Festvortrag von Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Karl Korinek Präsident des Verfassungsgerichtshofes „Zu Stand und Notwendigkeit einer Verfassungsreform in Österreich und Europa“

Festvortrag von Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Karl Korinek Präsident des Verfassungsgerichtshofes „Zu Stand und Notwendigkeit einer Verfassungsreform in Österreich und Europa“

Festvortrag von Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Karl Korinek

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Verfassung ist ihrer Funktion nach rechtliche Grundordnung des Staates. Sie bestimmt – so hat das Aristoteles in seiner „Politeia“ geschrieben – die gesamte Struktur der öffentlichen Ordnung eines Staates. Verfassung ist Ordnung der öffentlichen Gewalt, im Besonderen der höchsten staatlichen Gewalt, von der jede andere Gewalt abgeleitet ist. Sie ist oberste Grundlage für staatliches Handeln, und sie fixiert die Stellung des Einzelnen im und gegenüber dem Staat.
Auch die österreichische Bundesverfassung entspricht diesem Muster. Sie enthält zum einen Bestimmungen über die Einrichtung der Pflege der Staatsgewalt und die Staatswillensbildung und regelt die Ausübung der Staatsgewalt und ihre Kontrolle. Und in einem Bundesstaat zählen vor allem die Aufteilung der Aufgaben zwischen dem Bund und den Ländern und die Aufteilung der Finanzen zur Besorgung der Aufgaben zu den zentralen Elementen.
Zum anderen erhebt die Verfassung den Anspruch, das Gesetzesrecht und darüber auch alle übrigen staatlichen Aktivitäten zu pflegen und zu beeinflussen. Sie bindet die Staatsorgane an bestimmte materielle Vorgaben und gibt dem Bürger die Gewähr, dass der Staat diese Vorgaben einhält, durch das umfassende Rechtsstaatsprinzip einerseits und die Gewährleistung von Grundrechten andererseits.
All das gilt zunächst nur für den Staat. Der Sache nach stellen sich aber in einer supranationalen Organisation wie der Europäischen Union ähnliche Fragen. Auch hier müssen die Ausübung der Gewalt und deren Kontrolle geregelt werden, und auch hier gilt es, den Gemeinschaftsorganen einen inhaltlichen Rahmen für ihr Handeln vorzugeben und die Position des Einzelnen gegenüber den Autoritäten der Union zu fixieren. Das geschieht durch die Verträge, liegt also in der Dispositionsgewalt der Mitgliedstaaten. Was im Staat typischerweise von einer qualifizierten Mehrheit zu leisten ist, das ist in der Europäischen Union Sache der Mitgliedstaaten. Ob man das jetzt als Verfassung bezeichnet, ist nicht so wichtig. Der Sache nach sind die Aufgaben ähnlich.
Ganz große Bedeutung kommt bei der supranationalen Organisation naturgemäß jenen Bestimmungen zu, mit denen ihr Aufgaben zur Besorgung übertragen werden. Denn dabei geht es um mehr als um eine technische Zuordnung von Kompetenzen. Dabei geht es um die Übertragung von Souveränitätsrechten des Staates.
Ich lade Sie nun ein, meine Damen und Herren, mit mir über das Thema in zwei Schritten nachzudenken, erstens – etwas länger – über die Frage der Notwendigkeit einer Verfassungsreform in Österreich und zweitens über die Frage der Notwendigkeit entsprechender Reformschritte in der Europäischen Union.
Die österreichische Verfassung, die 1920, von einem breiten Konsens getragen, beschlossen wurde und 1945, von einem ebenso breiten Konsens getragen, nach 12-jähriger Verdrängung wieder in Kraft gesetzt wurde, hat sich als Grundordnung unseres Staates an sich bewährt. Es bedarf keiner neuen Verfassung, und es hat ihrer auch nicht bedurft, als vor vier Jahren der Österreich-Konvent einberufen wurde. Die österreichische Verfassung bietet die Basis für eine intakte Demokratie, sie gewährleistet eine rechtsstaatliche Ordnung und sie sichert eine effiziente Grund- und Menschenrechtsgarantie.
Dennoch darf man nicht übersehen, dass die Verfassung in vielen Punkten verbesserungsbedürftig ist. Das betrifft zunächst den äußeren Zustand unserer Verfassung. In meinem Verfassungsrechtskommentar brauchen wir 2.400 Seiten, nur um den Text des geltenden Bundesverfassungsrechts einschließlich der Verfassungsgesetze und Verfassungsbestimmungen in Staatsverträgen beziehungsweise Staatsverträge im Verfassungsrang wiederzugeben. Kaum ein Mensch, der auf diese Verfassung vereidigt ist, kann sie jemals gelesen haben. – Das ist ein unerträglicher Zustand!
Das haben auch schon viele beklagt, und viele maßgebliche Personen haben angekündigt, dass eine Bereinigung beziehungsweise zumindest eine Verbesserung der Situation erfolgen wird.
Ich hatte beim Österreich-Konvent einen Ausschuss zu leiten, der sich mit diesen Fragen zu befassen hatte. In ungeheurer Arbeit haben wir alle Verfassungsgesetze und Verfassungsbestimmungen durchgearbeitet. Der Präsident des Verwaltungsgerichtshofs Jabloner hat mir dort einmal gesagt: Zum ersten Mal in meinem Leben lese ich die Verfassung wirklich in allen Details, und das mit dem Ziel, sie zu beseitigen.
Wir haben Verfassungsgesetze und Verfassungsbestimmungen durchgearbeitet und Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt, zum Großteil sogar schon formuliert. Wie Sie wissen, zieht sich jedoch die Realisierung in die Länge. Die nunmehr für die Staatsreform eingesetzte Expertengruppe hat aber immerhin für Teilbereiche schon Vorschläge vorgelegt.
Aber auch materiell ist die Verfassung verbesserungsbedürftig, und mit diesen materiellen Fragen möchte ich mich nun kurz beschäftigen: Aus dem Bereich des Staatsorganisationsrechts möchte ich drei Themen herausgreifen, und zwar erstens die bundesstaatliche Kompetenzverteilung. In der gegenwärtigen Situation leiden wir unter Unübersichtlichkeit und Zersplitterung und auch darunter, dass die Kompetenzen zwischen Bund und Ländern sehr kleinräumig aufgeteilt sind. Es sind daher sinnvolle Regelungen der Kompetenzverteilung notwendig. Die geltende Kompetenzverteilung ergibt sich aus acht Artikeln im Bundes-Verfassungsgesetz, weiters aus dem Finanz-Verfassungsgesetz und Dutzenden Verfassungsbestimmungen in Bundesgesetzen, die ihrerseits häufig auf die inhaltliche Regelung der Gesetze verweisen und nur gemeinsam mit ihnen zu verstehen sind.
Nur mit Mühe gelingt es, die verschiedenen ineinander verstrickten Kompetenzzuweisungen zu verstehen, und noch mühevoller ist in der Folge das Zusammensetzen dieser Detailregelungen zu sinnvollen Einheiten.
Das Ganze erinnert mich immer an ein aus hundert kleinen Teilen bestehendes Mosaik, das durch mehrere Erdbebenstöße durcheinander gebracht wurde und an dessen Ordnung offensichtlich kein besonderes Interesse besteht.
In manchen Bereichen, etwa im Energierecht, gelingt das Zusammensetzen – mir zumindest – überhaupt nicht. Ich wäre nicht in der Lage, in einer Vorlesung das Kompetenzsystem des österreichischen Energierechts übersichtlich zu erläutern, obwohl ich mich seit Jahrzehnten auch um dieses Rechtsgebiet in Forschung, Lehre und Judikatur bemüht habe; vielleicht auch gerade deshalb nicht!
Was Not täte, wäre die Schaffung von großflächigen Kompetenzbereichen. Der Konvent hat das nicht geschafft, und sehr ermutigend sind auch die Signale aus der Verfassungsreform-Arbeitsgruppe nicht. Jetzt besteht sogar die Gefahr, dass die in vielfacher Hinsicht wertvolle einheitliche Gebarungskontrolle durch den Rechnungshof angetastet wird und so auch in diesem Bereich noch bestehende Einheitlichkeiten verloren gehen.
Dass all das sehr umstritten ist, darf auch gar nicht verwundern: Es geht dabei um die Gestaltungsmöglichkeiten und damit darum, Einflusssphären und Machtbereiche auf verschiedene staatliche Ebenen und Organe aufzuteilen. Die Kompetenzverteilung war immer schon – etwa in den Diskussionen der Konstituierenden Nationalversammlung – der härteste Brocken. Hier bedürfte es der Gestaltungskraft von Spitzenfunktionären des Bundes und der Länder, die sich persönlich in vermutlich stundenlangen Diskussionen zusammenraufen und die politische Kraft haben, auf Teilkompetenzen im Interesse größerer Einheiten zu verzichten und das auch in ihren jeweiligen Bereichen – also auf Ebene des Bundes und der Länder – und in den jeweiligen politischen Gruppierungen durchzusetzen, wie das seinerzeit – um die wichtigsten Namen der Verfassungsreformdiskussion der Jahre 1918 bis 1920 zu nennen – ein Mayr, ein Seipl, ein Danneberg und ein Otto Bauer selbst zustande gebracht haben.
Zum Zweiten ist die Situation im Bereich der Verwaltungsorganisation zu nennen, die insbesondere aufgrund der verfassungspolitischen Entwicklung der vergangenen 10 bis 15 Jahre in hohem Maße der ordnenden Hand des Verfassungsgesetzgebers bedarf. Was hier bei den Ausgliederungen und Beleihungen, etwa bei der Schaffung von Regulatoren oder Kontroll- und Aufsichtsbehörden, in letzter Zeit passiert ist, ist überhaupt nicht mehr nachzuvollziehen. Man hat Elemente des amerikanischen Agency-Konzepts übernommen, hat es aber in unser Verwaltungssystem nicht wirklich eingepasst. Der Verfassung liegt für diese Art von Behörden gar kein bestimmtes Organisationskonzept zugrunde: FMA, Energie-Control, Zivildienst Service GmbH, Austro Control, RTR, Bundesfinanzierungsagentur und viele andere Einrichtungen auch im Bereich der Privatwirtschaftsverwaltung zeigen ein wildes Durcheinander von Organisationsformen.
Wir haben eine wesentlich größere Zersplitterung und Unübersichtlichkeit in der Verwaltung als vor der Zeit der mariatheresianischen Behördenreform. Staatsmänner oder – wie der historische Bezug zeigt – auch -frauen wären gefordert, hier eine verfassungsrechtliche Struktur für derartige Behörden beziehungsweise Einrichtungen zu schaffen, in der vor allem auch die verfassungspolitisch zentralen Fragen der Rückkopplung des Handelns solcher Einrichtungen an die Obersten Organe und der politischen Verantwortlichkeit, insbesondere gegenüber dem Parlament, zu regeln wären.
Meine Damen und Herren! Man hat ja nicht nur organisatorisch ausgegliedert, sondern man hat auch die demokratische Legitimation dieser vielen ausgegliederten Einrichtungen reduziert. Viele haben die Warnungen, die von der Wissenschaft immer wieder gekommen sind, nicht beachtet und waren dann überrascht, dass auf diese Weise etwa die parlamentarische Kontrolle stark eingeschränkt wurde.
Es ist bekannt, dass ich kein Freund dieser vielen ausgegliederten Sonderbehörden und Einrichtungen bin. Aber wenn man schon glaubt, solche andersartige Einrichtungen schaffen zu müssen, dann soll man wenigstens einheitliche Strukturen schaffen! Zudem soll man sich klar dafür entscheiden, ob man Verantwortlichkeiten gegenüber den Obersten Organen und insbesondere gegenüber dem Parlament haben will und wie man sie ausgestaltet oder ob man die Parlamente auch diesbezüglich ausdünnen möchte. Ich habe ein bisschen Angst, dass wir im Bereich der Gesetzgebung immer mehr Kompetenzen an übergeordnete Autoritäten der Europäischen Union verlieren und im Hinblick auf die Kontrolle der Verwaltung immer mehr Kontrollbefugnisse aufgeben, weil die Verwaltung durch weisungsfreie ausgegliederte Einrichtungen besorgt wird. – Das sind verfassungspolitisch zentrale Fragen, die einer entsprechenden verfassungsrechtlichen Regelung bedürfen.
Als dritter Punkt im Bereich des Staatsorganisationsrechts ist der wahrscheinlich leichter lösbare Komplex der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle zu nennen. Hier ist der politische Konsens betreffend die Schaffung erstinstanzlicher Verwaltungsgerichte auf Bundes- und Landesebene ziemlich groß. Es gibt bereits einen diesbezüglichen Entwurf, der freilich noch Schwächen hat. Es gilt da auch einige Probleme zu lösen, wobei ich auf eines aus aktuellen Gründen hinweisen möchte.
Die Schaffung eines Asylgerichts oder – was sicherlich sinnvoller wäre, weil man dann über die persönlichen Ressourcen des Gerichts besser nach Bedarf disponieren könnte – der Einbau einer Asylgerichtsbarkeit ins geplante Bundesverwaltungsgericht ist dringend geboten, und die Zeit drängt. Natürlich dürfte man dem Verwaltungsgerichtshof nicht die Kompetenz zur Kontrolle – wohlgemerkt: zur Kontrolle! – in einem Teilbereich der Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts nehmen, auch nicht im Bereich des Fremdenrechts oder des Asylrechts. In der öffentlichen Diskussion wird ja heute vom Verwaltungsgerichtshof als weiterer Instanz gesprochen, was natürlich nicht stimmt und zeigt, dass da Leute mitreden, die keine Ahnung haben oder bewusst irreführen wollen. Aber eine ordentliche Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz würde dem Verwaltungsgerichtshof die Möglichkeit geben, bei ordentlichen Bescheiden aus Gründen der Aussichtslosigkeit die Behandlung abzulehnen, und das würde natürlich in hohem Maße verfahrensbeschleunigend wirken.
Auch dort, wo es um die Festlegung der normativen Wertordnung für das Zusammenleben der Menschen geht, gibt es eine große Anzahl von verfassungsrechtlichen Normen außerhalb der Verfassungsurkunde, vom Umweltschutz über die Substanzsicherung der Bundesforste bis zu den Vorschriften zur Reduzierung des Energieverbrauchs beim Betrieb elektrischer Anlagen, von Minderheitenschutz bis zum Universitätsrecht. Es gibt eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Blutabnahme, es gibt Verfassungsvorschriften über sonderpädagogische Maßnahmen oder die Stellung von Forstaufsichtsorganen bei festgestellter Bewuchsgefährdung und Dutzende andere Bestimmungen dieser Art. – Ich kann nichts dafür, das ist so! Ich treffe nur den Hinweis, dass man auch hier nicht umhin können wird, den Bestand an Sonderverfassungsrecht zu bereinigen.
Ansprechen möchte ich auch die Beziehungslinien zwischen dem Staat und dem Bürger. Herkömmlicherweise unterscheidet man drei verschiedene Beziehungslinien, die Freiheitsrechte, die politischen Gestaltungsrechte und die Position eines sogenannten „Status positivus“, also Ansprüche an den Staat, insbesondere im Zusammenhang mit sozialen Grundrechten, die in der Diskussion im letzten Jahrzehnt zunehmend artikuliert wurden.
Lassen Sie mich zu diesen drei Verfassungsreformanliegen nur ein paar kurze Bemerkungen machen: Betreffend die Grund- und Menschenrechte ist zunächst festzuhalten, dass die gegenwärtige Situation auf dem Papier höchst verwirrend ist. In Österreich gibt es keinen einheitlichen Grundrechtskatalog, die Grundrechtspositionen erfließen aus unterschiedlichen Rechtsquellen ganz unterschiedlicher Entstehungszeit, teilweise aus genuin österreichischem Verfassungsrecht aus der Mitte des vorletzten Jahrhunderts, teilweise entstammen sie völkerrechtlichem Vertragsrecht.
Diese Situation macht den Wunsch nach einer Kodifikation verständlich. Von der Sache her wäre das natürlich wünschenswert, wenn es auch nicht zwingend erforderlich ist. Die verfassungsgerichtliche Judikatur hat Jahrzehnte hindurch die Grundrechtsverbürgungen im Einzelnen entfaltet und einen effektiven und wirksamen Grundrechtsschutz entwickelt.
Vor allem ist eine Kodifikation kein ganz leichtes Unterfangen, denn aufgrund dessen, dass aus verschiedenen Rechtsquellen geschöpft wurde, waren der Stil und die Detailgenauigkeit der Grundrechte sehr unterschiedlich. Hier Einheitlichkeit zu erreichen, ohne unbeabsichtigt Grundrechtspositionen zu verändern, ist gar nicht einfach.
Betreffend den sogenannten Status activus der Bürger, also deren demokratische Rechte, hat die Bundesregierung schon einige Reformen vorgeschlagen. Der Herr Innenminister hat bereits über die Senkung des Wahlalters berichtet, und der Herr Bundespräsident hat über die Verlängerung der Legislaturperiode gesprochen.
Auch die Briefwahl wurde schon angesprochen. Hier rate ich allerdings zu größter Vorsicht. Die Prinzipien des geheimen und persönlichen Wahlrechts sind hohe demokratische Güter. Denken wir ein bisschen zurück an die Wahlmanipulationen, Einschüchterungen und an den Stimmenkauf vergangener Zeiten! Oder denken wir schlicht an die Volksabstimmung vom 10. April 1938: Dann wird uns die Bedeutung dieser Prinzipien bewusst werden! Ich bin glücklich, dass ich in einem Staat leben darf, in dem die persönliche und geheime Stimmabgabe so gesichert ist wie bei uns!
Das sollte man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, und es beunruhigt mich, wenn ich an die Möglichkeiten des E-Vote denke!
Betreffend Ansprüche an den Staat etwa bei der Verbürgung sozialer Grundrechte hat man einen weitgehenden Konsens erzielt, aber hier gilt es vor allem, adäquate Regelungen zur Durchsetzbarkeit zu schaffen. Wir müssen uns davor hüten, alles der Gerichtsbarkeit zu übertragen, aber auch davor, Formulierungen in die Verfassung aufzunehmen, die nicht durchsetzbare Programme bleiben. Es wurden einige Modelle im Konvent entwickelt, die meines Erachtens durchaus verfolgenswert sind.
Es gilt also, wenn ich das zusammenfassen darf, in einigen Bereichen einen verfassungspolitischen Handlungsbedarf zu befriedigen. Wir brauchen keine neue Verfassung, wir brauchen aber sehr wohl Teilreformen. Die Regierung scheint das auch so zu sehen, die Vorarbeiten werden mit einer – übrigens sehr kompetent besetzten – Arbeitsgruppe zügig vorangetrieben, und die Konstellation einer Koalitionsregierung auf breiter Basis wäre ja für eine Reform sehr geeignet.
Betreffend die sogenannte EU-Verfassung beginnen die Missverständnisse schon im Sprachlichen. Täglich wird gefragt: Kann eine supranationale Organisation überhaupt eine Verfassung haben, oder ist der Begriff für Staaten reserviert?
Der Gedankengang ist, verkürzt dargestellt, folgender: Verfassungen gibt es nur für Staaten. Wenn daher ein Gemeinwesen eine Verfassung hat, dann erhebt es den Anspruch, ein Staat zu sein. Da die weitaus überwiegende Meinung dahin geht, die EU sei kein Staat und soll auch kein eigener Staat werden, sperrt man sich gegen eine Verfassung. In Frankreich ist die Wurzel dieser besonders ausgeprägten Haltung wohl das traditionell starke Souveränitätsdenken der französischen Staatslehre, und auch unsere deutschen Freunde denken hier meist theoretischer als pragmatisch.
Die Basis dieses Gedankengangs ist natürlich richtig. Die EU ist kein Staat und sollte auch keiner werden. Die zentralen Träger der öffentlichen Gewalt sollen die Mitgliedstaaten bleiben. Sollten die Mitgliedstaaten einmal zu Teilstaaten eines Zentralstaats Europa werden, würde das in Österreich jedenfalls eine Gesamtänderung unserer Verfassung notwendig machen, was einer Volksabstimmung bedürfte.
Aber der bloße Streit um die Begriffe bringt uns nicht weiter. Er verdrängt die inhaltliche Diskussion. Zu Recht wurde in Österreich mehrheitlich die Auffassung vertreten, dass die EU zwar keine Verfassung im formellen Sinn hat, dass das Primärrecht, also insbesondere die Verträge, wohl aber der Sache nach ähnliche Funktionen erfüllen, nämlich eine Grundlage für das Funktionieren der Union zu sein und die Aufgaben zwischen der Union und den Mitgliedstaaten aufzuteilen.
In diesem Sinn hat die EU natürlich eine Verfassung, und es stellen sich alle Fragen nach einer guten Verfassung, die sich in einem Staat stellen, auch im Hinblick auf die EU. Eben deshalb hat es ja den Konvent gegeben, der den Vertrag einer Verfassung für Europa ausgearbeitet hat, und deshalb haben ihn alle Mitgliedstaaten unterzeichnet und zwei Drittel auch ratifiziert.
Derzeit scheint sich folgendes Szenario abzuzeichnen. Man will einiges aus dem Verfassungsvertrag retten. Das ist gut so, und jeder Satz, den der Herr Bundespräsident hier gesagt hat, soll unterstrichen werden. Man möchte einerseits den Begriff der Verfassung eliminieren und andererseits das Vertragswerk von einigen Regelungen und vor allem auch von einigen Details befreien. Während das erste Vorhaben, nämlich die Eliminierung des Wortes „Verfassung“, in Wahrheit kein Problem darstellen kann, eröffnet das zweite Vorhaben natürlich wiederum inhaltliche Diskussionen. Denn eine solche Verfassung lässt sich ja nicht so realisieren, dass die Mitgliedstaaten, die den Vertrag noch nicht ratifiziert haben, jetzt eine andere Verfassung ratifizieren. Selbstverständlich muss diese Ratifikation denselben Vertrag betreffen.
Es müsste also – auch der Präsident der Kommission hat das vor einigen Tagen ganz deutlich gesagt – ein reduzierter Vertragstext erarbeitet und neuerlich von allen Mitgliedstaaten unterschrieben werden, und diese neue Vertragsfassung müsste einem neuen Ratifikationsverfahren in allen Staaten unterzogen werden, auch in jenen, die den Vertrag in seiner derzeit unterschriebenen Fassung schon ratifiziert haben, also auch in Österreich.
Sollte aber die inhaltliche Diskussion neuerlich eröffnet werden, so kann sie natürlich – darauf hat der Herr Bundespräsident schon hingewiesen – nicht nur von Mitgliedstaaten geführt werden, die noch nicht ratifiziert haben. Unter diesem Aspekt ist es durchaus legitim, sich im Hinblick auf die europäische Verfassung auch die Frage zu stellen, ob die derzeit diskutierte Fassung des Vertrags die wesentlichen Punkte trifft. Wir haben eingangs festgestellt, dass eine supranationale Organisation in der Art der Europäischen Union eine Grundlage in dreifacher Hinsicht braucht: Es muss – und das halte ich für das Allerwichtigste – das Verhältnis der Union zu den Mitgliedstaaten geregelt sein. Es müssen die Strukturen und Vorgangsweisen jener Organe festgelegt werden, die für die Union handeln sollen. Und es müssen bestimmte inhaltliche Fragen geregelt werden, insbesondere die Beziehung der Union zu den Unionsbürgern.
Herr Bürgermeister Häupl hat heute schon darauf hingewiesen, wie wichtig auch für die Städte und Gemeinden einzelne dieser Grundlagen sind, die im Verfassungsvertrag formuliert sind; er hat in diesem Zusammenhang die Daseinsvorsorge genannt. Der Bundeskanzler hat vor einigen Tagen und der Herr Bundespräsident hat heute auf die Wichtigkeit einer Grundrechtsverbürgung gegenüber dem EU-Recht hingewiesen. Ich kann all das nur unterstreichen.
Aus Zeitgründen möchte ich nur auf einen Teilaspekt verweisen, der ganz wichtig ist, meines Erachtens aber zu wenig diskutiert wurde, nämlich auf das Verhältnis der Mitgliedstaaten zur Union. Diesbezüglich gibt es im Vertrag einen eklatanten Widerspruch, und dieser sollte jedenfalls bereinigt werden. Während in Art. I.11 der Grundsatz der Subsidiarität beschworen und festgestellt wird, dass für die Zuständigkeit der Union der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gilt, konterkarieren die folgenden Zuständigkeitsbestimmungen dieses Prinzip geradezu. Im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit – das betrifft im Wesentlichen die Zollunion, die Wettbewerbsregeln, die Währungspolitik und die gemeinsame Handelspolitik – gibt es überhaupt nur Unionszuständigkeit.
Was aber noch schwerer wiegt, ist der Bereich der sogenannten geteilten Zuständigkeit, denn hier gibt es ganz im Gegensatz zur Deklaration des Subsidiaritätsprinzips eine Prärogative des Gemeinschaftsgesetzgebers. Zum Bereich der geteilten Zuständigkeit gehört der größte Teil des geltenden Gemeinschaftsrechts, etwa der Binnenmarkt, die Sozialpolitik, die Landwirtschaft, das Umweltrecht, Verkehr und Energie.
Zum anderen betrifft das den sogenannten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem die Europäische Union die Kompetenz zur Festlegung verbindlicher strategischer Vorgaben für die gesetzgeberische Planung in den Ländern hat, und zwar insbesondere auch im Bereich der Sicherheitspolitik, der Zuwanderung und des Asylrechts.
Für diesen großen Bereich der geteilten Zuständigkeit bestimmt Art. I.12, dass die Mitgliedstaaten ihre Kompetenz wahrnehmen dürfen, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat oder entschieden hat, diese nicht mehr auszuüben. – Meine Damen und Herren! Das bedeutet, dass für all die genannten Bereiche mitgliedstaatliche Gesetzgebungsakte nur zulässig sind, wenn die Gemeinschaft nicht die Gesetzgebung an sich zieht. Das kann sie, und das ist meines Erachtens das Gegenteil von Subsidiarität!
In der konstatierten Widersprüchlichkeit liegt natürlich ein großes Potenzial für politisch-rechtliche Auseinandersetzungen. Im Streitfall müsste der Europäische Gerichtshof entscheiden, der es ja bislang weitgehend abgelehnt hat, als Kompetenzgericht zu agieren, obwohl das sicherlich zu seinen Zuständigkeiten gehört. – Freilich: Solche Fragen gerichtlich entscheiden zu lassen und große Verzögerungen nur für die Klärung von Zuständigkeiten in Kauf zu nehmen, ist nicht wirklich sinnvoll. Das sind in Wahrheit politische Aufgaben und Entscheidungen.
Herr Bundespräsident! Meine Damen und Herren! Ich bin damit am Ende meines Referates angelangt. Dass das kein Festvortrag wurde, wie es der Herr Bürgermeister angekündigt hat, sondern eine nüchterne, in manchen Punkten kritische Zwischenbilanz war, liegt am Thema. Außerdem entspricht das meinem Anliegen, Verfassungsreformdiskussionen vom Bekenntnishaften ins Inhaltliche zu retten. Denn mit jeder Verfassungsreform, sei es nun in der EU oder sei es in einem Mitgliedstaat, wird über die Fragen unseres Zusammenlebens entschieden, und das sind eminent wichtige inhaltliche Fragen.

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