Vereinbarkeit von Binnenmarkt und Daseinsvorsorge

Vereinbarkeit von Binnenmarkt und Daseinsvorsorge

Aktuelle Entwicklungen aus Brüssel zeigen immer mehr die Wichtigkeit einer rechtlichen Absicherung der Dienstleistungen der Daseinsvorsorge. Doch welches Ausmaß an Rechtssicherheit haben wir in unserem eigenen Land?

 

Problematik und europäische Entwicklung
Der gesamteuropäische Markt stellt ein Spektrum an Anforderungen für jeden Wirtschaftsteilnehmer auf, dem es gerecht zu werden gilt. Dieser Grundsatz ist für die Bereiche der Privatwirtschaft ebenso anwendbar wie im Grunde auch für sämtliche Bereiche gemeinwirtschaftlicher Dienstleistungen. Probleme ergeben sich jedoch vor allem, wenn die Prinzipien des Binnenmarktes uneingeschränkt auf die Leistungen der Daseinsvorsorge angewendet werden sollen. Privatwirtschaftliche Interessen, wie Gewinnmaximierung, treten in den Vordergrund, gemeinwirtschaftliche Aspekte, wie Versorgungssicherheit und Diskriminierungsfreiheit, werden in den Hintergrund gedrängt.
Der EG-Vertrag hebt diesen Konflikt an zwei Stellen besonders hervor:
Artikel 16 EG:
„[…] in Anbetracht des Stellenwerts, den Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse innerhalb der gemeinsamen Werte der Union einnehmen, sowie ihrer Bedeutung bei der Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts tragen die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten […] im Anwendungsbereich dieses Vertrags dafür Sorge, dass die Grundsätze und Bedingungen für das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass sie ihren Aufgaben nachkommen können.“
sowie
Artikel 86 Abs. 2 EG:
„Für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind […], gelten die Vorschriften dieses Vertrags, insbesondere die Wettbewerbsregeln, soweit die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert. Die Entwicklung des Handelsverkehrs darf nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt werden, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft.“
Artikel 16 EG enthält somit eine Kompetenzzuweisung zugunsten der Mitgliedstaaten, Maßnahmen zur Absicherung von Leistungen der Daseinsvorsorge („Dienstleistungen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse“) zu treffen. Dass diese Maßnahmen nicht vollkommen losgelöst von den Grundsätzen des Binnenmarktes getroffen werden können, liegt auf der Hand. So setzt doch Artikel 16 EG die sonstigen Bestimmungen des Vertrages in keiner Weise außer Kraft. Dies verdeutlicht vor allem Artikel 86 Abs. 2 EG letzter Satz, welcher in unmissverständlicher Weise dem „Interesse der Gemeinschaft“ Vorrang einräumt. Doch trifft Artikel 86 Abs. 2 EG für mit Dienstleistungen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse betrauten Unternehmen eine wesentliche Einschränkung: Die Anwendung der Wettbewerbsregeln soll für sie nur soweit Anwendung finden, als dadurch nicht die Wahrnehmung der ihnen übertragenen Aufgaben rechtlich oder tatsächlich verhindert sind. So unscharf diese Formulierung auch sein mag, eines erscheint gewiss:
Eine Zusammenschau dieser beiden Bestimmungen führt zur Notwendigkeit einer Absicherung auf mitgliedstaatlicher Ebene. Doch hat die Europäische Union im Zuge ihrer Binnenmarktverwirklichung bereits durch mehrere Sekundärrechtsakte Barrieren aufgebaut, welche den Mitgliedstaaten in einigen Punkten eine Beibehaltung der Erbringung auf kommunaler Ebene außerhalb des Wettbewerbs, erschweren bis gar verunmöglichen. Dies vor allem im Bereich jener Sektoren, die davor als wettbewerbsrechtliche Ausnahmebereiche von Liberalisierung und Privatisierung galten, wie Verkehr, Energie, Telekommunikation oder Post (vgl. dazu ÖGZ 3/2007, S. 20 ff.). Gleichzeitig ergingen verschiedene Urteile des Europäischen Gerichtshofes, in welchen dieser die Mitgliedstaaten vielfach in strenger Auslegung des Vertrages sowie sekundärrechtlicher Akte vor die Alternative stellte, die Dienstleistungen entweder ausschließlich durch die öffentliche Hand oder aber mittels öffentlicher Ausschreibung unter Bindung an die Marktgesetze erbringen zu lassen. So lassen etwa die in den Rechtssachen Stadt Halle, C-26/03 vom 11. 1. 2005, und Parking Brixen, C-458/ 03 vom 13. 10. 2005 ergangenen Urteile den Schluss zu, dass eine öffentliche Ausschreibung nur dann unterbleiben kann, wenn an dem beauftragten Unternehmen keine privaten Anteilseigner beteiligt sind.
Nicht zuletzt im Lichte dieser Judikate wurde von Interessenverbänden aus weiten Teilen Europas stets die Forderung nach mehr Rechtssicherheit aufgestellt. Der Europäische Rat von Barcelona forderte daher bereits im Jahr 2002 die Europäische Kommission auf, zu prüfen, wie die Grundsätze des Binnenmarktes in einem eigenen Rechtsrahmen implementiert werden können. Nach einem durch das Grünbuch für Dienstleistungen im allgemeinen Interesse (2003) eingeleiteten Konsultationsprozess, dessen Früchte dann im darauffolgenden Weißbuch für Dienstleistungen im allgemeinen Interesse (2004) Niederschlag fanden, ließ die Europäische Kommission diesen Prozess stagnieren und machte schließlich im Juni 2007 deutlich, dass die Idee eines eigenen Rechtsrahmens einzig im Zusammenhang mit Gesundheitsdienstleistungen weiterverfolgt werden wird.

Europäischer Reformvertrag
Der Entwurf des Europäischen Reformvertrages enthält jedoch auf Basis der Schluss¬folgerungen des Europäischen Ra¬tes vom 21./22. Juni 2007 im vorgeschlagenen Artikel 4 eine Betonung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts sowie im vorgeschlagenen Artikel 5 auch eine stärkere Verdeutlichtung des Subsidiaritätsprinzips zugunsten der zentralen, lokalen sowie kommunalen Ebene, als dies bisher der Fall ist. Durch diese Betonung wird klargestellt, dass der Ermessensspielraum bei den lokalen und regionalen Behörden im Zusammenhang mit der Beauftragung und Organisation von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse als wesentlicher Bestandteil der gemeinsamen Werte der Europäischen Union ge¬mäß Artikel 16 EG anzusehen ist. Auch wenn die Europäische Kommission derzeit nicht mehr beabsichtigt, eine Initiative in Richtung einer Rahmenrichtlinie für Dienstleistungen von allgemeinem (wirtschaftlichem) Interesse zu setzen, ist damit doch ein wichtiger Schritt in Richtung Rechtssicherheit auf europäischer Ebene zur Wahrung der Subsidiarität, vor allem auf kommunaler Ebene, gesetzt und wurden langjährige Forderungen europäischer und österreichischer Spitzenverbände umgesetzt.
Dennoch zeigen die aktuellen europäischen Entwicklungen einmal mehr die Notwendigkeit auf, Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse auf mitgliedstaatlicher Ebene einer klaren Definition zuzuführen. Aufgrund des universellen Charakters dieser Dienstleistungen und dem Erfordernis der diskriminierungsfreien Erbringung erscheint unbestritten, dass es hiefür genereller Rechts¬akte bedarf, welche eine politische Argumentation mit den Erfordernissen des Artikels 16 EG sowie Artikel 86 Abs. 2 ermöglichen.

Absicherung auf nationaler Ebene
Angesichts der österreichischen Verfassungslage kann eine rechtliche Absicherung nur durch die jeweils für die Gesetzgebung kompetenzrechtlich zuständige Gebietskörperschaft erfolgen, die – soweit erforderlich – Städte und Gemeinden zur Setzung von Durchführungsverordnungen ermächtigen kann. Bis heute sind die Forderungen nach einem subjektiven Recht auf Erbringung von Leistungen der Daseinsvorsorge auf Verfassungsebene nicht verstummt und wurden diese im Rahmen einer durch das Bundeskanzleramt eingeleiteten Konsultation im Juni 2007 erneut aufgegriffen.
Wenngleich eine Einbettung auf verfassungsrechtlicher Ebene als politisch wichtiges Zeichen angesehen werden kann, ist die Erzielung eines höheren Ausmaßes an Rechtssicherheit nicht ohne die einfachgesetzliche Ebene möglich; hier gilt es, den gemeinschaftsrechtlichen, insbesondere den Vorgaben des im Oktober 2007 abzusegnenden Reformvertrages durch konkrete Bestimmungen in den jeweiligen Materiengesetzen gerecht zu werden.
Dass dies bis dato in Österreich noch nicht lückenlos der Fall ist, zeigt eine jüngst vom Verband der Öffentlichen Wirtschaft und Gemeinwirtschaft (VÖWG) herausgegebene Studie auf, in welcher Mängel in der Umsetzung aufgezeigt und Lösungsmöglichkeiten vorgeschlagen werden:
So haben etwa nur wenige Bundesländer die auf kommunaler Ebene sicherzustellende Wasserversorgung als Pflichtaufgabe ausgestaltet. Betrachtet man jedoch die zuletzt im Entwurf des Reformvertrages sowie die davor in mehreren Kommunikationspapieren der Europäischen Kommission (so etwa Weißbuch zu Dienstleistungen im allgemeinen Interesse vom 12. Mai 2004) festgelegten Anforderungen an die relevanten Dienstleistungen, so erscheint eine Pflichtaufgabe mit einhergehendem Kontrahierungszwang zur Sicherstellung einer Garantie des diskriminierungsfreien Zugangs unumgänglich. Bisher haben lediglich das Wiener Wasserversorgungsgesetz, das Gesetz Wasserleitungsverband Nördliches Burgenland diese Richtung eingeschlagen, während etwa in Tirol Regelungen über einen Anschlusszwang völlig fehlen. Qualitätsbezogene Regelungen fehlen zum Teil etwa im österreichischen Abfallwirtschaftsrecht, im Bereich des Rettungswesens sowie – trotz Bestehen einer entsprechenden Vereinbarung zwischen Bund und Ländern gemäß Artikel 15a B-VG – im Bereich der sozialen Dienstleistungen. Doch ist auch das hohe Niveau an Qualität eine zentrale Forderung des Gemeinschaftsrechts. Wenngleich das Niveau in der Praxis bisweilen gewahrt sein mag, so stellt dieser Umstand für sich genommen noch keine ausreichende Absicherung dar, solange die Einhaltung qualitätsbezogener Kriterien bloß freiwillig und nicht etwa aufgrund eines gesetzlichen Auftrages erfolgt. Ähnliche Probleme stellen sich etwa im Bereich des Rettungswesens, wo einige Landesrettungsgesetze keine Vorschriften zur Mindestausstattung vorsehen bzw. von einer diesbezüglichen Verordnungsermächtigung seitens der Landesregierung bisher nicht Gebrauch gemacht wurde.
Sind die gemeinschaftsrechtlich vorgegebenen Anforderungen nicht oder nur teilweise erfüllt, lässt sich eine Ausnahme von den Marktgesetzen gegenüber der Europäischen Union nicht mehr rechtfertigen und ist die kommunale Entscheidungsautonomie, in welcher Weise die Dienste erbracht werden sollen, bedroht. Eine rechtliche Absicherung ist daher nicht nur wünschenswert, sondern dringend notwendig. Dies nicht zuletzt, da das Europäische Parlament in einem am 4. September 2007 angenommenen Bericht zur „Überprüfung des Binnenmarktes: Beseitigung von Schranken und Mängeln anhand einer verbesserten Umsetzung und Durchsetzung“ bei der Europäischen Kommission anregte, „Initiativen zur Beseitigung der Rechtsunsicherheit“ bezüglich des Status von Dienstleistungen im allgemeinen Interesse zu ergreifen.
Denn für die Umsetzung von EU-Recht sind die Mitgliedstaaten zuständig.

OEGZ

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