Die energieautarke Stadt – das Modell Güssing

Die energieautarke Stadt – das Modell Güssing

1990 hat die Stadt Güssing den Grundsatzbeschluss über einen hundertprozentigen Ausstieg aus der fossilen Energieversorgung getroffen. Seither hat sich die südburgenländische Bezirksstadt zu einem Zentrum der erneuerbaren Energie und Biomasse entwickelt. Neben neuen Formen der Energiegewinnung hat zusätzlich der Ökoenergietourismus der Stadt ein neues Standbein eröffnet und die regionale Wertschöpfung gesteigert.

 

Die Ausgangslage
Der Bezirk Güssing bzw. die Stadtgemeinde Güssing liegen an der südöstlichen Peripherie Österreichs. Die Distanz zu großen Städten wirkte sich nachhaltig auf die Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung der Region aus.
Zu Beginn der neunziger Jahre hatte der Bezirk Güssing hohe Auspendlerraten (ca. 70% – im Vergleich dazu weist die Stadtgemeinde Güssing eine Auspendlerrate von 43% auf) und als weiteres Merkmal die Abwanderung. Vor allem die qualifizierte Abwanderung war und ist nach wie vor ein Kennzeichen der Region.
In der Land- und Forstwirtschaft kennzeichnen kleinstrukturierte Flächen den Bezirk. Die land- und forstwirtschaftlichen Nutzflächen dienten nur zur Sicherung des Eigenbedarfs und die Bewirtschaftungsform ist/war maximal ein Neben- bzw. Zuerwerb (mit kontinuierlichem Rückgang).
Auch als Wirtschaftsstandort war der Bezirk Güssing aufgrund seiner Abgeschiedenheit und der mangelnden Infrastruktur eine Herausforderung. Betriebsansiedlungen erfolgten erst, seit Verbesserungen in der Infrastruktur (vor allem aus der Sicht der Energiebereitstellung) durchgeführt wurden.
In den siebziger Jahren stellte die Bevölkerung die Energieversorgung auf Erdöl um, sodass in der Stadtgemeinde Güssing 6,2 Millionen Euro für Energieimporte ausgegeben wurden und das Geld ins Ausland abfloss, obwohl die lokalen natürlichen Ressourcen (wie zum Beispiel Holz) vor der „Haustür“ wuchsen.

Die ersten Schritte
Die Verantwortlichen der Stadt Güssing erkannten den dringenden Handlungsbedarf in Richtung Regionalentwicklung. Die Nutzung der heimischen, nachwachsenden Rohstoffe zur Energieproduktion vor Ort sowie das Ziel, die Wertschöpfung in der Region zu steigern und Arbeitsplätze zu schaffen, und der Umweltschutzgedanke durch CO2-Reduktion spielten dabei ebenfalls eine wesentliche Rolle.
Die Stadtgemeinde Güssing setzte sich zum Ziel, die jährlich 6,2 Millionen Euro für Importe von Öl, Strom und Kraftstoffen durch die Energieerzeugung aus heimischen Rohstoffen zu ersetzen. Die Ideen und Initiativen für ein Energiekonzept gingen von einem kleinen Personenkreis innerhalb der Gemeinde aus. Der Grundsatzbeschluss der Stadtgemeinde Güssing „100% Ausstieg aus der fossilen Energieversorgung“ erfolgte im Jahr 1990. Das Energiekonzept beinhaltete zuerst die optimale Wärmedämmung an allen öffentlichen Gebäuden (neue Fenster, Vollwärmeschutz und Umbau von Heizungen). Danach begann der Bau der Nah- und Fernwärmeanlagen und des Biomassekraftwerks (BKW). Der Beitritt zur EU und die Ziel-1-Finanzmittel trugen zur Entwicklung „Energieautarke Stadtgemeinde Güssing“ bei.
Das Heizöl wurde durch Holz für die Wärmeerzeugung ersetzt. In der Energiebilanz erscheint der CO2-Ausstoß deshalb als neutral. (Der Burgenländische Forst besteht zu 64,6% aus Nadelholz, dessen Absatz zu 100% in die Industrie (Papierindustrie und Sägewerke) erfolgt. 35,4% des Forstes sind Laubholz, das zum Teil als Energieholz verwertet wird.
Die Stadtgemeinde Güssing ist heute das Biomassezentrum Österreichs. In den vorangegangenen Jahren schritten die Initiativen zum Einsatz erneuerbarer Rohstoffe für die Energieversorgung mit dem Bau der technischen Anlagen voran. Synergieeffekte wie die Gründung des Europäischen Zentrums für erneuerbare Energie (EEE), Betriebsansiedlungen, „Ökoenergiebesucher“ u. v. m. entwickelten sich.

Energieautarke Stadtgemeinde
Mit dem Konzept „Modell Güssing – energieautarke Stadtgemeinde“ und der Errichtung der ersten Anlagen (1989 Rapsmethylester = Biodieselproduktion aus Raps) und mit den Errichtungen der Fernwärme sowie des Biomassekraftwerkes Güssing wurden wesentliche Entwick–lungsschritte für die Stadtgemeinde gesetzt.

Die Fernwärme Güssing
Die Anlage wurde 1996 in Betrieb genommen und versorgt die Stadt Güssing sowie das Industriegebiet Nord und die Ortsteile Krottendorf, Glasing und Tobaj mit Wärme. Rohstoffe für die Verbrennungsanlage sind Holz aus den Wäldern der Region sowie Restholz der Güssinger Holzindustrie. Die Leistung umfasst 8 MW. Die Errichtung der Anlage wurde mit der Infrastrukturförderung über Ziel-1-Mittel finanziert.
Mittlerweile wurden zwei weitere wärmeproduzierende Anlagen in Betrieb genommen (Auf der Website der EEE Güssing GmbH sind alle technischen Anlagen angeführt).

Das Biomassekraftwerk Güssing
Das Biomassekraftwerk Güssing wurde mit dem Ziel errichtet, die Stromerzeugung aus Biomasse in kleinen, dezentralen Kraftwerken zu ermöglichen und so die Stadt Güssing dauerhaft mit Strom und Wärme zu versorgen. Absolut gesehen werden im Biomassekraftwerk Güssing 2 MW Strom und 4,5 MW Wärme erzeugt. Das reicht aus, um den Strombedarf und gemeinsam mit drei weiteren Fernheizwerken den Wärmebedarf der Stadt Güssing zu decken. Der Stromverbrauch der Stadtgemeinde Güssing liegt bei 19,4 GWh inklusive Industrie. Der Brennstoffverbrauch (Waldhackgut) beträgt 2,5 t/h.
Insgesamt ergibt sich eine gesamte Wärmeanschlussleistung von vier Anlagen mit rund 22 MW.

Das Forschungsnetzwerk
Um dieses Projekt von der Idee bis zur Umsetzung zu realisieren, schlossen sich Planer, Errichter, Anlagenbetreiber und Wissenschafter zum Kompetenznetzwerk Renet-Austria zusammen. Aufgrund des offenen Netzwerkes wurde diese Vernetzung um den Bereich der biologischen Vergasung erweitert. Ziel von Renet war und ist die Entwicklung von wirtschaftlich und technisch ausgereiften Systemen der Kraft-Wärme-Kopplung auf Basis der Biomassevergasung. Heute ist die Entwicklung in Güssing noch einige Schritte weiter. Mit dem Bau des Biomassekraftwerkes, das eine Forschungs- und Demonstrationsanlage ist, wurde erstmals die Möglichkeit von Arbeitsplätzen im Bereich der Wissenschaft vor Ort geschaffen.
Biomasse wird als zukünftig bedeutender regenerativer Energieträger angesehen. In vielen Regionen fallen eine Fülle von biogenen Roh- und Reststoffen in unterschiedlicher Menge und Qualität an. Diese zumeist energiereichen Stoffe könnten zur Energiebereitstellung genutzt werden, wenn geeignete Technologien angewendet werden. Die Biomassevergasung stellt eine geeignete Möglichkeit dar, aus Biomasse eine Reihe von heute wichtigen Produkten (Treibstoffe und synthetisches Erdgas) herzustellen.

Europäisches Zentrum für Erneuerbare Energie (EEE)
Die Gründung des Europäischen Zentrums für Erneuerbare Energie erfolgte 1996. Die Fernwärmeanlage war damals die größte Anlage in Österreich, sodass diese bei Kommunalpolitikern, Universitätsangehörigen, der Lehrerschaft, bei Studierenden und Absolventen höherer (technischer) Schulen großes Interesse hervorrief. Durch die ansteigenden Besuchszahlen in der Stadtgemeinde wurde das EEE als Koordinationsstelle gegründet, die speziell für die Interessenten Vorträge zum Thema erneuerbare Energie organisierte. Aus den Anfängen der Besucherkoordination des EEE entwickelte sich schrittweise eine Kooperationsstelle für regionale, nationale und internationale Projekte.
Diese Entwicklung ist auf die Initiativen des Bürgermeisters und technischen Leiters der Stadtgemeinde zurückzuführen. Auf Einladung aus Brüssel nahmen Bürgermeister Peter Vadasz und Geschäftsführer Reinhard Koch an einem Treffen an der Direktoria teil. Dabei handelte es sich um eine Informationsveranstaltung der EU zum Thema Einsatz erneuerbarer Energie und gleichzeitig eine Kooperationsplattform für Projektpartnersuche.

EU-Förderungen für internationale Projekte
Diese ersten EU-geförderten Projekte (Programme wie Arbeit und Umwelt; Ecos Ouverture, Lossed, Solargro) ermöglichen den Einstieg in die internationale Projektarbeit. Standen am Beginn hauptsächlich Projekte im Bereich erneuerbare Energie im Mittelpunkt, sind nunmehr auch Themen wie Tourismus und Kultur, Bildung und Beschäftigungsmaßnahmen im Programm. Die Projektarbeit wurde 2001 in die GmbH ausgelagert, die die Tochter des Vereins ist.
Die Aufgaben der derzeit 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umfassen nationales und internationales Projektmanagement in den Bereichen erneuerbare Energie, Kultur und Tourismus, Beschäftigungs- und Bildungsmaßnahmen. Die EEE Güssing GmbH arbeitet dabei eng mit der Stadtgemeinde, den lokalen und regionalen Tourismusverbänden sowie Instituten und Organisationen wie Schulen, Erwachsenenbildungseinrichtungen und Betrieben in und um Güssing zusammen.
Die Ziele und Aufgaben des EEE umfassen die Bereiche Umweltschutz, regionale Wertschöpfung, Arbeitsplatzschaffung sowie Forschung und Entwicklung zu verstärken, Dienstleistungen und Kooperation zu fördern und auch Weiterbildungsmöglichkeiten anzubieten.
Im letzten Jahr wurde mit Weiterbildungsmöglichkeiten im Bereich erneuerbare Energie für Berufstätige begonnen. Das Leader Plus Projekt „Erstes Österreichisches Weiterbildungszentrum für Erneuerbare Energie“ bietet Weiterbildung in Form von Tagungen, Seminaren und Symposien an. Die Weitergabe von Know-how in den Bereichen Energieproduktion aus Biomasse und Solar sowie Entwicklung von Energiekonzepten und Informationen über Fördermodalitäten erfolgten durch „Expertinnen und Experten“ aus der Planung, Umsetzung und Wissenschaft.

Der Ökoenergietourismus
Aus der Entwicklung der Demonstrations- und Pilotanlagen heraus und dem Anstieg der Besuchszahlen entwickelte sich der Ökoenergietourismus. Im Zuge von Qualifizierungsmaßnahmen für Arbeit suchende Frauen aus dem Bezirk wurden Frauen im Bereich Gästebetreuung geschult. Durch diese Maßnahmen entstand ein neues Berufsfeld – die Regionsführerin im Bereich Einsatz erneuerbarer Energieträger. Für unsere Gäste erfolgt die Gestaltung des Besuchsprogramms individuell. Für Erwachsene wird das Besuchsprogramm „Energie mit Charme“ bzw. unseren jugendlichen Gästen „Energie mit Fantasie“ angeboten.
Neben den Führungen in den technischen Anlagen bieten sich in Güssing auch kulturelle Besichtigungstouren an.

Mehr regionale Wertschöpfung, mehr Arbeitsplätze
Die Aktivitäten im Bereich der erneuerbaren Energie machten Güssing als Betriebsstandort interessant. Auch die Stadtgemeinde Güssing unternahm verschiedene Maßnahmen, um Betriebe in Güssing anzusiedeln. Zu diesen Maßnahmen zählen der Erlass der Kommunalsteuer für einen bestimmten Zeitraum und der Ankauf bzw. das Bereitstellen von Grundstücken. So entstand am nördlichen Ortsrand der Kommunalgemeinde Güssing ein 20 Hektar großes Industriegebiet.
Im Bereich der erneuerbaren Energie und dessen Umfeld sind seit Beginn der neunziger Jahre bezugnehmend auf die Kommunalsteuerstatistik etwa 50 Betriebe mit rund 1.000 Arbeitsplätzen entstanden. Dies sind vor allem die verschiedenen Biomasseumwandlungsanlagen, in deren Umfeld diverse Service- und Beratungsunternehmen und der Ökoenergietourismus entstanden sind. Die Betriebsansiedlungen führten in der Stadt Güssing zu Investitionen in der Höhe von 102,42 Millionen Euro, die neuen Arbeitsplätze ergeben ein Nettoeinkommen von ca. 9 Millionen Euro, die in der Region verbleiben. Für die Jahre 2006/07 sind weitere Investitionen in Höhe von mehreren Millionen Euro vorgesehen. Diese werden zur Arbeitsplatzschaffung im Bezirk Güssing eingesetzt.

Die Zukunftsperspektive
Das Modell Güssing gilt heute als Erfolgsmodell und ist international als Energie- bzw. Biomassezentrum anerkannt. Ausgehend vom Rohstoff Holz wurde das Ziel, Regionalentwicklung, Arbeitsplatzbeschaffung sowie Forschung und Entwicklung nachhaltig umzusetzen, durch viele Initiativen und Mut zum Handeln erreicht. Bedeutend für den Standort bzw. die Stadtgemeinde als Kommune ist, dass Arbeitsplätze in quantitativer und vor allem auch in qualitativer Hinsicht geschaffen wurden.
Derzeit wird an der Erweiterung des Modells gearbeitet. Technologische Ziele sind die Steigerungen der Leistungen und Effizienz der bestehenden Anlagen sowie der Einsatz neuer Technologien und die Erweiterung der Rohstoffpalette, z. B. Solar, Altspeiseöl, Biogas, um neben der Forstwirtschaft auch die Landwirtschaft zu stärken. Besonderes Augenmerk wird dem Thema Polygeneration gewidmet, wodurch je nach vorhandenen Rohstoffen, Menge und Art des Energiebedarfs eine flexible Energieversorgung in unterschiedlichen Regionen möglich sein wird.
Derzeit wird auch an der räumlichen Ausdehnung des Modells auf den Bezirk Güssing gearbeitet. Im Bezirk sind die gleichen Ressourcen in ausreichender Menge (40% Bewaldung) vorhanden. Auch entsprechende Technologien sind bereits vorhanden. Dabei sind ähnliche Synergien wie durch die Umsetzung des Modells Güssing zu erwarten.

Hinweis: Termine für eine „Besichtigungstour“ können bei Roswitha Gruber unter Tel. +43(0)3322/9010 850 40 gebucht werden.

Literatur:
C. Brunner, A. Kopitar, 2004: „Energie aus Biomasse in Güssing“, Geographisches Jahrbuch Burgenland, S. 125–136.
H. Hofbauer, 2005: „Forschung auf dem Gebiet Erneuerbarer Kraftstoffe aus Biomasse am Standort Güssing, unveröffentlichter Aufsatz, S. 1–16.

Städtebund-Linktipp:
www.eee-info.net
www.gussing.at

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