Kommunale Aspekte der Föderalismusreform in der Bundesrepublik Deutschland

Kommunale Aspekte der Föderalismusreform in der Bundesrepublik Deutschland

Städte, Gemeinden und Kreise haben sich seit langem für eine Reform des deutschen Föderalismus ausgesprochen und eigene Vorschläge zur Verbesserung der bundesstaatlichen Ordnung unterbreitet. Zu den Kernanliegen zählten die Einführung eines Anhörungs- und Beteiligungsrechts der Kommunen bei kommunalrelevanten Gesetzgebungsvorhaben des Bundes, die Beteiligung der Kommunen an der Gesetzesfolgenabschätzung (Kostenfolgeabschätzung) sowie eine Lösung des Problems der Aufgabenübertragung durch den Bund an die Kommunen.

 

Die Reform der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes ist am 1. September 2006 in Kraft getreten.2 Der zugrunde liegende Befund wurde von allen Seiten geteilt: die föderale Ordnung Deutschlands sei dringend reformbedürftig. Wissenschaft und alle politischen Kräfte sowie alle Ebenen im Staatsaufbau – einschließlich der Städte, Gemeinden und Kreise – sprachen sich für eine Neuordnung des Föderalismus aus. Vielfache Verflechtungen führten zu mühsamen politischen Prozessen und lähmenden Blockaden, wo schnelle und effiziente Entscheidungen erforderlich wären. Städte, Gemeinden und Kreise hatten zudem eine strukturelle Schieflage des deutschen Bundesstaates zulasten der Kommunen konstatiert, die im Wesentlichen zur Folge hatte, dass der Bund die Kommunen in seine Aufgabenerfüllung einbinden kann („Bundesdurchgriff“), ohne die benötigten finanziellen Mittel bereitstellen zu müssen.3 Zu oft gingen Städte und Gemeinden als Verlierer aus Bund-Länder-Verhandlungen hervor, weil sie nicht mit am Verhandlungstisch saßen und Entscheidungen zu Lasten Dritter gefällt wurden. Die Erosion der kommunalen Finanzen führte mittelbar auch zu einer Aushöhlung des grundgesetzlich gesicherten Autonomiebereichs der Kommunen, da den Kommunen kaum Mittel für die Finanzierung der freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben blieben.4 Eine verfassungsrechtlich abgesicherte Konsultation der Kommunen wie in Österreich kennt das Grundgesetz leider nicht. Es vertraut darauf, dass die Länder die Interessen der Kommunen auf Bundesebene wahrnehmen. Erklärtes Ziel der Städte war daher die Stärkung des kommunalen Autonomiebereichs und die Beseitigung der Mechanismen, die die langfristige finanzielle Schieflage begünstigten.5

I. Wichtige Änderungen im Grundgesetz
Das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes enthält etwa vierzig Änderungen am Text des Grundgesetzes. Diese haben zum Teil tiefgreifende Veränderungen insbesondere des Verhältnisses des Bundes zu den Ländern (Zuweisung der Kompetenzen, Auflösung der Rahmengesetzgebung), des Verhältnisses des Bundes zu den Kommunen (Abschaffung der Möglichkeit des Bundes, den Kommunen unmittelbar Aufgaben zur Ausführung zu übertragen, sogenannter Bundesdurchgriff) sowie eine Neuordnung der Beteiligung der bundesstaatlichen Ebenen am Gesetzgebungsverfahren mit erheblicher Reduzierung der Zustimmungserfordernisse der Länder zur Folge. Wichtige Änderungen im Einzelnen:

1. Hauptstadtklausel (Art. 22 GG)
In Art. 22 GG wird festgeschrieben, dass Berlin Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und die Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt Aufgabe des Bundes ist.

2. Deutschland als Mitgliedsstaat der Europäischen Union (Art. 23 GG)
Betrifft eine Vorgabe der Europäischen Union schwerpunktmäßig ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder im Bereich der schulischen Bildung, der Kultur oder des Rundfunks, so wird in Zukunft die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik gegenüber der EU zustehen, auf ein vom Bundesrat benanntes Bundesland übertragen. Dieses Bundesland vertritt dann den Gesamtstaat, allerdings unter Beteiligung und in Abstimmung mit der Bundesregierung.

3. Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen (Art. 72 ff. GG)
Ein Herzstück der Reform liegt in der Neuordnung und verbesserten Austarierung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern. Dazu zählt die Abschaffung der Rahmengesetzgebung (Art. 75 GG). Der Gesetzgeber will zwei aufeinanderfolgende Gesetzgebungsstufen (zunächst auf der Ebene des Bundes, dann auf der Ebene der Länder) vermeiden. Das Verfassungsgebot der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet (Art. 72 GG) bleibt im Kern erhalten.

4. Die neue Abweichungsgesetzgebung des Art. 72 III GG
Die Abweichungsgesetzgebung ist ein verfassungsrechtliches Novum, das eine Ausnahme vom Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht“ (Art. 31 GG) schafft.6 Die Länder erhalten erstmals die Möglichkeit, im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung abweichende Regeln vom Bundesrecht zu treffen (Abweichungsgesetzgebung). Dies betrifft die Bereiche Jagdwesen, Naturschutz und Landschaftspflege, Bodenverteilung, Raumordnung, Wasserhaushalt sowie Hochschulzulassung und Hochschulabschlüsse. Begrenzt werden die Abweichungsräume der Länder durch die „abweichungsfesten Kerne“ des Bundes (Art. 72 III S. 1 Nr. 2 GG). Bundesgesetze in den Gebieten der Abweichungsgesetzgebung treten frühestens 6 Monate nach ihrer Verkündung in Kraft, um den Ländern eine Entscheidungsfrist über eigenes gesetzgeberisches Tätigwerden einzuräumen (Art. 72 III S. 2 GG). Abweichendes Landesrecht geht dem Bundesrecht vor, ohne dieses aufzuheben. Lex posterior derogat legi anteriori, novelliert also der Bund sein Recht nach der abweichenden Landesgesetzgebung erneut, kommt das neue Bundesrecht zur Anwendung. Von diesem novellierten Bundesrecht können die Länder ihrerseits wiederum durch nachträgliche eigene Regelung abweichen. Hebt ein Landesgesetzgeber sein abweichendes Landesrecht wieder auf, lebt das ursprüngliche Bundesrecht im Gebiet dieses Landes wieder auf.

5. Reduzierung der Zustimmungserfordernisse der Länder (Art. 84 GG)
In der bisherigen Fassung des Art. 84 I GG war als Regelfall die Ausführung des Bundesrechts durch die Länder als eigene Angelegenheit normiert, dass die ausführenden Länder die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren selbst regeln. Als Ausnahme dazu war die Regelung der Behördeneinrichtung und des Verfahrens im Bundesgesetz selbst vorgesehen, dies jedoch mit Zustimmung des Bundesrates. In der Gesetzgebungspraxis hatte sich dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis in sein Gegenteil verkehrt. Die Mehrheit der Bundesgesetze bedurfte der Zustimmung der Länderkammer, weil der Bund von der Ausnahme der direkten Regelung Gebrauch machte.7 Den Übergriff des Bundes in Landeskompetenzen hinzunehmen fiel den Ländern leicht, da sie dadurch Mitspracherechte an der Bundesgesetzgebung erkauften. Die Folgekosten solcher Gesetzgebung hatten im Endergebnis meist die Kommunen zu tragen, die an der Gestaltung der Gesetze nicht beteiligt waren und auch nicht durch Konnexitätsregelungen der Länder geschützt wurden. Diese greifen nämlich nicht, wenn ein Bundesgesetz eine Aufgabe am Landesgesetzgeber vorbei direkt den Kommunen überträgt.

6. Unterbindung der direkten Aufgabenzuweisung des Bundes an die Kommunen
Für die Städte ist dies ein zentraler Punkt: In Zukunft ist durch den neuen Art. 84 I S. 7, 85 I S. 2 GG die direkte Übertragung von Aufgaben durch den Bundesgesetzgeber an die Kommunen untersagt. In der Vergangenheit konnte der Bund den Kommunen kostenträchtige Aufgaben ohne direkten Finanzausgleich auferlegen, z. B. die Verpflichtung, allen Kindern über drei Jahren einen Kindergartenplatz bereitzustellen.

7. Finanzverfassung (Art. 104a f. GG)
Eine grundlegende Reform der Finanzverfassung des Grundgesetzes soll in einem zweiten Reformschritt ab 2007 in Angriff genommen werden.

II. Die Föderalismusreform aus kommunaler Sicht
Städte, Gemeinden und Kreise haben das Vorhaben zur Reform der bundesstaatlichen Ordnung seit jeher begrüßt und im Grundsatz unterstützt.8 Der Deutsche Städtetag hat wiederholt auf die Kernanliegen der Kommunen hingewiesen und gemahnt, die Reform nicht durch Detailforderungen unnötig zu gefährden.9 Zu den Kernanliegen zählten die Einführung eines Anhörungs- und Beteiligungsrechts der Kommunen bei kommunalrelevanten Gesetzgebungsvorhaben des Bundes, die Verbesserung der Beteiligung der Kommunen an der Gesetzesfolgenabschätzung (insbesondere der Kostenfolgeabschätzung) sowie eine Lösung des Problems der Aufgabenübertragung durch den Bund an die Kommunen ohne hinreichende Finanzierungsregelung.10

1. Anhörungsrecht und Beteiligung an der Gesetzesfolgenabschätzung
Die zentrale kommunale Forderung, ein verfassungsrechtlich abgesichertes, verbindliches Anhörungsrecht der Kommunen zu schaffen, ist durch die nun verabschiedete Reform nicht umgesetzt worden. Eine Möglichkeit dazu wäre gewesen, Art. 28 II GG um die Formulierung zu ergänzen: „Bevor durch Gesetz oder Verordnung Fragen geregelt werden, welche die Gemeinden oder Gemeindeverbände unmittelbar berühren, sind die kommunalen Spitzenverbände rechtzeitig zu hören.“11 Ein vorausschauender Gesetzgeber müsste ein Interesse daran haben, in der Vorbereitung der Gesetze den Sachverstand derjenigen Akteure auszuwerten und zu berücksichtigen, die die Gesetze im Kontakt mit den Bürgern anwenden. Dies sind die Kommunen, die als bürgernächste Vollzugsebene über umfangreiche Kenntnisse und Erfahrungen aus dem Gesetzesvollzug verfügen. Dies wäre – nicht nur im Interesse der Kommunen, sondern gerade im gesamtstaatlichen Interesse – ein bedeutender Schritt in Richtung bürgerfreundliche und praxistaugliche Gesetzgebung, mithin ein Kernziel der Föderalismusreform.

2. Unterbindung des Bundesdurchgriffs
Die Unterbindung der Aufgabenzuweisung vom Bund an die Kommunen stellt sicherlich eine Verbesserung dar. Der Bund muss Aufgaben nun zunächst den sechzehn Ländern zuweisen, die sie in Ausführungsgesetzen den Kommunen übertragen können, mit der Folge, dass die in allen Ländern geltenden Konnexitätsregeln den Kommunen einen Anspruch auf Ausgleich der entstehenden Kosten gewähren. Ob die Lösung auch in der Praxis zu einfacheren, tauglicheren Ergebnissen führt, bleibt abzuwarten. Immerhin macht sie sechzehn zusätzliche Gesetzgebungsverfahren nötig. In pragmatischer Sichtweise hätte sich die Beibehaltung des Bundesdurchgriffs mit flankierender Einführung der strikten Legislativkonnexität im Grundgesetz möglicherweise als effizienter erwiesen. Außerdem bleibt ein erhebliches Problem schlichtweg ungelöst: Die im Wege des früheren Bundesdurchgriffs bereits eingerichteten Tatbestände der direkten Aufgabenübertragung des Bundes an die Kommunen bleiben gänzlich ohne finanzielle Ausgleichsregelung.12 Sie verursachen aber einen Großteil der Belastungen der kommunalen Haushalte. Das Verbot gilt nur für Neufälle.13

III. Zusammenfassung
Die zentrale Erwartung der Kommunen, die verbindliche verfassungsrechtliche Absicherung von Anhörungs- und Beteiligungsrechten, hat sich in der Föderalismusreform leider nicht erfüllt. Die Unterbindung des Bundesdurchgriffs für die Zukunft ist dagegen eine positive Neuerung, die die konstatierte Schieflage des Grundgesetzes zu Lasten der Kommunen insoweit ins Lot bringt. Ob mit der Reform der Kompetenzkataloge, der Zustimmungserfordernisse und den weiteren Neuerungen das Ziel des Reformgesetzgebers erreicht wird, eine praxistauglichere Gesetzgebung und bessere Handlungsfähigkeit des Gesamtstaates zu gewährleisten, muss die Praxis zeigen.

Fußnoten:
1 Der Autor ist Referent beim Deutschen Städtetag.
2 Bundesgesetzblatt 2006 I, 2034 ff.

3 Positionspapier des Deutschen Städtetages „Kommunen im Bundesstaat stärken“ (2004); Keller, in: Borchard/Margedant (Hrsg.), Der deutsche Föderalismus im Reformprozess, 2006, S. 102 f.; Keller, der städtetag 2/2004, 20 (22); Deutscher Landkreistag, Der Landkreis 2004, 302; ders., Der Landkreis 2005, 170; Henneke, Der Landkreis 2004, 355 (356); Deutscher Städte- und Gemeindebund, DStGB-Dokumentation Nr. 35, S. 25.

4 Kirchhof, Gutachten D für den 61. Deutschen Juristentag 1996, S. D 87; Huber, Gutachten D zum 65. Deutschen Juristentag 2004, S. D 129 f.

5 Positionspapier des Deutschen Städtetages „Kommunen im Bundesstaat stärken“ (2004).

6 Fischer, in: Europäisches Zentrum für Föderalismusforschung Tübingen (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus 2005, S. 100 ff. (110); Kesper, NdsVBl 2006, 145 (146 f.).

7 Henneke, DVBl. 2006, 867 f.

8 Deutscher Städtetag, Beschluss H 1233 des Hauptausschusses vom 2. 6. 2006; Forderungen des Deutschen Landkreistages für die 16. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages, Der Landkreis 2005, 567 (569); Henneke, Der Landkreis 2001, 448; Deutscher Städte- und Gemeindebund, DStGB-Dokumentation Nr. 35, S. 25.

9 Articus, der städtetag 2/2006, 1.
10 Roth, der städtetag 1/2006, 9 (10 f.).

11 Vorschlag im Positionspapier des Deutschen Städtetages „Kommunen im Bundesstaat stärken“ vom 19.5.2004; Keller, in: Borchard/Margedant (Hrsg.) (o. Fn. 1), S. 114; Keller, der städtetag 2/2004, 20 (21).

12 Deutscher Städtetag, Beschluss H 1233 des Hauptausschusses vom 2. 6. 2006; Deutscher Landkreistag, Der Landkreis 2005, 10; Kesper, NdsVBl. 2006, 145 (154).

13 So stellt auch die Gesetzesbegründung die Lage dar, BR-Drs. 178/06, S. 35 f.

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