Zur Situation der Hauptschulen im städtischen Ballungsgebiet

Zur Situation der Hauptschulen im städtischen Ballungsgebiet

In den urbanen Ballungsräumen entwickeln sich die Unterstufen der allgemeinbildenden höheren Schulen zunehmend zu „undifferenzierten Gesamtschulen“, während die Hauptschulen tendenziell zu „Restschulen“ mit in den ersten Klassen sukzessive abnehmenden Schülerinnen- und Schülerzahlen werden. Am Beispiel Graz wird diese Entwicklung erläutert, eine Analyse ihrer Auswirkungen auf den Schulerhalter versucht und werden auch mögliche Perspektiven zur Diskussion gestellt.

 

Eine Bestandsaufnahme
53-48-45 – das sind nicht die sich von oben nach unten verjüngenden Maße eines etwas aus der Form geratenen Models, sondern die abnehmenden Übertrittsraten von den öffentlichen Volksschulen in die Hauptschulen in den Schuljahren 1996/97, 2001/02 und 2006/07 in Graz. Das bedeutet, dass von den Abgängerinnen und Abgängern der Volksschulen heute um 8% mehr in die AHS wechseln als noch vor 10 Jahren und damit – trotz gleichbleibender bis sogar leicht ansteigender Zahl der Schülerinnen und Schüler im schulpflichtigen Alter – die Schülerinnen- und Schülerzahlen in den Hauptschulen rückläufig sind (Grafik 1).
Diese Entwicklung wird durch einen Vergleich der Anzahl der Schülerinnen und Schüler, die von der Volksschule abgehen, mit der, die im folgenden Schuljahr eine Hauptschule besuchen, noch verdeutlicht: stieg die Schülerinnen- und Schülerzahl in den vierten Klassen der Volksschulen in den letzten zehn Jahren von 1.728 auf 1.886 (also um 158), sank sie in den ersten Klassen der Hauptschulen im gleichen Zeitraum von 908 auf 825 (das sind minus 83; Grafik 2).
Aus diesem Grund musste die Stadt bereits vor zwei Jahren einen Hauptschulstandort aufgeben und von den verbliebenen können mittel- bis langfristig keineswegs alle als gesichert angesehen werden.
Der negative Trend könnte in den nächsten Jahren noch verstärkt werden, da die Zahl der Schulanfängerinnen und -anfänger nach einem Höhepunkt im Schuljahr 2003/04 in den beiden Folgejahren stark rückläufig war und erst 2006/07 eine Stabilisierung eingetreten ist. Für die nächsten Jahre sind somit insgesamt weniger Schülerinnen und Schüler für die Sekundarstufe zu erwarten (Grafik 3).
Doch nicht nur die quantitative Entwicklung ist bedenklich. Da alle Volksschülerinnen und -schüler (bzw. deren Eltern) danach streben, in einer AHS aufgenommen zu werden, bleiben aufgrund der dort möglichen Selektion für die Hauptschulen vorwiegend Kinder mit Benachteiligungen, meist soziokultureller Natur, übrig. Zusätzlich strömen dann in der siebenten und achten Schulstufe Schülerinnen und Schüler, die den Anforderungen der AHS nicht entsprechen können, vor allem solche mit Verhaltensauffälligkeiten, in die Hauptschulen zurück und belasten dort oftmals das Klassenklima.
Die geringere Zahl der Anmeldungen für die ersten Klassen der Hauptschulen in Verbindung mit den AHS-Rückläufern in den höheren Schulstufen führt dazu, dass im laufenden Schuljahr 2006/07 in den vierten HS-Klassen insgesamt 256 Schülerinnen und Schüler mehr als in den ersten Klassen sitzen – vor 10 Jahren betrug diese Differenz lediglich 89 Schülerinnen und Schüler (Grafik 4).
Diese „Rückfluter“ aus der AHS bewirken, dass trotz der Übertrittsrate von nur 45% insgesamt 49% der 10- bis 14-Jährigen in den Hauptschulen unterrichtet werden.
Setzt sich diese Entwicklung mit der gleichen Tendenz fort, könnte eine achtklassige Hauptschule in Zukunft so organisiert sein: eine erste, eine zweite, zwei dritte und vier vierte Klassen (Grafik 5).
Dass unter diesen Umständen dennoch gute pädagogische Erfolge erzielt werden, grenzt fast an ein Wunder und ist nur durch den großen Einsatz der dort tätigen Pädagoginnen und Pädagogen möglich. Dennoch sind die negativen Auswirkungen nicht zu übersehen: Leistungs- bis Schulverweigerung, damit verbundene mangelnde Qualifikation (siehe Ergebnisse von PISA 2003) und geringe Chancen am Arbeitsmarkt, soziale Segregation.

Zur Grazer Schullandschaft
Graz wird durch die Mur in zwei annähernd gleiche Hälften geteilt, die auch jeweils einem Schulaufsichtsbereich entsprechen. Am rechten Murufer befinden sich u. a. die ehemaligen Arbeiterwohngebiete und die Stadtteile mit dem höchsten Anteil an Migrantinnen- und Migrantenfamilien, das linke Murufer umfasst neben dem Stadtzentrum auch die Universitäten, bürgerliche Wohngebiete und die sogenannten „Villenviertel“.
Dementsprechend ist auch die Schullandschaft gestaltet: während die öffentlichen Volks- und Hauptschulen relativ bzw. absolut gleichmäßig auf rechtes und linkes Murufer verteilt sind, befinden sich private Volksschulen und AHS-Langformen vorwiegend links der Mur (Grafik 6).
Differenziert man die Schülerinnen und Schüler in der AHS-Unterstufe und den Hauptschulen nach der Muttersprache (deutsch oder nicht deutsch), ergibt sich eine deutliche Schieflage:
Kinder mit deutscher Muttersprache besuchen zu 57% eine AHS, Kinder mit nicht deutscher Muttersprache lediglich zu 30%. Migrationshintergrund bedeutet somit erschwerter Zugang zu höheren Bildungschancen (Grafik 7).

Mögliche Auswirkungen auf die Stadt als Schulerhalterin
Nimmt man diese Entwicklung zur Kenntnis, würden die Hauptschulstandorte zuerst weiter schrumpfen und schließlich in ihrer Zahl reduziert werden müssen. Die noch verbleibenden Hauptschulen würden zu Schulen mit fast ausschließlich Kindern, die aufgrund unterschiedlicher Defizite sonderpädagogischer Fördermaßnahmen bedürfen. Demgegenüber entwickelten sich die Unterstufen der AHS zu echten „Gesamtschulen“ mit allerdings nicht differenziertem Unterrichtsangebot.
Dem aus rein finanzorientiertem Blickwinkel des Schulerhalters heraus gesehenen Kostenvorteil einer möglichen Auflassung von Schulobjekten stünden überwiegend negative Auswirkungen auf die Sozialstruktur des Gemeinwesens gegenüber.
Ein Schulsystem, welches den gesellschaftlichen Grundanforderungen in Bezug auf die Parameter
- Sicherung allgemeiner Zugänglichkeit aller schulischen Angebote (Versorgungsdichte),
- Erwerb möglichst hoher Qualifikationen durch möglichst viele Menschen (maximale Förderung),
- Chancengerechtigkeit (Kompensation von Benachteiligungen),
- Integration (Vermeiden sozialen Ausschlusses) und
- Fairness bei der Vergabe von Berechtigungen
nicht überwiegend entsprechen kann, schöpft das Bildungspotenzial nicht voll aus und verschärft gesellschaftliche Disparitäten, vermittelt somit seinen Absolvierenden unterschiedliche Lebensbewältigungschancen. Darunter leidet letztendlich auch die Standortattraktivität und mit dieser die Lebensqualität in diesem Gemeinwesen.

Mögliche Perspektiven
Dieses zugegeben etwas drastische Szenario ist nicht unabwendbar, wenn korrigierende Eingriffe in das Schulsystem, insbesondere in den großen Städten, zugunsten von mehr Chancengerechtigkeit vorgenommen werden.
Dazu zählen sicherlich die bereits im Programm der neuen Bundesregierung enthaltenen Maßnahmen, wie die Verstärkung des vorschulischen Bildungsangebotes, die Intensivierung der frühen Sprachförderung, der Ausbau der ganztägigen Schulformen und die Forcierung der Qualitätssicherung der Schulen (Einführung von Bildungsstandards).
Vor allem aber ist Handlungsbedarf dahingehend gegeben, auch im Rahmen der bestehenden Schulgesetze neue Kooperationsmodelle zwischen Hauptschulen und allgemeinbildenden höheren Schulen zu schaffen.
Ziel dieser Kooperation sollte sein:

1. Förderung der individuellen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler mittels durchgehend differenziertem Unterricht und

2. Vermeidung, zumindest Abschwächung der entwicklungsphysiologisch und bildungspolitisch kontraproduktiven frühen Selektion nach der vierten Schulstufe.

Wenn es zusätzlich gelingen sollte, mit Hilfe von Bund und Ländern eine Ganztagesbetreuung für Schülerinnen und Schüler ohne Kostenbelastung der Eltern zu installieren, könnten die Städte auch für ihre Schulen zuversichtlich in die Zukunft blicken.

Fehlende Grafiken finden Sie in der ÖGZ 5/2007!

OEGZ

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