Volkswirtschaftliche Kosten der Nichtintegration

Volkswirtschaftliche Kosten der Nichtintegration

Während über die Kosten der Integration – vor allem auf der politischen Ebene – immer wieder heftig diskutiert wird, wurde die Frage: „Was kostet die Nichtintegration?“ bisher so gut wie nicht gestellt. Erstaunlich! Denn eigentlich ist klar: „Die Kosten für Nichtintegration sind unverhältnismäßig höher, als die Finanzierung der Integrationsmaßnahmen“ (Prof. Dr. Rita Süssmuth).

 

Ein blinder Fleck
Dass es Integration nicht gratis gibt, ist unbestritten. Über die (politisch) vertretbaren, also „leistbaren“ Kosten von Integrationsmaßnahmen wird in der öffentlichen Debatte über die Eingliederung von benachteiligten Gruppen immer wieder heftig diskutiert. Vielfach wird dabei lediglich auf die Integration von Ausländerinnen und Ausländern fokussiert. Umgekehrt werden die Kosten von Nichtintegration in der sozialpolitischen Debatte nahezu nicht thematisiert. Nichtintegration scheint es gratis zu geben. Bei Gratis¬angeboten sollte man aber bekanntlich immer etwas vorsichtig sein, sie hinterfragen. Eine gute Möglichkeit dazu bietet „Google-Scholar“, das auf wissenschaftliche Artikel spezialisiert ist. Also auf ins Netz.
Auf die Suchfrage „volkswirtschaftliche Kosten der Nichtintegration“ werden nur 27 Treffer angezeigt. Dabei wird überwiegend auf einen Artikel über die „Kosten der Nichtintegration von Zuwanderern“1 aus dem Jahr 2001 verwiesen, dazu später. Ansonst – Schweigen im Walde. Das Thema scheint nicht von Interesse. Bei der Recherche für diesen Artikel fiel mir aber Folgendes in die Hände:

Kinderarmut hat gravierende Folgen für Volkswirtschaft
Der Spiegel Online von 15. November 2007 kommentierte den jüngsten Bericht des deutschen Kinderhilfswerks. Demnach ist die Zahl der armen Kinder innerhalb von 40 Jahren um das 16-fache gestiegen: Vor 42 Jahren war demnach nur jedes 75. Kind unter sieben Jahren zeitweise oder dauerhaft auf Sozialhilfe angewiesen, 2006 war es jedes 6. Kind. Das bedeutet, dass sich die materielle Armut von Kindern etwa alle zehn Jahre verdoppelt hat. Laut dem Bericht gelten mittlerweile 14% aller Kinder offiziell als arm! Besonders betroffen sind Kinder aus Einwandererfamilien.
Die Armut hat dem Bericht zufolge erhebliche Auswirkungen: Sozial benachteiligte Kinder ernähren sich ungesünder, bewegen sich weniger, bleiben immer häufiger in isolierten Wohnvierteln unter sich, ohne gute Schulen, Ausbildungsmöglichkeiten und ausreichend soziale Unterstützung. Zudem seien gerade die vielfach fehlenden Bildungschancen ein Problem, das „Armutskarrieren“ programmiert. „So gehen wichtige Potenziale der Kinder und Jugendlichen verloren“, sagt dazu der Präsident des Hilfswerks, Thomas Krüger. „Das werde mittelfristig gravierende Auswirkungen auf die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit haben.“ Laut dem Bericht wies jedes 3. Kind bei der Einschulung 2004 therapiepflichtige Entwicklungsstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten auf. Jedes 4. Schulkind habe die Schule „ohne Beherrschung des Mindestmaßes an Kulturtechnik“ verlassen, die selbst Hilfsarbeiten voraussetzen – mit stark steigender Tendenz.

Hauptrisiko: Nichtintegration
Natürlich, diese Befunde beziehen sich auf Deutschland. Aber – de te fabula naratur! In Österreich waren 2005 12,3% der Bevölkerung armutsgefährdet.2 Mit 30% liegt die Gefährdungsquote bei Ausländerinnen und Ausländern (ohne EU/EFTA) am höchsten. 27% beträgt sie bei Alleinerziehenden, 25% bei alleinlebenden Pensionsbeziehern und 20% bei Personen mit maximal Pflichtschulabschluss. „Im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit gibt es bei den Ausländerinnen und Ausländern ein interessantes Detail: Sie arbeiten zu einem höheren Anteil als Hilfsarbeiterinnen und -arbeiter (was nur z. T. mit dem schlechteren Ausbildungsniveau erklärt werden kann) und sind dann wesentlich stärker vom Armutsrisiko betroffen als ihre österreichischen Kolleginnen und Kollegen, nämlich zu 25% versus 11%.“3
Und Armut macht krank. Dies wurde erst jüngst wieder einmal von einer Untersuchung der Klinischen Abteilung für Arbeitsmedizin des Wiener AKH bestätigt: Mit der Dauer der Arbeitslosigkeit verschlechtert sich der Gesundheitszustand, vor allem wird der psychische Zustand vieler Betroffener am meisten in Mitleidenschaft gezogen. Eine weitere Gruppe, die besonders gefährdet ist, an Depressionen zu erkranken, sind Menschen mit Migrationshintergrund.4
Angesichts dieser Fakten wird auch die Antwort des Leiters des österreichischen Wirtschaftsforschungsinstituts (WIFO), Karl Aiginger, auf die Frage „Was sind eigentlich die Hauptrisiken für den Standort Österreich derzeit?“ verständlich. Klar stellte er fest: „Die Nichtintegration der Migranten und das zu geringe Bewusstsein, dass man im Forschungsbereich mehr machen muss.“5
„Was kostet die Integration?“ ist die inhaltlich falsche Frage. Die richtige Fragestellung lautet: „Was kostet die Nichtintegration?“

Kosten der Nichtintegration …
Auf EU-Ebene gibt es immerhin einzelne Diskussionsbeiträge zu diesen Kosten. So wurde etwa im Auftrag der Generaldirektion für Beschäftigung und Soziales eine Studie zu den „Kosten unterlassener Sozialpolitik“ erstellt.6 Als ein Bereich der Sozialpolitik werden dabei Investitionen in aktive Eingliederungsmaßnahmen gesehen. Dadurch sollen die Aussichten der Gruppen und Personen verbessert werden, die ohne Hilfe wahrscheinlich nicht in der Lage sind, sich am Wirtschaftsleben zu beteiligen. „Die unzureichende Nutzung des Humankapitals in der EU und die weitreichenden Kosten für die Vergeudung in der Wirtschaft (einschließlich Kosten für gesundheitliche Probleme, Verbrechen und Folgekosten) dürften pro Jahr schätzungsweise zwischen 1 und 2 Billionen Euro (12–20% des BIP) liegen.“
Angesichts dieser Größenordnung ist es umso erstaunlicher, dass dieses Potenzial für „Kostenreduktionen“ so wenig thematisiert wird. Aber wahrscheinlich liegt es daran, dass diese Kosten überwiegend ei¬nerseits direkt von den – politisch schwachen – Betroffenen getragen werden. Ist nicht auch bei uns seit langem der Umstand bekannt, dass z. B. viele Migrantinnen und Migranten Beschäftigungen weit unter ihrem Qualifikationsniveau ausüben? Die bosnische Ärztin als Krankenpflegerin, der moldawische Dolmetscher als Masseur. Wir alle kennen diese Fälle, und wir leisten uns diese Vergeudung von Humanressourcen weiterhin.
Erschütternde Beispiele für diese Vergeudung von Humanressourcen bietet der Dokumentationsfilm „Chance Migration – fremd, stark, innovativ, gleich“. Er entstand im Rahmen der EQUAL-Entwicklungspartnerschaft „InterCulturExpress“ und ist über die Informationsstelle gegen Gewalt (www.aoef.at) zu beziehen.
Andererseits werden die Kosten der Nichtintegration vielfach nicht von der zuständigen Bundesebene, sondern von der kommunalen und regionalen Ebene getragen. Eine Internalisierung dieser aus Bundessicht „externen“ Kosten würde das notwendige Umdenken beschleunigen.
Zur Frage der Kosten der ungenügenden beruflichen Integration von Zuwanderern liegen zumindest für die BRD Kostenschätzungen vor. Nach der eingangs erwähnten Studie sind die Kosten der Nichtintegration von Zuwanderern „mit 1–2% des Sozialprodukts bzw. mit jährlich ca. 20 bis 40 Milliarden Euro und mit 10 bis 20 Milliarden Euro an entgangenen Staatseinnahmen anzusetzen“7. Eine zweite Studie, die allerdings nur auf die sektoralen Integrationsdefizite der ausländischen Beschäftigten abstellt, errechnete Nichtintegrationskosten „von 1,2% der ge¬samten Wertschöpfung“8.
Kosten der Nichtintegration:
- Höhere Leistungen der Arbeitslosenversicherung,
- höhere Sozialtransfers,
- höhere Gesundheitsaufwendungen,
- höhere Sicherheitsaufwendungen,
- (größeres menschliches Leid9).

… mindestens 2,4 bis 4,8 Milliarden Euro
Gehen wir davon aus, dass die relativen Kosten der Nichtintegration in Österreich gleich hoch wie in Deutschland sind und vergessen wir kurz alle sonstigen strukturellen Unterschiede. 2007 verzeichnete Österreich ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 241 Milliarden Euro. Demnach würden sich die Kosten der Nichtintegration von Zuwanderern hierzulande auf mindestens 2,4 bis 4,8 Milliarden Euro belaufen. Welcher Manager könnte es sich leisten, ein solches „Kostenreduktionspotenzial“ nicht zu nutzen?
Überdies scheint Österreich über ein überproportionales Kostenreduktionspotenzial zu verfügen. Nach einem von der EU veröffentlichten Index, der die Integrationspolitik für Migrantinnen und Migranten von 28 Ländern bewertet, liegt Österreich in der Gesamtreihung nur an vorletzter Stelle. Überhaupt an letzter Stelle liegt Österreich beim Teilindikator „Zugang zur Staatsbürgerschaft“, an 27. Stelle hinsichtlich der „Familienzusammenführung“, am 22. Platz bei der Antidiskriminierungspolitik und nur an 20. Stelle beim Indikator „Zugang zum Arbeitsmarkt“. Da¬bei liegt die BRD übrigens am 16. Rang.
Migrant Integration Policy Index: Europe’s integration policies at your fingertips
www.integrationindex.eu
printversion/2597.html
Jan Niessen et al., British Council, finanziert durch das INTI-Programm der EU
Wenn man an die Kosten der Nichtintegration denkt, dann sollte man aber nicht nur höhere Kosten für Arbeitslosenversicherungen, Sozialtransfers und Gesundheitsaufwendungen im Auge haben. Wichtig sind auch die Kosten der nicht genützten Potenziale und Chancen. Personen mit Migrationshintergrund können mit ihren spezifischen Qualifikationen wesentlich zur Verbesserung der internationalen Marktchancen heimischer Unternehmen beitragen. Dies ist wichtig, denn an dieser Internationalisierung führt im Zeitalter der Globalisierung bekanntlich kein Weg vorbei. Bei Personen mit Migrationshintergrund handelt es sich also auch um ein wichtiges endogenes Potenzial, das neue Chancen eröffnet.

¬Sichtweise den heutigen Realitäten anpassen
Der Umgang mit gesellschaftlichen Herausforderungen hängt entscheidend von der Art ihrer Wahrnehmung ab. Personen mit Migrationshintergrund werden in der öffentlichen Diskussion noch immer überwiegend mit den für die 70er-Jahre typischen „Gastarbeitern“ (fleißig, aber unqualifiziert und somit eine „Problemgruppe“ am Arbeitsmarkt) assoziiert. Natürlich gibt es diesen Typus noch immer. Aber es gibt in der Zwischenzeit auch viele Höchstqualifizierte und Selbständige. Letztere stehen im Mittelpunkt einer von der Stadt Wien gemeinsam mit der Wiener Wirtschaftskammer 2007 abgeschlossenen Studie zu den „ethnischen Ökonomien“ in Wien.
Der Begriff „ethnische Ökonomien“ bezeichnet alle Wiener Unternehmen mit Migrationshintergrund. Unter „ethnische Ökonomien“ (= ethnische Unternehmen) werden in der Studie einerseits Unternehmerinnen und Unternehmer mit nicht-ös¬terreichischer Staatsbürgerschaft und andererseits österreichischer Unternehmerinnen und Unternehmer mit Migrationshintergrund (= eingebürgerte Personen der 1. und 2. Generation) zusammengefasst. Da man bisher überraschend wenig über diese Unternehmen wusste, hatte die Studie das Ziel, erstmals den Bestand und das wirtschaftliche Potenzial zu erheben. Ein weiteres implizites Ziel der Studie war es, zu einer Änderung der Sichtweise von Personen mit Migrationshintergrund beizutragen: Erfolgreiche Unternehmerinnen und Unternehmer passen nicht ins Bild „Problemgruppe“. Aber sie passen ins Bild: Bestehende Potenziale und Chancen nutzen!

„Ethnische Ökonomien: Bestand und Chancen für Wien“
Für die Studie stellte die WKW den gesamten Datensatz ihrer Mitglieder zur Verfügung. Es wurde damit eine detaillierte Analyse aller 53.064 aktiven Einzelunternehmerinnen und -unternehmer10 in Wien (Vollerhebung mit Stand August 2006) durchgeführt. Zentrale Ergebnisse sind:
Durchführung: L&R Sozialforschung, Wien 2007
Auftraggeber: WKW und Stadt Wien (MA 27, MA 18 und MA 17)
In die Begleitgruppe eingebunden: WAFF und WWFF
Die Kurzfassung der Studie findet sich auf: www.lrsocialresearch.at
- Größenordnung: Fast 16.000 Unternehmerinnen/Unternehmer und somit etwa 30% der Wiener Einzelunternehmerinnen und -unternehmer (EPUs) sind der ethnischen Ökonomie zuzurechnen. 11% dieser EPUs besitzen die österreichische Staatsbürgerschaft (d. h. sie sind eingebürgert), 18% haben eine ausländische Staatsangehörigkeit. Letztere unterteilen sich in 29% (4.607) Polinnen und Polen, 7% (1.096) stammen aus der Tschechoslowakei und ihren Nachfolgestaaten, 6% (918) sind Deutsche, 5% (764) stammen aus Ex-Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten ohne Slowenien, gefolgt von 334 (2,1%) türkischen Unternehmerinnen und Unternehmern.
- Sparten: Die Unternehmen mit Migrationshintergrund konzentrieren sich auf drei Sparten: Gewerbe und Handwerk (36%), Handel (31%) und Information und Consulting (30%), wobei je nach Herkunftsland überdurchschnittliche Konzentrationen auf bestimmte Branchen feststellbar sind.
- Beschäftigung bei Einzelunternehmen: Die laut WKW-Datenbank 15.601 ethnischen Unternehmen11 haben 5.014 Beschäftigte. Unternehmen mit Migrationshintergrund haben durchschnittlich 0,6 Beschäftigte, jene mit ausländischer Staatsangehörigkeit nur 0,14 Beschäftigte. Demgegenüber haben österreichische EPUs in Wien derzeit durchschnittlich 0,8 Beschäftigte. Für „ethnische“ GmbHs, AGs und ausländische Rechtsformen wurde die Zahl der unselbständig Beschäftigten auf insgesamt 11.575 geschätzt. Insgesamt sind also im Bereich der ethnischen Ökonomien in Wien offiziell 16.589 Personen beschäftigt.
- Unternehmensgründungen: Zwischen 2000 und 2005 sind 7.455 ausländische Unternehmen in Wien gegründet worden. Die Gründerinnen und Gründer sind im Schnitt jünger als die österreichischen Gründerinnen und Gründer, überproportional viele sind jünger als 24 Jahre.
- Räumliche Verteilung in Wien: Zusammengerechnet machen die ethnischen Ökonomien im 15. Bezirk 44% aller Unternehmen aus. In den Bezirken 5, 10, 16 und 17 bewegt sich ihr Anteil jeweils zwischen 36 und 41%.

Wirtschaft entdeckt Potenzial
Dieses wirtschaftliche und beschäftigungsmäßige Potenzial der ethnischen Ökonomien ist von zunehmender Bedeutung. Dies gilt für alle städtischen Ballungszentren. Es zeichnen sich aber auch Veränderungen in der unternehmerischen Rekrutierungs-, Beschäftigungs- und Weiterbildungspolitik hinsichtlich qualifizierter Personen mit Migrationshintergrund ab. Vor allem größere, international orientierte Unternehmen verfolgen teilweise bereits eine gezielte Personalpolitik zur Nutzung dieses endogenen Potenzials an Arbeitskräften. Dies zeigen erste Befunde einer noch laufenden Studie.
Vielfach sind größere, international agierende Firmen Trendsetter für neue Sichtweisen. Geänderte Sichtweisen der Wirtschaft führen in der Regel zu Änderungen im öffentlichen Diskurs. In der Integrationsdebatte sollte jedenfalls in Zukunft die Reduktion der Kosten der Nichtintegration eine wichtige Zieldimension sein.

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