PSO-Verordnung: Neue Rechtsgrundlage für Europas Nahverkehr

PSO-Verordnung: Neue Rechtsgrundlage für Europas Nahverkehr

Was lange währt, wird endlich – zumindest fertig. Seit sieben Jahren basteln EU-Kommission, Rat und Parlament an einer Reform der europäischen Nahverkehrsfinanzierung. Herausgekommen ist ein erträglicher Kompromiss mit Schönheitsfehlern.

 

Als am 10. Mai 2007 die Mitglieder des Europäischen Parlaments die Hände hoben, beendeten sie einen der längsten Gesetzgebungsprozesse der EU-Geschichte. Die EU-Verordnung über „Öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße“ war in zweiter Lesung beschlossen. Wenige Tage später bekundete der Rat, den Beschluss in zweiter Lesung ebenfalls anzunehmen. Damit hat Europa einen neuen Rechtsrahmen für gemeinwirtschaftliche Leistungen im öffentlichen Verkehr. Auch in Österreich dürfte es Anpassungen brauchen.

EU-Rechnung: 1191/69 bis C6-0042/2007 = 39 Jahre
Die bis jetzt gültige Verordnung 1191/69 (geringfügig novelliert 1991) ist mit einer Novellierung fast vier Jahrzehnte alt geworden. Die damals vorherrschenden Nahverkehrsdienste waren entweder gewinnbringend oder städtische Verkehrsbetriebe, deren Verluste einfach öffentlich ausgeglichen wurden. Ziel der VO 1191 war es, Transparenz zu schaffen: Statt Verlustabgeltung sollten gemeinwirtschaftliche Leistungen vereinbart und die dadurch entstehenden Kosten abgegolten werden. Über die Art der Vergabe sagte die VO 1191/69 kaum etwas.
Im Jahr 2000, mit der Binnenmarktstrategie im Rücken, versuchte die EU-Kommission den „großen Wurf“ (COM 7/ 2000): Verkehrsdienste seien Dienstleistungen wie jede andere, und sie gehörten ausgeschrieben wie jeder andere öffentliche Auftrag. Der Vorschlag stieß auf erbitterten Widerstand. Insbesondere die großen Städte (organisiert in der MMG – Major Metropolitan Group) und die Transportgewerkschaften forderten Wahlfreiheit, ob eine Leistung selbst erbracht, direkt vergeben oder ausgeschrieben wird. Das EU-Parlament zerzauste die Vorlage mit 69 Änderungsanträgen arg. Die Kommission ignorierte das Parlament, verwarf einen Großteil der Abänderungen und legte fast das deckungsgleiche Originaldokument dem Rat vor (COM 107/2002). Der Verkehrsministerrat konnte sich jahrelang nicht einigen und schob das Projekt auf die lange Bank.
Im Jahr 2005, mittlerweile durch das EuGH-Urteil „Altmark Trans“1 mürbe gemacht, brachte die EU-Kommission einen deutlich entschärften Entwurf in den Rat (COM 319/2005), und plötzlich war eine Einigung möglich. Nun war es allerdings das EU-Parlament, das eine radikale Liberalisierung anstrebte, denn die Europawahl 2004 hatte eine konservativ-liberale Mehrheit gebracht. Das Parlament scheiterte jedoch weitgehend an der qualifizierten Mehrheit. So schwenkte man auf kleine Änderungen um, die im Vorhinein informell mit dem Rat ausgehandelt wurden. Am 10. Mai fiel der letzte Parlamentsbeschluss (C6-0042/2007). Der Rat hat seine Zustimmung bereits signalisiert und wird die Verordnung in einem der nächsten Ratssitzungen durchwinken, wenn der konsolidierte Text fertig übersetzt ist.2
Die neue PSO-Verordnung regelt klarer als die bisherige Verordnung, wann ausgeschrieben werden muss und wo nicht.

Eisenbahn: Direktvergabe erlaubt. Gemeinwirtschaftliche Leistungen im „heavy rail“-Bereich (wozu je nach Definition vielleicht auch die U-Bahn zählt) haben Wahlfreiheit: Selbsterbringung, Ausschreibung oder Direktvergabe an einen frei gewählten Betreiber. Der Wermutstropfen: Verträge dürfen nur maximal 10 Jahre laufen (Art. 5(6)).

„Inhouse“-Direktvergabe mit Einschränkungen: Unter strengen Einschränkungen dürfen Verkehre durch die Behörde selbst erbracht werden oder an eigene Unternehmen direkt vergeben werden. Voraussetzungen dafür sind zweierlei: (1) dass die Behörde „eine Kontrolle ausübt, die der Kontrolle über ihre eigenen Dienststellen entspricht“ (Art. 5(2)b). Das Unternehmen muss im Gegensatz zum EuGH-Urteil „Halle“ (C16/03) nicht zu 100% der Behörde gehören, und im Falle mehrerer Behörden im Verband ist die Kontrolle einer Behörde genug. (2) darf das Unternehmen und seine Töchter nicht außerhalb des Einflussbereichs der Behörde tätig sein, allerdings gibt es Ausnahmebestimmungen für ins Umland führende Linien. Damit wurde eine Kernforderung des Europäischen Parlaments aus der ersten Lesung aufgegriffen. Der Sinn der Regelung ist Markttrennung: Öffentliche Unternehmen sollen sich nicht „zu Hause“ in Direktvergabe sonnen und gleichzeitig auf Märkten wildern. Es gibt eine Übergangsfrist: Ab zwei Jahren vor dem Auslaufen einer „Inhouse“-Vergabe darf sich das Unternehmen bei Ausschreibungen bewerben (Art. 5(2)c). Wichtige weitere Einschränkung: Der „Inhouse“-Betreiber muss „einen Großteil der Personenverkehrsdienste“ selbst erbringen (Art. 5(2)e).

Kleinverträge, KMU und Notmaßnahmen: Verträge unter 1 Million Euro oder 300.000 Fahrzeugkilometer pro Jahr dürfen direkt vergeben werden. Für die Vergabe an Klein- und Mittelbetriebe (Unternehmen bis 23 Fahrzeuge) gelten die doppelten Schwellenwerte. Auch Notmaßnahmen (z. B. bei Konkurs des Betreibers) dürfen direkt vergeben werden, allerdings auf maximal zwei Jahre (Art. 5(3)).

Unbefriedigend: Qualität und Sozialkriterien
Definitiv unbefriedigend sind Qualitäts- und Sozialkriterien geregelt. Zwar besteht die Möglichkeit, solche (sogar indikativ aufgezählten) Kriterien vorzuschreiben, verpflichtend ist dies nicht. Eine Behörde, die z. B. Mitarbeiterweiterbildung oder betriebliche Kinderbetreuung vorschreibt, riskiert weniger Angebote oder die Beeinspruchung der Ausschreibung wegen „vergabefremder Kriterien“. In Deutschland ging noch keine Ausschreibung im Verkehrsbereich ohne Einsprüche über die Bühne.
Gleiches gilt für die Anwendung der Betriebsübergangs-Richtlinie 2001/23/EG3. Diese Richtlinie hat nämlich eine Lücke: Wenn im Zuge einer Ausschreibung Personal auf den neuen Betreiber übergeht, aber nicht ein ganzer Betrieb (z. B. einzelne Busse oder Konzessionen) übergeben wird, greift der Schutz bei Betreiberwechsel nicht und die Arbeitnehmerinnen und -nehmer verlieren ihren Arbeitsvertrag. Diese Lücke kann man nach PSO-VO zwar schließen, muss man aber nicht. Die Behörde kann so auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und -nehmer viel Geld sparen.

Falle: Welches Recht gilt?
Das Gezerre rund um die Ausschreibungspflicht hat in den Artikeln 5(1) und 8(1) skurrile Blüten getrieben. Es geht um die Gültigkeit der Rechtsmaterien, und diese Blüte sieht so aus: Alle Aufträge im Verkehr sind nach Verordnung zu vergeben. Für Verträge mit Bus und Straßenbahn nach den Vergaberichtlinien 2004/17/EG oder 2004/18/EG gilt aber das Vergaberecht, es sei denn, es sind wiederum Dienstleistungskonzessionen, für die wieder die Verordnung gilt. Der Grund für diesen juristischen Doppelaxel ist die Kollision von zwei Rechtsmaterien und die Unfähigkeit der EU-Gesetzgeber, sich klar zu entscheiden.
Die Liberalisierungsbefürworter hätten gerne sämtliche Vergaben unter dem Vergaberecht gesehen. Aus dem Vergaberecht sind jedoch mehrere Bereiche ausgenommen: Eisenbahn, Dienstleistungskonzessionen und die Binnenschifffahrt. So musste man notwendigerweise ein Vergaberecht für die ausgenommenen Bereiche erst schaffen. Weitere Bereiche wollte man liberaler als im Vergaberecht regeln, und trotzdem (des lieben Kompromisses willen) noch Verträge auch dem Vergaberecht unterstellen. Das Ergebnis ist ein juristischer Pallawatsch, in dem verschiedene Rechtsmaterien innerhalb des Sektors gelten. Für eine klare „lex specialis“ (PSO-VO geht vor, Vergaberecht gilt, wo die VO nichts regelt) gab es weder im Rat noch im Parlament eine Mehrheit.
So gibt es insgesamt fünf verschiedene Fälle, unter die ein Vergabeakt fallen kann (s. Abbildung).
1. Wer im Bereich Bus oder Straßenbahn einen Vertrag formuliert, der den Kriterien eines „Vertrages“ der RL 2004/ 17/EG oder 2004/18/EG entspricht (das sind entgeltliche Vereinbarungen mit Leistung und Gegenleistung), unterliegt dem Vergaberecht und braucht statt der PSO-VO das Bundesvergaberecht. Es gelten für ihn auch nicht die Möglichkeiten zu Sozial- oder Qualitätskriterien. Wer Aufträge im Bereich Eisenbahn vergibt, hat die Wahl:
2. direkt vergeben (egal an wen) oder
3. ausschreiben nach PSO-Verordnung, also fakultativ mit Qualitäts- und Sozialkriterien. Wer eine Leistung vergibt, die einer Dienstleistungskonzession entspricht, hat ebenfalls die Wahl:
4. „Inhouse“ nach PSO-VO, also mit verschärfter territorialer Einschränkung, dafür aber mit laxeren Anforderungen an die Kontrolle des Unternehmens, oder
3. ausschreiben nach PSO-Verordnung. Wer Leistungen in der Binnenschifffahrt oder nationale Meeresgewässer vergeben will,
5. fällt durch alle Gitter und hat nur das EU-Primärrecht (EU-Verträge und EuGH-Urteile), es sei denn, der Mitgliedstaat dehnt von sich aus die PSO-Verordnung auf diese Bereiche aus.
Das große Problem ist, dass einige Faktoren der Zuteilung vielleicht erst vor dem EuGH entschieden werden. Weder gibt es eine konsistente Definition von „Dienstleistungskonzession“ (die EU-Kommission plant eine Richtlinie dazu), noch ist klar, welche Klauseln einen Vertrag im Sinne der Vergaberichtlinien begründen. Wer auf der sicheren Seite sein will, wählt den hoheitlichen Weg: Auferlegung der Leistung und Abgeltung der Mehrkosten, ganz ohne Vertrag. Damit unterliegt man sicher nicht dem Vergaberecht und sicher der PSO-Verordnung.

Wie viel darf bezahlt werden?
Der Anhang der PSO-Verordnung regelt rigoros, dass eine Überkompensation der auferlegten Leistung verboten ist. Die Regelung nähert sich an die vier „Magdeburg-Kriterien“ an, beinhaltet allerdings eine große Erleichterung: Die Abgeltung muss sich an dem konkreten betroffenen Unternehmen messen. Es braucht daher weder Marktäquivalente noch ein abstraktes „durchschnittliches, gut geführtes Unternehmen“ wie im EuGH-Urteil „Altmark-Trans“.4

Tarifstützungen
Ab- und Durchtarifierungsverluste, Schüler- und Lehrlingsfreifahrt und ein Teil des Ökobonus sind Tarifstützungen. Was passiert mit ihnen? Die PSO-VO sieht hier zwei alternative Regelungen vor: Zum einen Art. 3(3), der Tarifstützungen für Schülerinnen und Schüler, Auszubildende und mobilitätseingeschränkte Personen erlaubt. Die Regeln für diese Ausgleichszahlungen sind der EU-Kommission mitzuteilen, die Geldzahlung ist notifikationsfrei. Andererseits gibt es Art. 3(2) für jene, die Tarifstützungen auch für andere Personengruppen auf Basis „allgemeiner Vorschriften“ vorsehen. Diese Stützungen dürfen nicht überkompensieren. Wie das zu messen sein wird und wie der Vergabeakt dafür auszusehen hat, ist unklar.

Lange Übergangsbestimmungen
Die Verordnung tritt (ein Novum) erst zwei Jahre nach dem Beschluss in Kraft. Bis 2009 werden Verkehrsdiensteverträge noch nach der VO 1191/69 geschlossen. Danach greifen komplizierte Übergangsregeln:
- Wettbewerblich vergebene Verträge vor Juli 2000 (damals wurde der erste Entwurf der neuen Verordnung vorgestellt) dürfen frei auslaufen.
- Direkt vergebene Verträge vor Juli 2000 dürfen auslaufen, aber maximal 30 Jahre.
- Wettbewerblich vergebene Verträge nach Juli 2000 bleiben ebenfalls bis 30 Jahre gültig.
- Direkt vergebene Verträge nach Juli 2000 dürfen nur so lange laufen, wie die Vertragslaufzeiten der PSO-VO es vorsehen, das sind 10 Jahre für Busdienste und 15 Jahre für Eisenbahndienste, jeweils bis zu 50% verlängerbar, wenn die Amortisierung von länger abgeschriebener Anlagen Teil des Vertrags sind.
Eine Falle besteht: Die Übergangsbestimmungen schützen nur den Vergabeakt, nicht den Vertragsinhalt! Es müssen daher alle Verträge ab 2009 der PSO-VO entsprechen. Dazu zählen Vertragsinhalte, Abgeltungshöhe und Transparenz.

Österreich: Regimewechsel im Bus-Regionalverkehr
In Österreich werden weite Teile des öffentlichen Verkehrs bleiben können, wie sie sind: Eisenbahn darf weiter direkt vergeben werden, und auch kommunale Dienstleister können weiter direkt beauftragt werden. Der Bus-Regionalverkehr wird in Zukunft nach PSO-VO ausgeschrieben werden müssen. Dies bedingt eine deutliche Umstellung: Wo noch nicht geschehen, muss die öffentliche Hand (Land oder Verbund) die Verkehrsplanung, Ausschreibung und Kontrolle übernehmen.

Unklar: Konzession nach KfLG?
Was aus der Buskonzession nach KfLG wird, ist noch unklar. „Exklusive Rechte“ unterliegen genau wie Geldzahlungen der PSO-VO. Wenn die Buskonzession aber nicht „exklusiv“, sondern nur ein „besonderes“ Recht ist, dann ist die KfLG-Konzession vom EU-Recht unberührt. Allerdings kann es dann zu bedeutsamen juristischen Verrenkungen kommen. Was tut ein Land, wenn ein Unternehmen die KfLG-Konzession hat, aber ein anderes den Verkehrsdienstevertrag gewonnen hat? Das KfLG sieht hier keine Lösung vor. Eine Änderung des KfLG steht uns also auf jeden Fall ins Haus.


(1) C280/00: Magdeburg vs. Altmark Trans; www.curia.eu
(2) den vorläufigen konsoldierten Text gibt es auf www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do
(3) in Österreich umgesetzt im AVRAG
(4) C213/00, Urteil Magdeburg vs. Altmarks Trans

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