Das Verhältnis von Delikts- und Verwaltungsrecht

Das Verhältnis von Delikts- und Verwaltungsrecht

In Österreich hat das Verwaltungsrecht einen beachtlichen Einfluss auf das Haftpflichtrecht. Dabei sind zwei Fragen von besonderer Bedeutung: 1. Unter welchen Voraussetzungen begründet die Übertretung einer Verwaltungsvorschrift eine zivilrechtliche Haftung? 2. Ist eine zivilrechtliche Haftung ausgeschlossen, wenn sämtliche einschlägige Verwaltungsvorschriften beachtet wurden?

 

Einleitung
Im Rahmen seiner soeben im Springer Verlag publizierten Forschungsarbeit hat das Europäische Zentrum für Schadenersatz- und Versicherungsrecht (ECTIL) in Kooperation mit der Forschungsstelle für Europäisches Schadenersatzrecht der Ös¬terreichischen Akademie der Wissenschaften (ETL) und in Zusammenarbeit mit namhaften Rechtswissenschaftlern aus zahl¬reichen Ländern Europas und den USA das Verhältnis zwischen Delikts- und Verwaltungsrecht untersucht, wobei insbesondere Sicherheits- und Umweltschutz¬bestimmungen im Vordergrund standen. Dieses komplexe Thema ist nicht nur für Wissenschaftler, sondern auch für Praktiker, die sich mit schadenersatzrechtlichen Fragen befassen, von großer Bedeutung. Der Österreichische Städtebund hat das ECTIL bei der Durchführung und der Publikation dieser Studie finanziell unterstützt. Meinhard Lukas hat die Rechtslage in Österreich untersucht und – in einem eigenen Kapitel – aus seiner Sicht eine Conclusio aus dem gesamten Projekt gezogen. Die Ergebnisse dieser Forschung sollen hier zusammengefasst werden, weiterführende Hinweise und Belege für die hier vertretenen Ansichten findet der interessierte Leser im Buch zum Forschungsprojekt (siehe Kasten auf Seite 38). Die Rechtslage in Österreich wird im Folgenden in Grundzügen dargestellt, Hinweise zur Rechtslage in Europa sind dem Kasten auf Seite 37 zu entnehmen.

Wie wirkt sich das Verwaltungsrecht im Allgemeinen auf das Haftpflichtrecht aus?

Voranzustellen ist eine kurze Präzisierung des Forschungsgegenstands: Als „Deliktsrecht“ wurde jener Teil des Privatrechts aufgefasst, der sich mit dem Ersatz von Schäden beschäftigt, die ein Normunterworfener dem anderen außerhalb eines Vertragsverhältnisses zufügt. Innerhalb des Feldes des Verwaltungsrechts wurden nur jene Vorschriften untersucht, die das menschliche Verhalten näher regeln.
Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB) nennt in § 1294 die „Quellen der Beschädigung“ und stellt dabei widerrechtliche Handlungen oder Unterlassungen zufälligen Ereignissen gegenüber. Rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten verpflichtet den Täter nach der Generalklausel des § 1295 Abs. 1 ABGB zum Schadenersatz gegenüber dem Geschädigten. Die Beurteilung eines Verhaltens als rechtmäßig oder rechtswidrig ist unter Berücksichtigung aller Normen der Rechtsordnung vorzunehmen. Es ist also nicht nur auf die Bestimmungen des Zivilrechts, sondern auch auf jene des Verwaltungsrechts abzustellen. Der Einfluss des Verwaltungs- auf das Deliktsrecht ergibt sich daher schon unmittelbar aus § 1294 ABGB.
Dabei strahlt das Verwaltungsrecht in mehrfacher Weise auf das Deliktsrecht aus: (1) Die österreichische Rechtsordnung verleiht bestimmten, besonders hochwertigen Rechtsgütern (z. B. Leben, körperliche Integrität und Eigentum) einen „absoluten Rechtsschutz“: Jedermann trifft die Pflicht, sich diesen Rechtsgütern gegenüber sorgfältig zu verhalten (allgemeine Sorgfaltspflicht). Bei der Konkretisierung dieses durchaus vagen Sorgfaltsmaßstabs kommt verwaltungsrechtlichen Normen Bedeutung zu. (2) Einen größeren Einfluss haben Verwaltungsvorschriften jedoch, wenn sie als sogenannte Schutzgesetze im Sinne von § 1311 Satz 2 ABGB zu qualifizieren sind. Zwar begründet auch die Bestimmung des § 1311 ABGB keine verschuldensunabhängige Zufallshaftung; wer ein Schutzgesetz schuldhaft verletzt, kann sich aber nicht darauf berufen, dass er die Folgen seiner Tat nicht vorhersehen konnte. Maßgeblich ist vielmehr nur ein schutzgesetzspezifisches Verhaltensunrecht.
Hinzuweisen ist auf die unterschiedliche Zielsetzung von Delikts- und Verwaltungsrecht: Die beiden Rechtsbereiche betreffen unterschiedliche Rechtsverhältnisse – während das Haftpflichtrecht das Verhältnis von zwei gleichgestellten Normunterworfenen regelt, befasst sich das Verwaltungsrecht mit dem Verhältnis zwischen Staat und Rechtsunterworfenen. Darüber hinaus stellt das Schadenersatzrecht – als Teil des Privatrechts – die Interessen von Individuen in den Vordergrund und will mit seinen Regeln Lösungen für jeden denkbaren, noch so atypischen Einzelfall bieten. Im Gegensatz dazu kann sich das Verwaltungsrecht im Wesentlichen nur auf typische Gefahren konzentrieren und hat dabei überdies einen Interessenausgleich vorzunehmen, der naturgemäß nur auf einer Prognose beruhen kann. Schon aus dieser unterschiedlichen Zielsetzung folgt, dass sich die Bestimmungen des Delikts- und jene des Verwaltungsrechts bestenfalls ergänzen, unter Umständen aber sogar gegenläufige Interessen verfolgen. Aus dieser potenziellen Antagonie folgt auch, dass jene Rechtsfolgen, die das Verwaltungsrecht selbst für seine Verletzung vorsieht (z. B. Verwaltungsstrafen), Schadenersatzansprüche nicht ausschließen.

Was sind die relevanten Quellen des Verwaltungsrechts?

Die Bestimmung des § 1311 ABGB spricht zwar nur vom „Gesetz“; der Gesetzgeber des Jahres 1811 verstand darunter aber ganz allgemein obrigkeitliche Vorschriften. Damit können auch Verordnungen Schutzgesetz (§ 1311 ABGB) sein. Auch individuelle Verwaltungsakte (Bescheide) können unter § 1311 ABGB fallen. Voraussetzung ist jedoch, dass der Bescheid gesetzeskonform erlassen wurde, also gesetzliche Verhaltenspflichten lediglich weiter konkretisiert.
Obwohl in Österreich nur dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für das Zivilrechtswesen (und damit das Haftpflichtrecht) zusteht, können auch landesrechtliche Vorschriften als Schutzgesetz zu qualifizieren sein.
Generell unbeachtlich für das Haftpflichtrecht sind dagegen interne Verwaltungsvorschriften (Weisungen einschließlich sogenannter „Verwaltungsverordnungen“ [= generell gefasste Weisung an Organwalter]), weil sie nur die Organwalter gegenüber den Vollziehungsträgern binden, aber keine Außenwirkung entfalten.

Unter welchen Voraussetzungen begründet die Übertretung einer Verwaltungsvorschrift eine zivilrechtliche Haftpflicht?

Wie bereits ausgeführt, kann ein Verstoß gegen Verwaltungsvorschriften für das Schadenersatzrecht relevant sein, weil die übertretene Verwaltungsvorschrift zugleich die allgemeine, nach § 1295 Abs. 1 ABGB geschuldete Sorgfalt für den Einzelfall konkretisiert.
Erheblich größere Bedeutung erlangen Verwaltungsvorschriften, wenn sie als Schutzgesetz (§ 1311 ABGB) zu qualifizieren sind: Verletzt der Schädiger ein Schutzgesetz, wird dem Geschädigten die Durchsetzung seines Schadenersatzanspruchs erheblich erleichtert. Wann sind Verwaltungsvorschriften nun als Schutzgesetz zu qualifizieren? Auszugehen ist davon, dass nicht jede verwaltungsrechtliche Regelung zugleich auch ein Schutzgesetz ist. Schutzgesetze können nämlich nur solche Verwaltungsvorschriften sein, die ihrem Sinn und Zweck nach gerade den Einzelnen schützen sollen – und nicht bloß die Allgemeinheit. Während etwa Vorgaben zur Produktsicherheit typischerweise auch den Einzelnen schützen sollen, bezwecken Umweltschutzvorschriften zumeist nur den Schutz der Allgemeinheit und können daher keine Schutzgesetze sein.
Darüber hinaus muss jene Verwaltungsvorschrift, die den Schutz des Einzelnen bezweckt, die Zufügung gerade auch jenes Schadens (Art und Weise der Zufügung, verletztes Rechtsgut) verhindern wollen, der letztlich eingetreten ist.
Steht einmal fest, dass eine bestimmte Verwaltungsvorschrift als Schutzgesetz zu qualifizieren ist, so indiziert ihre Übertretung grundsätzlich auch die zivilrechtliche Rechtswidrigkeit des Verhaltens. Darüber hinaus geht die Rechtsprechung sogar davon aus, dass es bei der Frage des Verhaltensunrechts (und zum Teil auch der Kausalität) zu einer echten Beweislastumkehr kommt. Der Täter muss also nachweisen, dass die Übertretung des Schutzgesetzes auf keiner Sorgfaltsverletzung beruht.

Ist eine zivilrechtliche Haftung ausgeschlossen, wenn sämtliche einschlägige Verwaltungsvorschriften beachtet wurden?

Die Einhaltung aller relevanten Verwaltungsvorschriften spricht dem ersten Anschein nach zwar für rechtmäßiges Verhalten, Verwaltungsvorschriften regeln die Sorgfaltspflichten zum Schutz des Einzelnen aber nicht abschließend. Selbst bei Einhaltung aller einschlägigen Verwaltungsvorschriften kann daher – aus der Sicht des Haftpflichtrechts – dennoch eine Sorgfaltsverletzung vorliegen, die bei Hinzutreten weiterer Voraussetzungen eine Haftung begründet. Mit anderen Worten: Selbst wenn sich der Täter zu Recht darauf beruht, dass er im Einklang mit allen maßgeblichen Verwaltungsvorschriften ge¬handelt hat, kann ihn dennoch eine schadenersatzrechtliche Haftung treffen.
Im Einzelfall kann freilich eine verwaltungsrechtliche Ermächtigung zur Vornahme einer bestimmten Handlung einen zivilrechtlichen Rechtfertigungsgrund dar¬stellen, der eine Haftung ausschließt. Beispielsweise sei hier das Recht der Sicherheitsorgane zum Waffengebrauch genannt. In der Praxis relevanter sind behördliche Genehmigungen; sie schließen die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens aus, wenn sie dem Gefährdeten seine Abwehrrechte entziehen und ihn zur Duldung der Gefährdung zwingen. Diese weitreichende Wirkung kommt jedoch nur behördlichen Genehmigungen zu, die in einem Verfahren ergangen sind, in dem die Gefährdeten entsprechendes rechtliches Gehör hatten.

OEGZ

ÖGZ Download