„Der plötzliche Gewaltausbruch hat die Gesellschaft überrascht“

„Der plötzliche Gewaltausbruch hat die Gesellschaft überrascht“

Vermummte Jugendliche, brennende Autos, Menschen, die ihre Schulen und Kindergärten bewachen, zerstörte öffentliche Infrastrukturen: Das war das mediale Bild, das im November 2005 ganz Europa elektrisiert hat. Der ziellose Protest der „vergessenen Jugendlichen“ in mehr als 400 Städten Frankreichs hat zu einem neuen Nachdenken über Integration und Zuwanderung geführt. Der Bürgermeister von Saint Jean de la Ruelle, Christophe Chaillou, fordert im ÖGZ-Interview einen tiefgreifenden Bewusstseinswandel in der Gesellschaft und mehr Anstrengungen für tagtäglich gelebte Integration.

ÖGZ: Herr Chaillou, Sie sind neben Ihrer leitenden Tätigkeit im Rat der Gemeinden und Regionen Europas auch Bürgermeister. Wie interpretieren Sie als Bürgermeister die Ereignisse in den französischen Städten?

Christophe Chaillou: Ich kann sagen, ich habe mit vielen betroffenen Bürgermeistern gesprochen. Wir waren alle über diesen Ausbruch an Gewalt völlig konsterniert. Natürlich wussten wir, dass es ein latentes Problem mit Jugendlichen – und zwar sowohl mit Kindern und Enkelkindern von Zuwanderern aus Nordafrika als auch französischer Herkunft – in den Vororten gibt. Viele Bürgermeister aller politischen Parteien haben daher in den letzten Jahren Programme zur Integration durchgeführt bzw. unterstützt und viel Geld für begleitende Maßnahmen im Zuge von Beschäftigungsprogrammen oder beim Einsatz von Sozialarbeitern zur Verfügung gestellt. Der plötzliche Ausbruch von Gewalt hat jedoch die französische Gesellschaft überrascht.
Die konkreten Anlässe, die die Situation ausgelöst bzw. angeheizt haben, waren der unglückliche Tod eines Jugendlichen bei einer Konfrontation mit der Polizei, aber auch die relativ harten Äußerungen des Innenministers, die zum Teil als Provokation aufgefasst wurden. Natürlich waren die Ereignisse auch ein starkes Thema in den Medien, was die Ausbreitung der Krawalle unterstützt hat. Eine Reihe von Jugendlichen sagte sich: „Das, was die Anderen gestern Nacht machten, können wir auch.“

ÖGZ: War auch Ihre Stadt betroffen?

Christophe Chaillou: Ja, sie ist eine von rund 400 Städten und Vorortgemeinden, in denen – genauer gesagt in deren Gebieten mit Sozialwohnungen – es zwischen 29. Oktober und 12. November 2005 zu Ausschreitungen gekommen ist. Die Unruhen brachen in Saint Jean am 6. November aus und dauerten insgesamt 4 Tage. Es wurden 20 Autos angezündet und öffentliches Eigentum beschädigt.

ÖGZ: Warum wurden gerade Autos angezündet?

Christophe Chaillou: Das ist eine psychologische Frage, die ich nur bedingt beantworten kann. Zur Brandstiftung von Autos möchte ich aber doch sagen, dass dies offensichtlich eine gewisse Tradition hat und die Hemmschwelle sehr gering ist. Das Departement, in dem meine Stadt liegt, hat etwa 650.000 Einwohner. Im letzten Jahr gab es etwa 350 Fälle von Brandstiftungen an Autos, d. h. im Durchschnitt ein abgefackeltes Auto pro Tag. Darüber wurde natürlich in den Medien nie berichtet.
Neu war diesmal aber die Dichte der Gewalt, auch gegen öffentliche Einrichtungen. Ich kenne Bürgermeister und Gemeinderäte, die tagelang in ihren Schulen übernachtet haben, um sie vor Angriffen zu schützen.

ÖGZ: Was sind nun Ihrer Ansicht nach die tiefgreifenderen Gründe für die Ereignisse?

Christophe Chaillou: Aus meiner persönlichen Sicht heraus ist es tatsächlich die Situation einer „verlorenen Generation“. Es handelt sich in erster Linie um Jugendliche aus sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen, Kinder oder sogar Enkelkinder von Einwanderern, die oft als „Hauptberuf“ nur die Arbeitslosigkeit kennen. Die Betroffenen wohnen vielfach isoliert in Sozialwohnungsghettos, meist am Stadtrand, weil nur dort die Grundpreise für den Bau von Sozialwohnungen erschwinglich sind. Dadurch können die Gemeinden, die gesetzlich verpflichtet sind, für 20% ihrer Bevölkerung Sozialwohnungen bereitzustellen, dieser nationalen Vorschrift am ehesten nachkommen.

ÖGZ: In der Öffentlichkeit wurde auch das Problem der hohen Jugendarbeitslosigkeit angesprochen.

Christophe Chaillou: Das Problem existiert natürlich, das dahinterliegende Problem sind aber oft fehlende oder nicht ausreichende Sprachkenntnisse. Die Jugendlichen können einfach nicht richtig französisch, um am Arbeitsmarkt akzeptiert zu werden. Die Gemeinden, die das Problem kennen, haben in Frankreich jedoch nur sehr begrenzte Möglichkeiten, die Sprachkenntnisse zu verbessern. Sowohl das Schulwesen als auch das Kindergartenwesen ist hinsichtlich der Lehrplan- bzw. Betreuungsgestaltung komplett nationale Angelegenheit. Die Gemeinden können nur im Rahmen der Nachmittagsbetreuung ausgleichend wirken. Das ist sicher zu wenig, vor allem, wenn dann auch die Motivation, französisch zu sprechen, durch das Elternhaus nicht gegeben ist.

ÖGZ: Abgesehen von den sicher nicht sehr günstigen Voraussetzungen für die jungen Menschen am Arbeitsmarkt haben Angehörige von Randgruppen üblicherweise mit weiteren Vorurteilen zu kämpfen.

Christophe Chaillou: Es gibt einmal die allgemeine Arbeitslosigkeit, unter der alle leiden, aber dann gibt es auch die Abneigung der Unternehmer und der französischen Arbeitnehmerschaft, Mitarbeiter zu akzeptieren, die nicht ordentlich französisch sprechen können. Wenn zum Beispiel jemand „Mohammed“ heißt und sich um eine Stelle bemüht, hat er auch bei guter Qualifikation wenig Chancen, eine offene Stelle zu erhalten.
Die oft gehörte Aussage vieler Jugendlicher, „die Gesellschaft will uns gar nicht“, ist nicht falsch. Sie legitimiert natürlich nicht die angewendete Gewalt.

ÖGZ: Und die Familien?

Christophe Chaillou: Wir müssen sie noch viel stärker in den Mittelpunkt unserer Bemühungen zur Lösung von Konflikten stellen. Es war zum Beispiel in höchstem Maße besorgniserregend, zu hören, dass Jugendliche festgenommen wurden, die Polizei die Eltern verständigte und diese nicht nur nicht wussten, dass ihre Kinder gar nicht zu Hause waren, sondern auch keine weiteren Anstalten machten, sie von der Polizei abzuholen.

ÖGZ: Und wie hat sich die Situation letztlich beruhigt?

Christophe Chaillou: Zum Großteil aufgrund der differenzierten Vorgangsweise von Präventivmaßnahmen der Polizei bis hin zu Ausgehverboten für Jugendliche, verbunden mit zum Teil erheblichen Strafen. Die Entscheidung hinsichtlich der Ausgehverbote lag beim Präfekten. Wie groß die Unsicherheit unter der Bevölkerung war, mag man auch daran ermessen, dass ich Anrufe von Erwachsenen erhielt, die sich nicht mehr trauten, mit ihrem Hund am Abend vors Haus zu gehen.

ÖGZ: Und wie geht es jetzt weiter?

Christophe Chaillou: Zunächst haben wir kurzfristig zu lösende Probleme zu bewältigen. Tausende zerstörte Autos gehören meist Menschen, bei denen das Fahrzeug oft wichtig ist, innerhalb vernünftiger Zeit zum Arbeitsplatz zu kommen, und das oft den einzig wirklich wertvollen Gegenstand im Haushalt darstellt. Außerdem laufen häufig noch Kredite. Die Versicherungen wollen im Fall der Brandstiftung aber nicht zahlen. Es haben also die Krawalle nicht die Reichen, sondern gerade andere Arme getroffen. Hier kommt ein erheblicher Aufwand auf die Sozialhilfe zu.
Gleichzeitig ist auch großer Schaden am öffentlichen Gut entstanden, das meist nicht versichert ist. Die betroffenen Städte verlangen daher von der Regierung zusätzliche Mittel für diesen „Katastrophenfall“. Bisher haben wir aber – abgesehen von guten Worten – von der Regierung nicht sehr viel Unterstützung erhalten.
Wir brauchen kurzfristig sowohl einen Ersatz für den Schaden, den die Bürger erlitten haben, als auch für den Schaden, der an den öffentlichen Gebäuden und Einrichtungen bzw. Straßen entstanden ist. Und wir brauchen auch wieder die bewährten Beschäftigungsprogramme für junge Menschen sowie die Unterstützung für die Nachbarschaftsbetreuung.

ÖGZ: Welche Maßnahmen haben Sie konkret gesetzt?

Christophe Chaillou: Kurzfristig habe ich in meiner Stadt eine Arbeitsgruppe zu einem „Bürgermeisterdialog“ einberufen, in der wir die Möglichkeiten von Polizei, Stadtverwaltung, Präfekt, Sozialarbeitern, Wohnbauträgern und Wirtschaft ausloten. In Saint Jean de la Ruelle sind zum Beispiel ganz gezielt fünf Nachbarschaftsbetreuer eingesetzt, die jeweils etwa ein Gebiet von etwa 500 Sozialwohnungen zugewiesen haben, um dort beratend und präventiv tätig zu sein. Diese Mediatoren werden je zur Hälfte von der Stadt und den Wohnungsgesellschaften bezahlt.
Langfristig bräuchten wir eine Änderung des Bewusstseins der Gesellschaft. Aber ich befürchte, diese Diskussion wird trotz der schrecklichen Ereignisse nicht wirklich stattfinden, weil viele nationale Entscheidungsträger einen massiven Rechtsruck bei den Wählern befürchten. Trotzdem glaube ich, dass wir als europaweit organisierte Kommunen sicher gut daran tun, in nächster Zeit – etwa im Rahmen des Europäischen Gemeindetages 2006 –unsere Erfahrungen und Lösungsansätze auszutauschen.

ÖGZ: Monsieur le Maire, herzlichen Dank für das Gespräch.

Christophe Chaillou ist Kabinettsdirektor im RGRE und leitet dessen Pariser Büro. Gleichzeitig ist er seit 1998 Bürgermeister von Saint Jean de la Ruelle. Die 17.000-Einwohner-Stadt liegt rund 100 km südlich von Paris.

Städtebund-Linktipp:
www.ville-saintjeandelaruelle.fr

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