„Die interkommunale Kooperation ist entscheidend“

„Die interkommunale Kooperation ist entscheidend“

In der Schweiz ist die Stellung der Städte- und Gemeindeverbände in der Gesetzesbegutachtung in den letzten Jahren gestärkt worden. Der scheidende Direktor des Schweizerischen Gemeindeverbandes, Sigisbert Lutz, zieht eine erste positive Bilanz über das „tripartite“ Zusammenwirken der Gebietskörperschaften und plädiert für mehr interkommunale Kooperation.

 

ÖGZ: Der Schweizerische Gemeindeverband vertritt mit dem Schweizerischen Städteverband die Interessen der Kommunen in der Schweiz. Was macht der Gemeindeverband genau?

Sigisbert Lutz: Im Grunde genommen fahren wir auf zwei Schienen. Die erste ist die politische Arbeit des Verbandes. Das ist die Lobbyarbeit für Gemeinden und Städte auf Bundesebene. Wir sind nur auf Bundesebene tätig. Wir mischen uns nicht in kantonale Angelegenheiten ein. Die politische Arbeit des Verbandes wurde in den letzten Jahren wesentlich ausgebaut. Grund für diesen Ausbau war ein neuer Gemeindeartikel in der revidierten Verfassung des Bundes. Die Stellung der Gemeinden war früher verfassungsrechtlich nicht definiert. Auch heute sind die Gemeinden eigentlich immer noch den Kantonen unterstellt. Der Bund verhandelt immer nur mit den Kantonen und nicht direkt mit den Gemeinden. Durch diesen neuen Verfassungsartikel haben die Gemeinden in der Schweiz eine wesentlich größere Bedeutung im Vollzugsföderalismus bekommen. Ohne Städte und Gemeinden würde unser Vollzugsföderalismus nicht funktionieren. Der neue Verfassungsartikel verlangt, dass der Bund bei seinem Handeln auf die Gemeinden und Städte Rücksicht nehmen muss.

ÖGZ: Die Funktion eines kommunalen Spitzenverbandes wird damit natürlich wesentlich politischer.

Lutz: Genau, darum mussten die Kommunalverbände ihre politische Tätigkeit wesentlich ausbauen. Ein Beispiel: Vor einem Jahr verabschiedete das Parlament ein neues Vernehmlassungsgesetz (Gesetzesbegutachten heißt das in Österreich). Als Folge des neuen Artikels 50 (Gemeindeartikel) in der Verfassung wurden die Rechte der Gemeinden in diesem Verfahren aufgewertet. Sie sind heute gleichberechtigt und damit den Kantonen und den politischen Parteien gleichgestellt. Das war früher nicht der Fall. Neben der politischen Interessenvertretung hat unser Verband ein zweites Standbein erarbeitet. Im Laufe der Jahre hat der Schweizerische Gemeindeverband eine Reihe von Dienstleistungen geschaffen. So unter anderem eine Treuhandgesellschaft, einen Versicherungsberatungsdienst, eine Rentenkasse für das Personal der Gemeinden mit etwa 10.000 Versicherten. Wir beschaffen günstige Kredite für die Gemeinden. Dann beraten wir die Gemeinden in juristischen Fragen. Alle diese Dienstleistungen können die Gemeinden gegen Entschädigung bei uns
abholen. Also, politische Arbeit auf der einen Seite und praktische Dienstleistungen auf der anderen Seite. Diese Konstruktion hat sich bewährt.

ÖGZ: Vielleicht können Sie ein Beispiel für die Einbindung in den politischen Prozess der Schweiz skizzieren?

Lutz: Ein gutes Beispiel ist das erwähnte Vernehmlassungsgesetz. Die Arbeiten zu diesem Gesetz wurden von einer Arbeitsgruppe vorgenommen. Darin waren Vertreter der politischen Parteien, der Kantone, die involvierten Stellen der Bundesverwaltung und eben die zwei Kommunalverbände vertreten. Das wäre früher undenkbar gewesen! Wir nennen dieses Vorgehen das sogenannte tripartite Mitwirken. Heute werden viele Probleme in unserem Staat tripartit angegangen. Das heißt, Bund, Kantone und Gemeinden und Städte suchen gemeinsam nach Lösungen für einzelne politische Probleme. Diesbezüglich hat vor allem beim Bund ein Umdenken stattgefunden.

ÖGZ: Dieses tripartite Vorgehen wird jetzt auch bei der Erarbeitung einer neuen Raumordnung angewendet.

Lutz: Ja, momentan arbeiten wir an diesem Projekt. Die „Raumordnung Schweiz“ soll neu definiert werden. Wir sind dabei zu überlegen, wie unsere künftige Raumpolitik ausgestaltet werden soll. Bund, Kantone und Gemeinden und Städte haben eine Vereinbarung unterzeichnet. Ein politisches Organ sowie eine technische Arbeitsgruppe erarbeiten gemeinsam ein Konzept für eine künftige Raumordnung unseres Landes. In all diesen Gremien sind die Kommunalverbände vertreten.

ÖGZ: Bedeutet dieses tripartite Zusammenarbeiten, dass die Gemeinden und Städte auch die notwendigen finanziellen Mittel erhalten, welche sie für die Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen?

Lutz: Dem ist natürlich nicht so. Der Grundsatz „Den Letzten beißen immer die Hunde“ gilt natürlich in vielen Fällen auch bei uns. Die Kommunalverbände verlangen immer wieder, dass der Bund bei seinem Handeln Rücksicht auf die Kommunen zu nehmen hat. Das heißt, er muss zusammen mit den Kantonen, den Gemeinden und Städten die notwendigen finanziellen Ressourcen zukommen lassen. Leider handelt das Parlament nicht immer nach diesem Grundsatz. Dort werden vielfach Beschlüsse gefasst, ohne dass überlegt wird, wer die Folgekosten zu tragen hat. Unsere Aufgabe besteht darin, das Parlament auf diese Tatbestände aufmerksam zu machen. Zusammen mit dem Schweizerischen Städteverband organisieren wir Zusammenkünfte mit Parlamentarierinnen und Parlamentariern, bei denen wir unsere Anliegen deponieren. Zu diesem Zweck betreuen wir eine Parlamentarische Gruppe „Kommunalpolitik“, in der wir kommunale Belange diskutieren können.

ÖGZ: Besteht in der Schweiz auch ein Finanzausgleichsmechanismus zwischen Bund und Kantonen?

Lutz: Ja. Allerdings ist dieses System in die Jahre gekommen und wenig effizient. Deshalb wurde ein Projekt „Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben (NFA)“ lanciert. Ich würde sagen, dass war das größte Reformprojekt, welches wir in den letzten Jahren auf die Schiene gebracht haben. Dabei geht es um ein Ausgleichssystem zwischen dem Bund und den Kantonen. Die beiden Kommunalverbände konnten aktiv an diesem Projekt mitarbeiten. Das alte System erstreckte sich über 50 Einzelmaßnahmen und war sehr unübersichtlich. Zudem führte es zu einem ineffizienten Mitteleinsatz. Wer viel investierte – sinnvoll oder weniger sinnvoll –, profitierte. In Zukunft erhalten die Kantone Globalbeiträge, über die sie verfügen können. Zudem hat man neue Ausgleichsgefäße geschaffen. So wurde unter anderem ein sogenannter „Soziodemografischer Lastenausgleich“ geschaffen. Von diesem Ausgleich profitieren die Kernstädte mit ihren Zentrumslasten. Das Volk hat im November 2004 mehrheitlich dem Verfassungsgrundsatz für den Finanzausgleich zugestimmt. Das Parlament hat ein erstes Paket von Gesetzesänderungen bereits verabschiedet. Ein zweites Paket wird im nächsten Jahr vom Parlament beraten. Dann wird zu entscheiden sein, wie die Ausgleichsgefäße der NFA dotiert sein werden. Diese Frage ist sehr umstritten. Ein wichtiges Prinzip für die Umsetzung der NFA ist die Haushaltsneutralität zwischen Bund und Kantonen. Dieses Prinzip bestimmt indirekt die Dotierung der Ausgleichsgefäße. Die NFA wird auch eine neue Entflechtung der Aufgaben zwischen Bund und Kantone bringen. Dies im Umfang von etwa 5,2 Milliarden Franken. Bestimmte Aufgaben werden in Zukunft allein vom Bund finanziert. So zum Beispiel die Nationalstraßen. Andere Aufgaben übernehmen in Zukunft die Kantone. Es handelt sich dabei vorwiegend um Aufgaben im Sozialbereich und in der Behindertenpolitik.
Die NFA zwischen Bund und Kantone bedingt auch eine Neuregelung des Finanz- und Lastenausgleichs zwischen den einzelnen Kantonen und ihren Gemeinden. Zurzeit laufen Reformprojekte in praktisch allen Kantonen. Die Gemeinden müssen darauf achten, dass sie dabei nicht benachteiligt werden und dass sie nicht neue Aufgaben übernehmen müssen, ohne dass ihnen die notwendigen finanziellen Mittel zugewiesen werden. Es besteht die Gefahr, dass die Kantone die ihnen vom Bund überwiesenen Globalbeiträge für Haushaltssanierungen und Steuersenkungen einsetzen.

ÖGZ: Das heißt, Aufgabenteilung und und finanzielle Transferströme zwischen den Gebietskörperschaften werden quasi gleichzeitig geordnet?

Lutz: Das ist richtig. In den einzelnen Kantonen bestehen große Disparitäten zwischen armen und reichen Gemeinden. Zudem muss auch das Verhältnis zwischen den Kernstädten und ihren Agglomerationsgemeinden geklärt werden. Die Kernstädte erbringen in den Bereichen soziale Wohlfahrt, Kultur, Verkehr u. a. m. Leistungen, von denen die Agglomerationsgemeinden stark profitieren. In einzelnen Kantonen wurde der Lastenausgleich zwischen Kernstädten und Agglomerationen bereits eingeführt. In anderen Kantonen fehlt dieser Mechanismus.

ÖGZ: Wie steht es um das heikle Thema Gemeindefusionen. Geht man damit in der Schweiz unbefangener um?

Lutz: Das würde ich jetzt nicht sagen. Es ist zwar ein sehr aktuelles Thema. In der Schweiz gab es vor 20 Jahren noch über 3.200 Gemeinden. Seit den neunziger Jahren ist Bewegung in die Szene gekommen. Heute zählen wir noch etwa 2.730 Gemeinden. Einzelne Kantone kennen eigentliche Fusionsprogramme. Die Gründe für diese Bewegung sind vielfältig. So zum Beispiel die Abwanderung aus den Randgebieten und Bergregionen. Dann haben die Aufgaben der Gemeinden an Komplexität enorm zugenommen. Der Vollzug von Bundes- und Kantonsgesetzen wird immer schwieriger und bedingt eine professionelle Aufgabenerfüllung. In vielen kleineren Gemeinden hat man zudem Mühe, Bürgerinnen und Bürger zu finden, die bereit sind, öffentliche Ämter zu übernehmen. Das schweizerische Milizsystem benötigt viele ehrenamtlich agierende Politiker und Funktionäre. All dies führt dazu, dass man neue Zusammenarbeitsformen zwischen den Gemeinden diskutiert. Eben auch über Gemeindefusionen. Ich bin der Auffassung, dass wir auch in Zukunft eine große Anzahl von Gemeinden haben werden. Der Schweizer hat ein positives Verhältnis zu seiner Gemeinde. Dort kann er aktiv in das politische Geschehen eingreifen und viele Bereiche des Alltags aktiv mitgestalten. Darum sollte man, bevor man an Gemeindefusionen denkt, andere Modelle ausprobieren. Von ganz entscheidender Bedeutung ist die interkommunale Zusammenarbeit, welche in der Schweiz eine lange Tradition hat. Dies in den Bereichen der Entsorgung, der Wasserversorgung, des öffentlichen Verkehrs, der sozialen Wohlfahrt und anderes mehr. Dann müssen auch die Kantone und der Bund Sorge zu ihren Gemeinden tragen. Viele Gesetze, die auf Kantons- und Bundesebene erlassen werden, sind viel zu perfektionistisch und schränken den Spielraum der Kommunen ein. Weiter müssen die übergeordneten Ebenen dafür sorgen, dass die Gemeinden und Städte jene finanziellen Mittel erhalten, die sie benötigen, um ihre Aufgaben zu erfüllen.

ÖGZ: Gibt es Fusionsprojekte auch in den größeren Agglomerationen?

Lutz: Dem ist so. An sich würden Fusionsprojekte in den Agglomerationen Sinn machen. Sie sind jedoch politisch umstritten. Ein Großprojekt ist in der Stadt Lugano realisiert worden. Dort haben sich etwa acht Gemeinden mit der Stadt Lugano vereint. Die Einwohnerzahl von Lugano verdoppelte sich von einem Tag auf den andern.
Im Kanton Glarus hat das Volk an der letzten Landsgemeinde beschlossen, die Anzahl ihrer Gemeinden von 17 auf 3 zu reduzieren. Dieses Beispiel dürfte nicht Schule machen in der Schweiz. Eine derart drastische Reduktion der Anzahl Gemeinden wird es nicht geben. Ich gehe immer noch davon aus, dass wir auch in Zukunft relativ viele Gemeinden in unserem Land haben werden.

ÖGZ: Herr Direktor, wir danken Ihnen für das Gespräch.

OEGZ

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