„Wir haben fünfmal mehr Autos als Kinder“

„Wir haben fünfmal mehr Autos als Kinder“

Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) hat sich ein ambitioniertes Ziel gesetzt: Er will Stuttgart zur kinderfreundlichsten Stadt in ganz Deutschland machen. Lediglich in 18 % aller Stuttgarter Haushalte gibt es noch Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Nun heißt es umsteuern. Im ÖGZ-Interview erklärt Oberbürgermeister Schuster, wie Stuttgart mit einem integrierten Ansatz Bildungs-, Integrations-, Demographie- und Standortziele miteinander vernetzt.

 

ÖGZ: Wie ist es zum Konzept der kinderfreundlichsten Stadt Deutschlands in Stuttgart gekommen?

Oberbürgermeister Wolfgang Schuster: Wie haben einige Hearings zur Demographie gemacht. Da habe ich gemerkt, dass das angeblich ein sehr abstraktes Thema ist. Wir haben festgestellt, dass wir gerade noch in 18% der Haushalte Kinder und Jugendliche haben, also in 82% der Haushalte keine mehr anzutreffen sind. Es ist leicht erkennbar, dass wir damit als Stadt nicht zukunftsfähig sind. Vor allem wenn man bedenkt, dass Stuttgart als High-Tech-Stadt vom Export lebt. Und dementsprechend lautete dann meine Antwort: Wir brauchen mehr Kinder. Und wir brauchen ein kinderfreundliches Klima. Damit das Ganze politische Aufmerksamkeit bekommt, habe ich das Ziel formuliert, dass Stuttgart die kinderfreundlichste Stadt Deutschlands werden soll.

ÖGZ: Sie haben daraufhin ein eigenes Arbeitsprogramm mit fünf Punkten entwickelt. Wie schaut das genau aus?

Wolfgang Schuster: Erstens: Jedes Kind soll die Bildung und Förderung bekommen, damit es faire Zukunftschancen hat. Gerade in einer Stadt wie Stuttgart, in der zirka 170 Nationen leben, in der etwa 40% der Kinder einen Migrationshintergrund haben, ist das besonders wichtig. Deshalb haben wir im Kindergarten eine breite Sprachförderung, aber auch unter Einbeziehung der Eltern, z. B. Kurse wie „Mama lernt Deutsch“. Wir haben eine vielfältige Förderung von Begabungen von Kindern, umfängliche Programme wie „Einstein im Kindergarten“, um Neugier und die Einstellung zu wecken. Sprachförderung ist integriert in das gesamte Angebot eines Kindergartens.

ÖGZ: Sie haben aber auch mit kindergerechten Regeln in öffentlichen Räumen reagiert.

Wolfgang Schuster: Ja, wir brauchen ein familiengerechtes Wohnumfeld. Es gibt etwa viele Freiflächen, aber die sind oft mit dem Schild versehen „Betreten verboten“, dort spielen dann die Hunde, aber nicht die Kinder. Deshalb haben wir eine Aktion gestartet mit der Aufschrift „Kinder erwünscht, spielen erlaubt“. Ich habe dann sämtliche Wohnungsgesellschaften angeschrieben und gesagt, wir wollen diese Schilder auch in der Öffentlichkeit überall aufstellen. Das war anfangs sehr mühsam. Wir haben erreicht, dass die Hausordnungen in den Mehrfamilienhäusern entsprechend verändert und kinderfreundlicher wurden. Wenn nämlich da drinnen steht, der Kinderwagen muss immer weggestellt werden oder der kleine Roller darf nicht am Gang stehen, bedeutet das immer eine Belastung – vor allem für die Mütter. Unser Ansatz: Spielen auch draußen auf der Straße, denn die Straße und öffentliche Plätze sind nun mal Begegnungsstätten von Kindern, für ihre Sozialisation. Das ist aber nicht einfach in der Umsetzung, denn wir haben in Stuttgart fünfmal so viel Autos wie Kinder. Die Umsetzung eines solchen Konzepts stellt sich in der Praxis relativ schwierig dar. Deshalb haben wir die Schulhöfe zum Spielen freigegeben, nachmittags, abends, am Wochenende, in den Ferien. Wir haben weitere Spielplätze gebaut. Ich halte es für ganz wichtig, dass sich die Kinder viel mehr bewegen und nicht so viel am PC sitzen. Wir kennen ja die Haltungsschäden, das geht ja dann bis hin zur fehlenden Konzentrationsfähigkeit. Die Bewegung im Freien ist ganz wichtig, deshalb diese Kampagne für mehr öffentliche Räume für Kinder und Jugendliche im unmittelbaren Wohnumfeld, im Freien.

ÖGZ: Sie haben das Thema Gesundheit angespochen. Was kann eine Stadt hier bewegen?

Wolfgang Schuster: Das ist in unserem Konzept das dritte Element, die Frage der Gesundheit und der Sicherheit der Kinder. Bei der Sicherheit vor allem das Thema Verkehrssicherheit. Wir machen entsprechende Verkehrserziehung mit Verkehrsschulen für Kinder. Wir können feststellen, dass wir in den letzten Jahren die Stadt mit den wenigsten Unfällen mit Kindern in Deutschland waren. Insofern nützt es viel, wenn man sehr konsequent solche Programme macht. Aber wichtig sind auch Programme in die Öffentlichkeit hinein, etwa mit dem ADAC, damit die Autofahrer mehr Rücksicht nehmen, das geht hin bis zur Schulwegplanung. Jedes Kind bekommt bei uns in der Grundschule einen Plan, auf dem erfasst ist, wie das Kind sicher von zu Hause in die Schule gelangt. Dazu gehört aber auch, dass die Eltern sich trauen, dass die Kinder allein in der Stadt unterwegs sind. Wir haben z. B. eine Aktion gestartet mit dem Motto „Gute Fee“. Überall, wo dieses Zeichen prangt, können Kinder hingehen und bekommen Hilfe, etwa wenn sie sich verletzt haben. Oder es wird zu Hause angerufen. Es ist ein Netzwerk entstanden, wo klar ist, wenn ein Kind ein Problem hat, gibt es viele Ansprechpartner in der Nachbarschaft.
Nicht zu vernachlässigen ist das Thema Gewalt in der Familie, übrigens ein Konzept, dass wir vor einigen Jahren aus Österreich übernommen haben, um gewalttätige Väter aus der Wohnung hinaus zu verweisen. Dazu gehört aber auch das Thema Gesundheit, insbesondere gesunde Ernährung. Ich denke, dass man das den Kindern beibringen muss, was ist eigentlich gesund. Deshalb gibt es Frühstück im Kindergarten, in der Schule, wo man das lernt, und man versucht überall die Eltern einzubinden.

ÖGZ: Kinderfreundlichkeit hat bei Betrachtung aller Analysen viel mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu tun. Wie gehen Sie in Stuttgart damit um?

Wolfgang Schuster: Das ist das vierte Thema: Wie kann ich Familie und Beruf vereinbaren, vor allem bei den vielen Alleinerziehenden, die oft in eine ganz schwierige Situation kommen. Das ist es für mich zentral, dass man jeder Familie sagen kann: Es gibt eine verlässliche Betreuung, es gibt Netzwerke der Hilfe, auch wenn man einmal krank wird. Wichtig ist, dass diese Verlässlichkeit da ist. Wir haben sie in Stuttgart noch nicht ganz erreicht, aber sind auf gutem Wege. Dazu gehört aber auch, dass die Arbeitgeber, dass die Unternehmen begreifen, dass sie nur eine gute Zukunft haben, wenn es Familien und Kinder gibt, und wenn die Mitarbeiter wissen, ihr Kind ist gut versorgt, deshalb können sie sich auf die Arbeit konzentrieren. Hier bedarf es der notwendigen Flexibilität in der Arbeit, der Toleranz, wenn eine Mutter einmal zu spät kommt, weil sie ihr Kind noch versorgen muss. Also ein Klima, dass familienfreundlich ist, muss im Unternehmen verankert sein. Hier haben wir einen Wettbewerb ausgerufen, um Unternehmen auszuzeichnen, die gute familienfreundliche Arbeitsplätze anbieten. Nicht zu vergessen: Diese Familienfreundlichkeit ist ein weiteres Argument bei der Frage, bewerbe ich mich bei der Firma A oder B? Die Analysen zeigen, dass es für die Unternehmen ökonomischer ist, wenn sie familienfreundlich sind. Die Produktivität, die Kreativität, die Konzentrationsfähigkeit – all das steigt, wenn das familiäre Umfeld der Arbeitnehmer stimmt. Von daher ist das ein ganz wichtiger Aspekt, denn bei Unternehmen denkt man zuerst an die kurzfristige Wirtschaftlichkeit. Wir haben Firmen analysiert, wo sich das sehr positiv darstellt.

ÖGZ: Die Mehrgenerationsfamilie wird von neuen Formen des Zusammenlebens abgelöst. Sie verbinden in Ihrem Konzept Bildung, Generationserfahrungen und Betreuung miteinander.

Wolfgang Schuster: Der fünfte Punkt ist der neue Generationenvertrag vor Ort. Es ist ja nur noch ganz selten, dass es drei Generationen unter einem Dach gibt. Das ist jetzt die Ausnahme. Daraus ergibt sich eine wichtige Frage: Was sollen die vielen, vielen aktiven SeniorInnen tun, die sich gerne in unsere Gesellschaft einbringen, die gerne etwas mitgestalten, wenn sie schon beruflich ausscheiden müssen. Zum einen haben wir alle Seniorenheime in Mehrgenerationenhäuser umgebaut, überall kommen Kindertagesstätten hinein. Dann kommen die Älteren automatisch und sagen – jetzt gehe ich sozusagen „mein Enkerl“ besuchen und bringe dem kleinen türkischstämmigen Kind etwas mit, lese ihm etwas vor, bringe ihm Deutsch bei, eröffne ihm ganz neue Chancen, auch in Form der Lebenserfahrung mit älteren Personen. Das setzt sich dann fort mit Patenschaften für Jugendliche im Alter von 13 oder 14 mit Migrationshintergrund, die oft Schwierigkeiten haben, sich in unserer Alltagskultur und in der Schule zurechtzufinden. Dass man die einfach über Jahre begleitet, ihnen damit das Leben in der Schule erleichtert und dann anschließend den Übergang von der Schule in den Beruf gestaltet. Das praktizieren wir mit großem Erfolg. Damit das Ganze nicht nur eine kommunalpolitische Aufgabe ist, habe ich ein Kuratorium eingesetzt. Der Vorsitzende ist der Medienunternehmer und Verleger Holtzbrinck. Inzwischen sitzen im Kuratorium die Personalchefs aller großen Unternehmen, die Kirchen, die Träger der sozialen Einrichtungen, also ein sehr aktives Netzwerk. Das hilft, die Idee der Kinderfreundlichkeit in die Gesellschaft hineinzutragen.

ÖGZ: Wie bei jeder Idee braucht es Verantwortliche neben dem Oberbürgermeister der Stadt, die der Idee ein Gesicht geben bzw. verantwortlich sind. Sie haben Kinderbeauftragte eingesetzt.

Wolfgang Schuster: Mir war es wichtig, dass ich eine Person gewinnen konnte, die direkt mir zugeordnet ist und die diese notwendige Vernetzungsarbeit anstößt, Vermittlerin und zum Teil Kummerkasten ist. Und die natürlich mit den dezentralen Strukturen kommuniziert. Wir haben jetzt in allen Ämtern und Betrieben jemanden als Kinderbeauftragte/n geschult, sodass das Thema der Kinderfreundlichkeit überall hineingetragen wird – als klassische Querschnittsaufgabe in einem kommunalen Unternehmen oder einer kommunalen Verwaltung. Ganz wichtig ist die Öffentlichkeitsarbeit. Die hauptamtlich tätige Kinderbeauftragte Stuttgarts, Roswitha Wenzl – selbst Mutter von drei Kindern – macht das hervorragend.

ÖGZ: Stuttgart ist 2006 eine der gastgebenden Städte im Rahmen der Fußballweltmeisterschaft, die am 9. Juni beginnt. Wie geht Stuttgart als Stadt mit dieser Rolle um?

Wolfgang Schuster: Es gibt weltweit nur zwei „Sprachen“, die allgemein verstanden werden. Das ist der Fußball und die Musik. Deshalb hat die Fußballweltmeisterschaft die höchste mediale Präsenz aller Veranstaltungen, die es weltweit gibt. Daher ist es wichtig, dass die Botschaft „Zu Gast bei Freunden“ auch fassbar und gelebt wird. Deshalb ist es mir ganz wichtig, dass wir uns in Deutschland und Stuttgart als gastfreundlich gegenüber allen Nationen darstellen, denn wir leben vom Export. Wir sind global vernetzt und werden mehr denn je auf einem gemeinsamen Globus aufeinander angewiesen sein. Deshalb habe ich z. B. mit der UNESCO vereinbart, dass wir ein Weltjugendfestival machen, wo 2006 Jugendliche aus der ganzen Welt nach Stuttgart kommen, um diesen Gedanken zu leben. Das wird dann weitergehen mit einer entsprechenden Internetplattform. Im Vorfeld machen wir Fußballturniere für die Kinder aus aller Welt, die in Stuttgart leben – hier leben wie gesagt 170 Nationen. Unsere Hauptbotschaft: Fußball verbindet. Integration durch Sport, das durch diese zentralen Projekte auch gelebt wird. Nicht zuletzt haben wir uns vorgenommen, allen offiziellen Gästen zur Fußball-WM ein Buch zu überreichen. Das Buch heißt „Wir sind Stuttgart“ und enthält Beiträge von ausländischen MitbürgerInnen aus 38 Nationen, inklusive der 32 Nationen, die in Deutschland spielen. Die Beiträge gehen den Fragen nach, warum sie gerne in Stuttgart leben, was für sie wichtig ist, was Integration für sie bedeutet, was sie in die Gemeinschaft einbringen und was sie sich erhoffen, wie eine Stadt sie aufnehmen soll. Ich glaube, dass wir uns in Stuttgart auch so leicht tun, weil wir es im Schwabenland gewohnt waren, auszuwandern. Wir waren einmal eine der ärmsten Regionen Europas, deshalb sind Schwaben in die ganze Welt ausgewandert. Überall treffen sie die Ausgewanderten. Die waren auch froh, dass man ihnen eine faire Chance gegeben hat. Damals sind nicht die Schlechtesten ausgewandert, und so kommen heute nicht die Schlechtesten zu uns. Gebt denen, die kommen, eine faire Chance. Dass sie auf die Art eben auch eine Familie gründen können und auch das demographische Problem, das dramatisch ist, etwas abmildern können.

ÖGZ: Wer wird Fußball-Weltmeister?

Wolfgang Schuster: Es gibt natürlich mit Deutschland eine klare Hoffnung. Falls Deutschland nicht im Endspiel ist, dann spielen sie hoffentlich um Platz drei in Stuttgart.

ÖGZ: Herr Oberbürgermeister, vielen Dank für das Gespräch.

OEGZ

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