV in der Schweiz. 50 Prozent der Kosten des öffentlichen Verkehrs werden aus Zuschüssen bestritten, der Rest wird erwirtschaftet. Die Kantone bestellen mittels Offerten im Jahrestakt Verkehre (die Finanzierung erfolgt gemeinsam durch Bund und Kanton), regionale Fahrplankonferenzen holen Offerte ein. Ein Zuschuss ist dann die Abgeltung jenes Betrages, der nicht aus den Einnahmen gedeckt werden kann. „Die Schweizer Doktrin lautet: Nicht durch die Ministerialbürokratie regeln, sondern vor Ort entscheiden“, meinte Peter Vollmer. Die Schweiz fängt gerade vorsichtig mit Ausschreibungen im öffentlichen Verkehr an. Momentan allerdings nur im Busverkehr. Gewerkschafter sehen diese Entwicklung mit großem Unbehagen, denn die Mitarbeiter dürfen im Ausschreibungssystem keine Verschubmasse wie Waggons oder Busse werden. Kritiker monieren zudem, dass Ausschreibungen hochkomplex bzw. zeitintensiv sind und damit oft kaum Effizienzsteigerungen bringen.

Mit Öffis in die Stadt, mit Pkws in den Speckgürtel
Gerade der Blick auf die Anbindung der Schweizer Städte an die Regional- und Fernverkehre macht deutlich, welcher Wert in einem gut organisierten nationalen öffentlichen Verkehr steckt. Für die Städte allgemein – als Firmenstandorte – wird es daher künftig ganz wesentlich sein, ob die dort aktiven Arbeitskräfte mit dem Auto oder mit dem ÖPNRV in die Stadt einpendeln.
Sollte der Pkw-Anteil weiterhin derartig wachsen, werden kostenintensive Straßeninfrastrukturprojekte erforderlich sein, Firmenstandorte und Arbeitsplätze trotzdem in das (mit dem Privatfahrzeug noch leichter erreichbare) Umland abwandern. Die Städte werden einen Einnahmenverlust, gekoppelt mit einem Ausgabenzuwachs, erleiden. Hinzu kommen noch die höheren Kosten für die Gesundheit sowie die steigende Umweltbelastung. Für die Städte ist die Förderung des ÖPNRV daher prioritär, um auch weiterhin als attraktiver und lebenswerter Standort für Menschen und Wirtschaft bestehen zu können.

Gleichstellung ÖPNRV und Autoverkehr notwendig
Da Städte und Gemeinden von Menschen ursächlich für Menschen als Siedlungsagglomeration und nicht als großflächiges Abstellplatz- und Autopistengebiet gegründet wurden, kann für den Städtebund die Frage „Wessen Straße ist die Straße?“ leicht beantwortet werden: Es ist die des Menschen, der sie als Begegnungsort mit und Verbindung zu anderen Menschen nutzt und auch in der Stadt das unveräußerliche Recht auf eine lebenswerte Umwelt hat.
Die Förderung des unbestrittenermaßen umweltfreundlichen ÖPNRV und seine Gleichberechtigung gegenüber dem bislang stark geförderten motorisierten Individualverkehr wird daher für Städte im Sinne einer zukunftsorientierten Verkehrs- und Raumordnungspolitik die zentrale Zukunftsaufgabe sein.

Christian Pilz ist im Österreichischen Städtebund u. a. für das Dossier Verkehr zuständig. Als Kfz-Besitzer pendelt er lieber jeden Tag im Netz der Wiener Linien von Wien-Floridsdorf ins Wiener Rathaus und erledigt sämtliche Dienstwege innerhalb Österreichs mit der Bahn. Wolfgang Hassler ist ÖGZ-Redakteur und Städtebund-Referent für Öffentlichkeitsarbeit, Autofahrer und bringt es als Bahnfahrer jährlich auf etwa 15.000 Schienenkilometer.

Städtebund-Linktipps:
www.bav.admin.ch
www.sbb.ch
www.zvv.ch

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