EU-Städte: Wachstumsmotoren und Zukunftslabors!

EU-Städte: Wachstumsmotoren und Zukunftslabors!

Unter dem Titel „State of the European Cities Report“1 legte die EU-Kommission im Mai 2007 einen zusammenfassenden Bericht über die Situation in 258 europäischen Städten vor. Dieser Bericht bietet eine Fülle von interessanten Fakten und untermauert eindrucksvoll die Tatsache: In den Städten entscheidet sich die zukünftige Entwicklung Europas!

 

Weltweit nimmt die Bedeutung der Städte zu

Allein schon aufgrund ihres „unaufhaltsamen Wachstums“ werden die urbanen Zentren immer wichtiger. In der jüngsten Ausgabe des – übrigens wirklich lesenswerten – „Atlas der Globalisierung“ von Le Monde diplomatique finden sich dazu folgende Zahlen:
„1900 gab es weltweit 11 Städte mit mehr als 1 Million Einwohnern.
1950 waren es 80, 1990 schon 257.
2000 waren es fast 400 und 2015 werden es wahrscheinlich 550 sein.“2
„Einst war die Stadt das Symbol der ganzen Welt. Heute ist die ganze Welt im Begriff, eine Stadt zu werden“, schrieb der amerikanische Architekturhistoriker und Stadtplaner Lewis Mumford bereits Anfang der 60er Jahre. Mumford hatte Recht: In den letzten Jahrzehnten wuchs die Zahl der Menschen, die in Städten leben, von 200 Millionen auf drei Milliarden. Heuer, im Jahr 2007, lebt – zum ersten Mal in der Geschichte! – die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten.3 Tendenz weiter steigend. Für Europa ist die entscheidende Rolle von Städten nichts Neues. 60% der Einwohner der EU leben heute in Städten mit mehr als 50.000 Einwohnern.

EU-Städte-Audit: „Gebrauchsinformation“

Vor diesem Hintergrund begann die Generaldirektion für Regionalpolitik (= GD Regio) 1998 im Rahmen eines Pilotprojektes mit der Sammlung von Städtedaten. 58 Städte wurden in dieses „Urban Audit Pilot Project“ einbezogen. Der Versuch, fast 500 Indikatoren über die unterschiedlichsten städtischen Bereiche zu erheben, stellte sich angesichts der gegebenen Datenlage allerdings als teilweise zu ehrgeizig heraus. In den Auswertungstabellen überwogen die „Keine Angabe“-Felder. Auch die Qualität der von privaten Instituten gesammelten Daten war höchst unterschiedlich. Andererseits machten die Ergebnisse dieses EU-weit ersten Versuches, einheitliche und vergleichbare Daten über Städte zu sammeln, aber durchaus Lust auf mehr.
Aufbauend auf diesen Erfahrungen startete die GD Regio 2002 eine größer angelegte zweite Runde des „Urban Audits“: 258 Städte aus den 27 Mitglieds- und Beitrittsländern wurden einbezogen. Die Auswahl der Städte erfolgte in Abstimmung mit EUROSTAT, den nationalen statistischen Ämtern und lokalen Stellen. Dabei wurde die geografische Verteilung und die Größe berücksichtigt. Bei letzterer wurden jeweils große und mittelgroße Städte ausgewählt. In den untersuchten 258 Städten lebten 2001 insgesamt 107 Millionen Einwohner: etwa 20% der Bevölkerung der EU-27.
Für die nachstehenden 9 Bereiche wurden dabei in Summe 333 Variable über diese Städte abgefragt:
1. Demografische Daten: Bevölkerung nach Alter, Geschlecht, Nationalität und Haushaltsstruktur.
2. Soziale Aspekte: Wohnversorgung, Gesundheit und Kriminalität.
3. Wirtschaftsaspekte: Einkommen, Beschäftigung nach Sektoren und Arbeitslosigkeit.
4. Bürgerbeteiligung: Wahlen und Lokalverwaltungen.
5. Ausbildung und Erziehung: Ausbildungsniveaus nach dem Geschlecht und Anzahl der inskribierten Studenten.
6. Umwelt: Klima, Luftqualität, Lärm, Wasser und Abfallmanagement.
7. Verkehr und Transport: Arbeitswege, öffentlicher Verkehr, Unfälle.
8. Informationsgesellschaft: IKT-Durchdringung, lokales E-Government und der IKT-Sektor.
9. Kultur und Freizeit: kulturelle Aktivitäten und der Tourismussektor.
Natürlich waren von den 333 abgefragten Variablen viele regional nicht verfügbar bzw. konnten auch nicht geschätzt werden. Da dies teilweise zu sehr niedrigen Fallanzahlen führte, sollte man bei allen Indikatoren jeweils speziell auf die Fallanzahl achten. Dem zusammenfassenden „State of the European Cities Report“ liegen die Daten des Jahres 2001 zugrunde. Teilweise wird die Entwicklung seit 1996 dargestellt. Für die Jahre 1991 und 1996 soll zukünftig noch ein eingeschränktes Datenset erhoben werden. Zusätzlich wurde versucht, die Daten jeweils für drei geografische Ebenen zu erheben:
1. die Kernstadt,
2. eine größere Stadtregion („larger urban zone“ = LUZ, als Näherung für die „funktionale Stadtregion“) und
3. für die Umlandbezirke.
Angesichts der Verfügbarkeit und Qualität von regionalisierten Daten ein wahrlich „engagierter“ – wenn auch inhaltlich sehr sinnvoller – Ansatz.
Die Daten werden von EUROSTAT in einer Oracle Express Datenbank und in „NewCronos“ zur Verfügung gestellt. Der Bericht und darüber hinausgehende Informationen sind im Internet unter www.urbanaudit.org abrufbar.
Der Besuch dieser Seite kann wirklich empfohlen werden: Einerseits, weil man sich das Profil jeder Stadt4 im Detail anschauen kann. Andererseits, weil auch einige nützliche Auswertungstools zur Verfügung gestellt werden. Insbesondere sei auf die Funktionen „Reihung“ und „Vergleiche“ verwiesen, die es erlauben, individuelle Fragen sehr rasch zu veranschaulichen. Zum Beispiel zwischen den drei einbezogenen österreichischen Städten: Linz, Graz und Wien.

„It’s the cities, stupid!“ Wichtige Punkte aus der Studie
Die Bedeutung der Städte für die Lösung der wichtigsten Zukunftsaufgaben der Menschheit wird in unserer globalisierten Welt immer größer. Nirgendwo sonst sind die Vielschichtigkeit und die Ambivalenz von Globalisierung so deutlich wie in den Metropolen. Städte sind – in allen Bereichen – die „Experimentierplätze“ der neuesten Entwicklungen. Dies ist eigentlich nichts Neues, auch in der Geschichte hatten Städte stets die Rolle von gesellschaftlichen „Laboratorien“: Wirtschaftlicher und sozialer (Struktur-)Wandel zeigte sich in der Regel zuerst und am deutlichsten in den Städten. Und natürlich sind die großen Städte auch heute wieder die Brennpunkte der zukunftsrelevanten Entwicklungen. Darum sollte jeder, der wissen will, wo es in Zukunft langgeht, sich mit der Entwicklung in den Städten beschäftigen. Der vorliegende Bericht versteht sich als „Lupe“ zur Verdeutlichung dieser Entwicklungen.
Das Bewusstsein über die entscheidende Rolle der Städte ist noch deutlich unterentwickelt, nicht nur in Österreich. Auf die Notwendigkeit eines entsprechenden „awareness-rising“ weist der Zwischentitel „It’s the cities, stupid!“ hin. Im Folgenden einige zentrale Ergebnisse des Berichts.

Die Städte sind Wachstumsmotoren

„Städte sind unbestreitbar die Motoren des Wirtschaftswachstums in Europa.“5 Städte sind in nahezu allen europäischen Ländern die führenden Produzenten von Wissen und Innovation – die Zentren der zunehmend globaler werdenden Wirtschaft. In Städten mit mehr als 1 Million Einwohnern liegt das Pro-Kopf-BIP um 25% über dem EU-Durchschnitt und um 40% über dem jeweiligen nationalen Durchschnitt. Generell lässt sich sagen: Je größer die Stadt, desto höher ihr BIP-Niveau. Kleinere Städte unter 100.000 Einwohner liegen vielfach unter dem nationalen BIP-Niveau, wachsen aber durchschnittlich. Innerhalb seiner Größenklasse6 liegt Wien etwa beim Bruttoregionalprodukt (BRP) pro Kopf 2001 mit 37.000 Euro an 3. Stelle, nach München (52.000 Euro) und Hamburg (42.000). Im Hauptstadtvergleich7 liegt Wien bei diesem Wert an 8. Stelle. Top 3: 1. Paris: 70.000 Euro, 2. Kopenhagen: 58.000 Euro, 3. Stockholm: 50.000 Euro.

Das Beschäftigungsparadox in den Städten

Obwohl sich das Arbeitsplatzangebot in den Städten konzentriert, können etliche Einwohner mangels passender Qualifikation nicht davon profitieren. Dieses Phänomen ist in allen europäischen Städten zu beobachten. Obwohl Städte also die wirtschaftlichen „Kraftwerke“ sind, setzt sich der geschaffene Reichtum nicht unmittelbar in entsprechenden Beschäftigungsraten ihrer Einwohner um. Nur in 28% der Urban-Audit-Städte liegt die Beschäftigungsrate der Einwohner über dem nationalen Durchschnitt. Nur 10% haben eine Beschäftigungsrate über 70% – dem Lissabon-Ziel der EU für 2010. Im innerösterreichischen Vergleich lautete die Reihung 2001: 1. Linz: 69%, 2. Wien: 68%, 3. Graz: 67%.
Die Frauenerwerbstätigkeit schwankt zwischen 30% in einigen Städten Süditaliens und 70% in den meisten nördlichen Städten.

Große Disparitäten innerhalb der Städte

Zwischen den einzelnen Stadtteilen bestehen deutliche Unterschiede. In fast allen Städten mit einer Arbeitslosenquote von 10% oder mehr ist die Arbeitslosigkeit in einigen Vierteln mindestens doppelt so hoch wie im Durchschnitt der jeweiligen Stadt. Sie erreicht in den am stärksten benachteiligten Vierteln bis zu 60%. Für die österreichischen Städte konnten diese Werte nicht erhoben werden. In Wien variierte aber beispielsweise diese „Arbeitslosenquote“8 2005 zwischen 5 und 13%.

Arbeitsplätze überwiegend im Dienstleistungssektor

In den Städten Westeuropas entfällt der weitaus größte Teil der Arbeitsplätze auf den Dienstleistungssektor. Der Anteil des Dienstleistungssektors an den fünf größten städtischen Arbeitsmärkten in EU-27 liegt bereits zwischen 80% und 90% : London = 87%, Paris = 89%, Berlin und Madrid = 81% sowie Rom = 78%. Tendenz: steigend. In Österreich ist der Wandel hin zur Dienstleistungsökonomie in Wien an weitesten fortgeschritten: Auf den Dienstleistungssektor entfielen 2001 bereits 81% der unselbständig Beschäftigten, gegenüber 78% in Linz und 74% in Graz.

Städter haben ein höheres Bildungsniveau

In Europa haben Städter im Durchschnitt ein deutlich höheres Bildungsniveau als Bewohner anderer Räume. Sie können die Chancen, die die Wirtschaft bietet, am besten nutzen. Menschen mit geringer Bildung droht dagegen am ehesten soziale Ausgrenzung. Für Paris wird ein Anteil an hochqualifizierten Einwohnern von 50% angegeben, für Berlin von 29%. Mit 17% hat Wien – abgesehen von der speziell in diesem Bereich bestehenden Vergleichbarkeitsproblematik – im internationalen Vergleich sicher Aufholbedarf.
Städte sind nicht immer die gesündesten Orte zum Leben
Die durchschnittliche Lebenserwartung der 2001 in den Urban-Audit-Städten Geborenen ist 79 Jahre für Frauen und 73 Jahre für Männer. Diese Werte liegen etwa um zwei Jahre unter dem Durchschnitt der EU-27. Die Top-30-Städte bezüglich der Lebenserwartung ihrer Einwohner liegen in Deutschland, Italien, Spanien, Belgien, Großbritannien und Österreich.

Suburbanisation und Zentren der Zuwanderung

In der Periode 1996 bis 2001 nahm in einem Drittel der Städte die Bevölkerung zu, in einem Drittel blieb sie konstant und in einem Drittel ging sie zurück. Demgegenüber war eine eindeutige Tendenz der Suburbanisation zu verzeichnen: In nahezu allen Umlandgebieten wuchs die Bevölkerung. Größere Städte sind Magneten der internationalen Migration, kleinere eher der Binnenwanderung. So lag der Anteil an „Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürgern“ 2001 in Wien bei 14%, in Linz bei 11% und in Graz lediglich bei 8%.

Städtetypologie

Aufgrund von 7 Indikatoren9 werden die 258 Städte zu drei Gruppen zusammengefasst: Internationale Zentren, spezialisierte Pole und regionale Pole. Jede dieser Gruppen ist zusätzlich noch in Untergruppen gegliedert: Wien gehört der Gruppe „Internationale Zentren – etablierte Hauptstadt“ an. Dabei handelt es sich um Städte, die fest an der Spitze der jeweiligen nationalen Städtehierarchie positioniert sind, mit diversifizierter Wirtschaft und einer Konzentration an Wohlstand. Linz und Graz werden demgegenüber der Gruppe „Spezialisierte Pole – moderne Industriezentren“ zugerechnet. Diese sind sowohl Plattformen für internationale Aktivitäten als auch für exportorientierte lokale Unternehmen und durch ein hohes technologisches Innovationsniveau charakterisiert.

Einpersonenhaushalte

Einpersonenhaushalte konzentrieren sich tendenziell in den Kerngebieten der Städte. Ihr Anteil nimmt laufend zu. Erstaunlich ist aber die Spanne dieses Anteils. Innerhalb der 29 erfassten Hauptstädte bilden Amsterdam (55%), Kopenhagen (53%) und Paris (52%) die Top 3. Am anderen Ende liegen Ankara (6%), Valletta (15%) und Levkosia (18%). Aber auch Madrid (24%) steht noch ein großer Wandel der Haushaltsstruktur bevor. Die österreichischen Städte liegen mit 45% (Wien) bzw. 43% (Graz, Linz) im oberen Drittel.

Blitzlichter

Nach Palermo (95%) liegt Wien mit 65% an 2. Stelle hinsichtlich jenes Anteils der Bevölkerung, der in extrem dicht besiedelten Bezirken10 lebt. Bei der Anzahl der Tage mit Ozonbelastung („Sommer-Smog“) liegt Graz mit 49 Tagen an 4. Stelle. Demgegenüber verzeichnete Linz nur 16 „Ozon-Tage“.

Resümee: Auf „Update“ gespannt!

Angesichts der Tatsache, dass immer mehr Menschen in Städten leben, werden alle im 21. Jahrhundert relevanten sozialen, ökologischen und ökonomischen Fragen vor allem in den Städten zu beantworten sein. Städten kommt dabei die Rolle von Labors für zukünftige Entwicklungen zu. Wissen über die Entwicklung von Städten ist Wissen über die Möglichkeiten der Nutzung zukünftiger Chancen und zur Bewältigung zukünftiger Herausforderungen. „It’s the cities, stupid“ – daran werden wir arbeiten müssen. Mit der „Urban Audit“-Initiative trägt die Europäische Kommission jedenfalls wesentlich zur Erhöhung des Wissens über Städte bei, so sehr man über die Datenqualität im Detail diskutieren kann und soll. Die jüngste Runde der Datensammlung begann im Mai 2006 und sollte im September 2007 abgeschlossen werden. Auf ihre Ergebnisse darf man gespannt sein.




1 Der vollständige Bericht – leider nur in Englisch – findet sich unter: ec.europa.eu
regional_policy/urban2/audit_en.htm
2 Atlas der Globalisierung: Das unaufhaltsame Wachstum der Städte, Seite 34.
3 UN-Habitat (2006) „State of the World’s Cities 2006/2007”.
4 Alle Städteprofile finden sich unter:
www.urbanaudit.org/CityProfiles.aspx
5 State of the European Cities Report, Seite V.
6 Städte mit zwischen 1 und 2 Millionen Einwohnern. BRP pro Kopf nur für 11 Städte verfügbar.
7 Nur für 18 EU-Hauptstädte liegen die Werte vor.
8 Definiert als Anteil der Arbeitslosen an den Personen im erwerbsfähigen Alter (16 bis 64 Jahre).
9 BIP pro Kopf, Arbeitsproduktivität, beschäftigte Einwohner, Beschäftigungsrate der 55- bis 64-Jährigen, Langzeitarbeitslosigkeit der 55- bis 64-Jährigen, Anteil der Höherqualifizierten und Jugendarbeitslosigkeit.
10 Mehr als 10.000 Einwohner pro Quadratkilometer.

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