Wiederaufnahme der Getränkesteuerverfahren

Wiederaufnahme der Getränkesteuerverfahren

Zwei topaktuelle Rechtsgutachten sprechen für die Wiederaufnahme der Getränkesteuerverfahren betreffend die „Null-Bescheide“ in der Gastronomie. Univ.-Prof. Dr. Michael Lang und Univ.-Doz. Mag. Dr. Tina Ehrke-Rabel kommen in zwei unabhängig voneinander erstellten Rechtsgutachten auf unterschiedlichen Wegen zum selben Ergebnis: Das EuGH-Urteil vom 10. März 2005, Rs C-491/03, Hermann, berechtigt die Abgabenbehörden in Österreich zur Wiederaufnahme der Getränkesteuerverfahren bei Restaurationsumsätzen.1

 

Ausgangslage – Problemstellung
Nach dem EuGH-Urteil vom 9. März 2000, C-437/97, EKV und Wein & Co, wurde allgemein angenommen, dass die Erhebung von Getränkesteuer auf alkoholische Getränke generell – und daher auch bei Restaurationsumsätzen – EU-widrig wäre (so auch VwGH vom 26. April 2001, Zl. 2000/16/0675).
Auf Basis dieser Rechtsauffassung ergingen sogenannte „Null-Bescheide“, mit denen für die Abgabe alkoholischer Getränke keine Getränkesteuer vorgeschrieben wurde; diese Bescheide sind in der Regel in Rechtskraft erwachsen.
Im Urteil vom 10. März 2005, Rs C-491/ 03, Hermann, hat der EuGH die „Verbrauchsteuer-Richtlinie“ jedoch dahingehend ausgelegt, dass eine Steuer, die auf die entgeltliche Abgabe alkoholischer Getränke zum unmittelbaren Verzehr an Ort und Stelle im Rahmen einer Bewirtungstätigkeit erhoben wird, als EU-konforme Steuer auf Dienstleistungen anzusehen ist. Die Abgabe alkoholischer Getränke im Rahmen einer Bewirtungstätigkeit geht nämlich mit einer Reihe von Dienstleistungen einher, wie z. B. Zurverfügungstellung von Räumlichkeiten und Toiletten, Beratung der Gäste, Anbieten der Getränke in geeigneten Gefäßen, Bedienung bei Tisch und schließlich der Reinigung von Tisch und Trinkgefäßen.
Der EuGH hat mit dieser Entscheidung – auch als „Frankfurter Urteil“ bezeichnet – die gemeinschaftsrechtliche Befugnis zur Erhebung von Getränkesteuern auf alkoholische Getränke bei Restaurationsumsätzen bejaht. Aus Anlass eines Musterfalles aus Wien hat der VwGH in der Folge mit seinem Erkenntnis vom 27. April 2006, Zl. 2005/16/0217, die Getränkesteuer auf alkoholische Getränke in Restaurantbetrieben als EU-konform erklärt. Auf Basis dieser höchstgerichtlichen Entscheidungen von EuGH und VwGH sind die nach dem 9. März 2000 erlassenen „Null-Bescheide“ als rechtswidrig zu qualifizieren.
Ohne Durchbrechung der Rechtskraft müssten die Gemeinden bei „Null-Bescheiden“ zur Erledigung des Rückzahlungsantrages eine Bereicherungs-/Überwälzungsprüfung nach der jeweiligen Landesabgabenordnung durchführen (z. B. § 185 Abs. 2 WAO). Der Modus und auch das Ergebnis einer derartigen Prüfung sind jedoch zweifelhaft, da bisher keine positive Judikatur des VwGH vorliegt.
Im Gegensatz zu dieser Konstellation bei „Null-Bescheiden“ konnten und können alle nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren in der Gastronomie analog zur Entscheidung des Wiener Musterfalles erledigt werden.
Im Sinne der gebotenen und angestrebten Gleichmäßigkeit der Besteuerung war daher zu untersuchen, ob insbesondere mit dem Rechtsinstitut der Wiederaufnahme des Verfahrens von Amts wegen dieses Ziel erreicht werden könnte.
Da im Schrifttum die Auffassungen darüber geteilt waren, ob Vorabentscheidungen des EuGH zur Anwendung des Vorfragentatbestandes berechtigen, hat der Österreichische Städtebund das Thema der Wiederaufnahme der Getränkesteuerverfahren wissenschaftlich untersuchen lassen.

Vorfragentatbestand – Gutachten Lang
In zeitlicher Hinsicht erstbeauftragter Gutachter zu diesem Thema war Michael Lang, Vorstand des Instituts für Österreichisches und Internationales Steuerrecht an der Wirtschaftsuniversität Wien.
Seine Untersuchung geht über das Institut der Wiederaufnahme hinaus und lautet daher „Rechtsgutachten zur Frage der Rechtskraftdurchbrechung von Abgabenbescheiden, bei denen für die Abgabe alkoholhältiger Getränke bei Restaurationsumsätzen keine Getränkesteuer vorgeschrieben wurde“.
Der Gutachter beschäftigt sich bei der Wiederaufnahme zunächst mit den Argumenten für eine Sach- und Parteienidentität als Voraussetzungen der Vorfrage und kommt zur Erkenntnis, dass sich ein EuGH-Urteil in einem Vorabentscheidungsverfahren von den herkömmlichen Vorfrage-Konstellationen dadurch unterscheidet, dass die Entscheidung gerade nicht im Hinblick auf einen bestimmten Sachverhalt und nicht einmal in Ansehung einer bestimmten nationalen Rechtslage erfolgt.
Der EuGH beschränkt sich nämlich im Gegenteil darauf, die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften auszulegen. Auch das althergebrachte Argument der Parteienidentität hält einer wissenschaftlichen Durchleuchtung in Ansehung der Klärung der Gemeinschaftsrechtsfrage von Amts wegen nicht stand.
Der Gutachter kann darauf verweisen, dass auch der VwGH die in einem Vorabentscheidungsurteil entschiedene Frage trotz fehlender Parteienidentität als mögliche für andere Abgabenverfahren relevante „Vorfrage“ in Betracht zieht.
Im Kernbereich seiner Untersuchung erörtert Lang die Bindungswirkung von EuGH-Urteilen für das Ausgangsverfahren sowie außerhalb davon und kommt zur Schlussfolgerung, dass Auslegungsurteile zumindest de facto mit einer „Erga-omnes-Wirkung“ ausgestattet sind.
Ein Vergleich der Bindungswirkung von EuGH-Urteilen einerseits und VfGH- sowie VwGH-Erkenntnissen andererseits zeigt, dass nur EuGH-Urteile nicht bloß für bestimmte Organe oder Verfahrensstadien Bindungswirkungen entfalten, sondern deren Wirkung deutlich darüber hinaus geht und genereller Art ist.
Verwaltungsbehörden haben auch verfassungs- oder gesetzwidrige Vorschriften anzuwenden und es kommen demgemäß VfGH-Erkenntnisse im Rahmen von Normenprüfungsverfahren nicht als Entscheidungen über Vorfragen in Betracht. Im Gegensatz dazu hat die nationale Behörde über die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit einer bestimmten nationalen Regelung eigenständig zu entscheiden, und zwar solange dazu kein einschlägiges Urteil des EuGH vorliegt. Die Frage der EU-Widrigkeit ist daher für die nationale Behörde eine Vorfrage!
Für die Causa Getränkesteuer kommt der Gutachter somit zum Ergebnis, dass nur das Urteil des EuGH vom 10. März 2005, Rs C-491/03, Hermann, für die Deutung der Rechtslage maßgebend war und damit der Vorfragentatbestand in den Landesabgabenordnungen erfüllt ist.
Der VwGH ist im Erkenntnis vom 27. April 2006, Zl. 2005/16/0217, implizit von einer solchen Deutung der Rechtslage durch den EuGH ausgegangen, sodass die Befassung eines verstärkten Senates entbehrlich war und eine Änderung der Rechtsauslegung nicht vorliegt.
Neuerungstatbestand – Gutachten Ehrke-Rabel
Die zeitlich zweitbeauftragte Gutachterin war Tina Ehrke-Rabel vom Institut für Finanzrecht an der Universität Graz.
Ihre Untersuchung war enger ausgelegt und lautet „Rechtsgutachten betreffend die Frage der Wiederaufnahme der Getränkesteuerverfahren nach dem Neuerungstatbestand aufgrund des EuGH-Urteils in der Rs Hermann.“
Die Gutachterin beschäftigt sich einleitend mit dem Begriff „Neue Tatsachen“ im Neuerungstatbestand der Wiederaufnahme und stößt auf das Erkenntnis des VwGH vom 20. April 1995, Zl. 92/13/ 0076, aus dem sich ergibt, dass Tatsachen und Beweismittel auch durch eine spätere gerichtliche Entscheidung neu hervorkommen können.
Nach der Judikatur des VwGH liegt der Wiederaufnahmegrund der „Neuerung“ auch dann vor, wenn sich ein Bescheid der Tatbestandswirkung entfaltet, nachträglich als nichtig herausstellt oder ex tunc aufgehoben wird.
Diese Judikaturlinie findet sich schon im Erkenntnis des VwGH vom 30. Juni 1994, Zl. 91/06/0174, betreffend das Verhältnis von Widmungsbescheid zu Baubewilligungsbescheid; der VwGH führt dazu aus, dass die Aufhebung des Widmungsbescheides Ex-tunc-Wirkung entfaltet und daher im Falle eines bereits rechtskräftigen Baubewilligungsbescheides der Wiederaufnahmegrund nach § 69 Abs. 1 Z 2 AVG, also wegen Hervorkommens neuer Tatsachen, vorliegt.
Als „Tatbestandswirkung“ wird in der Lehre der Umstand bezeichnet, dass sich ein Urteil oder ein Bescheid auf außerhalb des Bescheides/Urteiles liegende Rechtsverhältnisse bezieht.
Dass EuGH-Urteile in bestimmten Fällen Tatbestandswirkung entfalten können, basiert auf den Besonderheiten des Gemeinschaftsrechtes und dessen Anwendung durch die Mitgliedstaaten.
EuGH-Urteile in Vorabentscheidungsverfahren entfalten nämlich zumindest in tatsächlicher Hinsicht auch Wirkungen in anderen, nicht mit dem Ausgangsrechtsstreit zusammenhängenden Verfahren („Erga-omnes-Wirkung“); der Grundsatz der einheitlichen Geltung des Gemeinschaftsrechtes und das Auslegungsmonopol des EuGH bewirken diese generelle Berücksichtigung in allen vergleichbaren Sachverhaltskonstellationen.
Die Gutachterin konstatiert in dieser generellen Wirkung der EuGH-Urteile eine Durchbrechung des Legalitätsprinzips (Art. 18 B-VG), in dem das EuGH-Urteil das gemeinschaftswidrige innerstaatliche Gesetz ersetzt und Tatbestandswirkung für die betreffenden behördlichen Rechtsakte entfaltet.
In diesem Sinne hat bereits das Urteil EKV und Wein & Co Tatbestandswirkung entfaltet und war somit Sachverhaltselement für die Entscheidung der Gemeinden, den Rechtsbehelfen der Gastronomiebetriebe durch Erlassung der „Null-Bescheide“ zu entsprechen.
Aufgrund des Urteils Hermann hat sich die (vermeintlich) generelle Aussage des EuGH in der Rs EKV und Wein & Co, wonach die Getränkesteuer auf die Abgabe von Alkoholika gemeinschaftsrechtswidrig sei, als ungültig erwiesen.
Damit sind die Voraussetzungen für die Erlassung der „Null-Bescheide“ für Restaurationsbetriebe nachträglich und rückwirkend weggefallen. Da der Grund für die Ungültigkeit bereits im Zeitpunkt der Erlassung der „Null-Bescheide“ bestand, sind mit dem Urteil Hermann neue Tatsachen, die eine Wiederaufnahme der Getränkesteuerverfahren nach dem „Neuerungstatbestand“ rechtfertigen, hervorgekommen.

Auswirkung der Rechtsgutachten auf die Kommunen
Nach übereinstimmender Auffassung der beiden Rechtsgutachten berechtigt das EuGH-Urteil vom 10. März 2005, Rs C-491/03, Hermann, zur Wiederaufnahme der Getränkesteuerverfahren betreffend die „Null-Bescheide“. Die Gutachter stimmen auch darin überein, dass weder die notwendige Ermessensübung noch die Verböserungsverbote in einigen Landesabgabenordnungen (LAOen) die Wiederaufnahme der Verfahren behindern. Bei der analog § 20 BAO nach den LAOen vorzunehmenden Interessenabwägung wird dem Prinzip der Rechtsrichtigkeit (Gleichmäßigkeit der Besteuerung) der Vorrang vor dem Prinzip der Rechtsbeständigkeit (Parteieninteresse an der Rechtskraft) einzuräumen sein.
Ob das EuGH-Urteil, Hermann, gemäß Gutachten Lang den Vorfragentatbestand erfüllt oder durch seine Tatbestandswirkung als „Neuerung“ die Wiederaufnahme rechtfertigt (Gutachten Ehrke-Rabel), dürfte nicht entscheidend sein. Der Verfassungsgerichtshof selbst hat in seinem Erkenntnis vom 6. Dezember 1990, B 783/89, in der nachträglichen Änderung eines Gewinnfeststellungsbescheides einen Wiederaufnahmegrund für den abgeleiteten Einkommensteuerbescheid erkannt und die Frage des Neuerungs- oder Vorfragentatbestandes offen gelassen; VfGH-Originalzitat: „Die vorliegende Fallkonstellation ist daher gleich zu beurteilen wie das Neuhervorkommen von Tatsachen oder eine von der vorläufigen Beurteilung der Behörde abweichende Entscheidung der zuständigen Behörde über eine Vorfrage.“ (Siehe VfSlg. 12.566/ 1990.)
Auf Basis der vorliegenden Entscheidungen der Höchstgerichte und der im Ergebnis zulässigen Wiederaufnahme der Verfahren kann die Causa Getränkesteuer für die gesamte Seite der Gastronomie zugunsten der Städte und Gemeinden abgeschlossen werden.

Fußnote:
1 Die Veröffentlichung dieser Rechtsgutachten erfolgte in der Österreichischen Steuerzeitung Nr. 22 bis 24 in der Zeit zwischen 15. November 2006 und 15. Dezember 2006.

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