„Die kommunale Entscheidungsfreiheit muss erhalten bleiben“

„Die kommunale Entscheidungsfreiheit muss erhalten bleiben“

Der Generalsekretär des Rates der Gemeinden und Regionen Europas, Jeremy Smith, diagnostiziert im ÖGZ-Interview eine schleichende Aushöhlung der kommunalen Entscheidungsfreiheit durch die Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs. RGRE-Kernthemen für 2006: demografischer Wandel, Energiesparen, interkommunale Zusammenarbeit und der Europäische Gemeindetag vom 10. bis 12. Mai in Innsbruck.

ÖGZ: Die britische Ratspräsidentschaft hat es gerade noch geschafft, einen Kompromiss über das EU-Budget von 2007 bis 2013 zu finden. Ihre Einschätzung?

Jeremy Smith: Ich begrüße diese Einigung sehr, allerdings hat das EU-Parlament im Budgetbereich ein gewichtiges Wort mitzureden. Für die Regionen und Gemeinden ist insbesondere die finanzielle Unterdotierung in der Kohäsionspolitik ein Problem – 0,37% des Bruttonationaleinkommens sind einfach zu wenig. Da fehlen doch mehrere zweistellige Millionenbeträge.

ÖGZ: Das EU-Verfassungsprojekt ruht nach den negativen Volksentscheiden in Frankreich und den Niederlanden, die EU-Kommission hat nach einem Jahr Amtszeit heftige Kritik für ihre Arbeit geerntet. Wie beurteilen Sie als Generalsekretär des RGRE vor Ort in Brüssel die derzeitige Lage?

Jeremy Smith: Man sollte hier vorsichtig sein und nicht die beiden Dinge miteinander vermischen. Es gibt Kritikpunkte, aber wir müssen erkennen, dass es jetzt schärfere politische Debatten in Europa gibt. Es ist gar nicht so einfach, dass der Präsident und seine KommissionskollegInnen nicht kritisiert werden, entweder weil sie zu liberal eingestellt sind oder zu wenig aktiv sind. Präsident Barroso hat bei Amtsantritt klar gemacht, dass er nicht zu viele Ziele auf einmal ansteuern möchte. Priorität Nr. 1 ist jetzt die Ankurbelung der Konjunktur und die Schaffung von Jobs im Wege der Lissabon-Agenda.
Hinsichtlich des Vertrages über eine EU-Verfassung kann man nicht die EU-Kommission für den Ausgang der Volksabstimmungen verantwortlich machen. Jetzt gibt es eine Periode der Reflexion auf allen Seiten. Nun stellt sich die Frage – gerade für jene, die aus prinzipiellen Gründen die EU-Verfassung unterstützt haben –, wie man vorgeht, ob man also den Gesamttext weiterhin hochhält oder etwa den dritten Teil fallen lässt.

ÖGZ: Die Thematik kommunale Daseinsvorsorge ist in Österreich ein großes Thema. Der Binnenmarkt wird weiterentwickelt, der Europäische Gerichtshof agiert sehr offensiv in Richtung kommunale Leistungserbringung. Wie sehen Sie die aktuellen Entwicklungen?

Jeremy Smith: Eines ist für den RGRE ganz klar: Die Entscheidungsfreiheit über die Erbringung von Diensten von allgemeinem Interesse muss auf regionaler bzw. lokaler Ebene verbleiben – also die Bandbreite von der Erbringung von Diensten In-house bis hin zu systematischen Ausschreibungen. Das ist unsere grundlegende Philosophie. Damit haben wir ein grundsätzliches Problem mit der Sicht der Kommission und verstärkt mit den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs. Hier fehlt uns die Ausgewogenheit zwischen den Binnenmarktprinzipien und kommunalen Dienstleistungen, hier wird Schritt für Schritt die kommunale Leistungserbringung ausgehöhlt. Wir interpretieren das jedenfalls so. Bei der derzeit in Diskussion stehenden Dienstleistungsrichtlinie haben wir immer betont, dass wir dafür eintreten, dass nicht-kommerzielle öffentliche Dienste vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen werden.

ÖGZ: Zu den großen Problembereichen gehören das Vergabewesen und die Formen interkommunaler Kooperationen.

Jeremy Smith: Ja, die EU-Kommission macht über viele Jahre sehr erfolgreich praktizierte Formen der Zusammenarbeit sehr schwierig. Das steht teilweise sogar im Widerspruch zu nationalen Zielsetzungen. Etwa fordert die britische Regierung eine verstärkte lokale Kooperation, also etwa gemeinsame Servicestellen wie Call-Center, während uns EU-Entscheidungen das Leben in der Praxis erschweren. Der RGRE hat dazu auch im Herbst 2005 ein Seminar abgehalten und wird die Thematik offensiv weiterverfolgen.

ÖGZ: In Österreich wird gerade eine Reform des ÖPNRV-Gesetzes diskutiert. Auf EU-Ebene liegt derzeit die überarbeitete Nahverkehrsverordnung vor.

Jeremy Smith: Scheinbar hat die Kommission die unterschiedlichen Kritikpunkte hinsichtlich Ausschreibungswettwerb etc. speziell seitens des Europäischen Parlaments und der regionalen und lokalen Anbieter gut eingearbeitet. Dieser Vorschlag ist aus Sicht des RGRE recht vernünftig. Wir werden die Nahverkehrsverordnung sicherlich im Gesetzgebungsprozess 2006 genau unter die Lupe nehmen.

ÖGZ: Die Energiepreise scheinen sich langfristig auf hohem Niveau einzupendeln. Inwiefern wird das die Kommunen betreffen?

Jeremy Smith: Seit zwei, drei Jahren sage ich überall, dass die Thematik Energie für die Kommunen und Regionen immer wichtiger werden wird. Die steigenden Preise unterstreichen das. Um ehrlich zu sein: Es ist recht schwierig bei unseren Mitgliedsverbänden, dafür Interesse zu wecken. Der RGRE hat hier die thematische Führung übernommen und einen Energieleitfaden für Kommunen entwickelt. Wir sind diesbezüglich auch mit dem zuständigen EU-Kommissar Piebalgs in Kontakt.

ÖGZ: Der demografische Wandel wird eine Grundkonstante in der öffentlichen Debatte der kommenden Jahre sein. Wie geht man auf EU-Ebene damit um?

Jeremy Smith: Das ist wirklich eine ganz zentrale Frage. Immer mehr ältere Menschen werden Dienste auf lokaler Ebene benötigen, wie reagiert man darauf, wie stellt man Dienstleistungen zur Verfügung, wie bildet man Arbeitskräfte in diesem Bereich besser aus, wie finanziert man das? Ich bin mir sicher, dass wir in genau dieser Frage auch beim Europäischen Gemeindetag vom 10. bis 12. Mai 2006 in Innsbruck diesbezüglich eine intensive Debatte führen werden. Der RGRE bringt sich bei diesem Thema auch in Reaktion auf das Grünbuch zum demografischem Wandel ein. Dieses Grünbuch – wenn Sie so wollen, eine Art Zukunftskatalog – wurde von der EU-Kommission 2005 vorgelegt.

ÖGZ: Die EU-Erweiterung geht 2007 oder 2008 mit dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens weiter. Mit Kroatien und der Türkei werden Beitrittsgespräche geführt. Wie schaut die „Außenpolitik“ des RGRE in den nächsten Jahren aus?

Jeremy Smith: Wir als RGRE haben nicht die Aufgabe, zu beurteilen, wer in die EU kommen soll oder nicht. Wir begleiten die Entscheidungen der Institutionen der Europäischen Union. Wir haben auch über das LOGON-Projekt gemeinsam mit dem Österreichischen Städtebund über Jahre die Erweiterungsrunde 2004 optimal vorbereitet und auf lokaler und regionaler Ebene auf Schienen gesetzt. Das zahlt sich jetzt aus – für beide Seiten!

ÖGZ: Wie sehen Sie die Rolle des Österreichischen Städtebundes im Rahmen des RGRE?

Jeremy Smith: Der Österreichische Städtebund stellt mit Bürgermeister Michael Häupl nicht nur den derzeitigen Präsidenten des RGRE, sondern ist auf allen Ebenen sehr aktiv, auch durch das Städtebund-Büro und sein tagtägliches Lobbying für die kommunale Sache in Brüssel. In Zukunft werden sicherlich die verstärkten Bemühungen einer Kooperation mit den Verbänden Südosteuropas sehr wichtig sein. Die Südosteuropakonferenz des RGRE im Oktober 2005 in Wien, die gemeinsam mit dem Städtebund organisiert wurde, war dafür ein perfektes Beispiel.

ÖGZ: Herr Generalsekretär, wir danken für das Gespräch.

Städtebund-Linktipp:
www.ccre.org

OEGZ

ÖGZ Download