Pflege zu Hause – ein aktuelles Problem

Pflege zu Hause – ein aktuelles Problem

Das Problem der „häuslichen Pflege“ zerfällt in zwei Teile, einerseits geht es um Pflege, andererseits um Betreuung, obwohl die Grenzen zwischen den beiden Bereichen – abhängig von der jeweiligen Diagnose, der Lebenssituation und den häuslichen Möglichkeiten – nicht exakt gezogen werden können. Es sind aber zwei Themen, über die zu reden ist.

 

Das Problem der Pflege wurde mit der Pflegesicherung 1993 einer mehr oder weniger befriedigenden Lösung zugeführt: Es wurden in sieben Stufen pauschalierte Geldleistungen geschaffen und eine Vereinbarung zwischen Bund und Ländern getroffen, der zufolge Soziale Dienste bis zum Jahr 2010 flächendeckend ausgebaut werden. Trotz einiger Kritik im Detail (vgl. z. B. Pfeil 1994) konnte die Pflegesicherung der stationären Pflege, vor allem aber der Pflege in Privathaushalten, neue Perspektiven ermöglichen. Die Pflegesicherung 1993 muss daher als Antwort auf das bereits Ende der Siebzigerjahre aufgezeigte Problem der familiären Armutsbedrohung durch Pflegebedarf (siehe BMS 1979) gelten. Als weiteres Standbein der extramuralen Pflege kann die Aufnahme der medizinischen Hauskrankenpflege in den Pflichtleistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen im Jahr 1991 gelten.

Kaufkraft des Pflegegeldes
Allerdings ist es nicht gelungen, die Kaufkraft des Pflegegeldes über die Jahre seit 1993 zumindest zu erhalten. Zwischen 1996 und 2008 wurde das Pflegegeld nur ein Mal an die Teuerung angepasst. Dadurch sank nicht nur seine reale Kaufkraft, sondern auch der Anteil des Pflegegeldes an den Bundesausgaben. Wäre das Pflegegeld seit 1996 mit dem jährlichen Pensionsanpassungsfaktor aufgewertet worden, müsste es heute um rund 12% höher liegen. Im September 2008 hat der Nationalrat das Pflegegeld auf Anregung von BM Buchinger neuerlich erhöht.
Zweitens galt und gilt das Pflegegeld nur als „pauschalierter Zuschuss“ zu den Pflegekosten. Offensichtlich hat der Gesetzgeber zumindest billigend in Kauf genommen, dass ein Teil des Pflegegeldes nicht zur Begründung regulärer Beschäftigungsverhältnisse herangezogen wird, son¬dern als innerfamiliäre Transfer- oder als Geldleistungen für andere nahe stehende Personen (Nachbarschaftshilfe) verwendet wird. Die Betreuungs- und Hilfs¬maßnahmen werden1 daher überwiegend von Angehörigen geleistet, nur ein Drittel der (in der ÖBIG-Studie, BMSG 2002) in Privathaushalten lebenden BezieherInnen der Pflegegeldstufen 3–7 nahm 2001 Soziale Dienste in Anspruch. Das sind rund 51.400 Personen. Auch ausländische 24-Stunden-Betreuungskräfte werden nur von einem kleinen Teil der PflegegeldbezieherInnen genutzt.

Stark medizinisch ausgeprägte Orientierung
Ein weiteres Problem, das spätestens in der Debatte um die pflegeergänzende Betreuung schlagend wird, ist ebenfalls bereits in der Einigung von 1993 begründet. Entgegen den Forderungen der Behindertenorganisationen, die in den frühen neunziger Jahren im politischen Diskurs um die Pflegesicherung federführend waren und eine möglichst umfassende, aber wenig regulierte (finanzielle) Absicherung ihrer Unterstützungs- und Pflegebedürfnisse gefordert haben, um in hohem Grad selbstbestimmt leben zu können, hatte die dann letztendlich 1993 beschlossene Lösung von Anfang an eine stark medizinisch ausgeprägte Orientierung. Die Definition der Pflegegeldstufen und die Einstufungsverordnung gehen weitgehend von körperlichen Defiziten aus, die einer pflegerischen Unterstützung bedürfen. Soziale und kulturelle Bedürfnisse pflege- und unterstützungsbedürftiger Personen werden kaum berücksichtigt. Ebenso problematisch ist bislang die Einstufung von demenzkranken Menschen, bei denen ebenfalls andere Aspekte als nur der körperliche Zustand berücksichtigt werden müssten2.
Die ab dem Sommer 2006 offen geführte Diskussion um die Legalisierung außerfamiliärer Betreuungskräfte und die Kosten dieser Legalisierung waren also bereits in der prinzipiellen Fundierung der Pflegesicherung angelegt, allerdings vor dem Hin¬tergrund anderer Rahmenbedingungen: 1993 waren die Sozialen Dienste noch kaum ausgebaut, die häusliche Pflege wurde zu einem Großteil von Angehörigen oder durch Nachbarschaftshilfe erbracht, und zwar in der Regel unentgeltlich3. Erst die durch das Pflegegeld vergrößerte Entscheidungsautonomie und damit Nachfrage nach Zukauf von Pflegedienstleistungen und anderen Unterstützungen haben ein ausdifferenziertes Angebot legaler, halblegaler und nicht legaler Dienstleistungsangebote in den verschiedensten Formen geschaffen.4
Für den über Pflege hinausgehenden Betreuungsbedarf erstreckt sich dieser „pauschalierte Beitrag“ zur teilweisen Abgeltung von Mehraufwendungen nicht. Wahrscheinlich war (und ist) dieser Kompromiss notwendig, um die Pflegesicherung, die bei einer Ausweitung auf die Absicherung der Risken von Pflege und Betreuung erheblich teurer gekommen wäre, überhaupt beschließen (und finanzieren) zu können. Daraus ergibt sich zumindest implizit eine Verantwortungsteilung: Für die Pflege ist die Pflegesicherung des Bundes und der Länder (pauschalierte Geld- und Sachleistungen) zuständig, für darüber hinausgehende Abdeckung sozialer und kultureller Bedürfnisse und für über den Pflegebedarf hinausgehende Betreuungsbedürfnisse ist (weiterhin) die betroffene Person und ihre Familie (und in weiterer Folge die familienunterstützenden Leistungen der Gemeinde) verantwortlich.
Seit Einführung der Pflegesicherung im Jahr 1993 sind jedoch wesentliche Veränderungen zu beobachten, die einerseits direkt mit der Pflegesicherung zusammenhängen (der Ausbau sozialer Dienste ermöglicht immer mehr pflegebedürftigen Menschen das Verbleiben in der eigenen Wohnung), andererseits die soziologischen Veränderungen der Familie. Es sinken die Möglichkeiten von Familienangehörigen (in der Regel Frauen), den immer länger und aufwendiger werdenden Betreuungsbedürfnissen nachzukommen, und das bei immer länger werdenden Perioden, in denen (überwiegend ältere) pflegebedürftige Personen allein in ihren – oft viel zu großen – Wohnungen leben.
Der (mehr oder weniger vorübergehende) Einzug einer betreuenden, unterstützenden und Gesellschaft leistenden Person in diese Wohnung liegt daher nahe, insbesondere wenn es dafür ein ausreichendes Angebot aus Mittel- und Osteuropa zu halbwegs erschwinglichen Preisen gibt. Hier entstand in den letzten 15 Jahren ein arbeits-, sozialversicherungs- und steuerrechtlicher Grauraum zwischen unentgeltlicher Unterstützung, legaler sowie ille¬galer Beschäftigung, aus dem schließlich ein veritabler Schwarzmarkt entstanden ist.
Allerdings werden diese Betreuungsleistungen nur von einer deutlichen Minderheit aller PflegegeldbezieherInnen wahrgenommen (wir schätzen von rund 20.000 Haushalten, siehe Prochazkova/Schmid 2006, Prochazkova/Rupp/Schmid 2008), die Mehrheit der PflegegeldbezieherInnen kommt, entweder weil der Bedarf dafür nicht besteht oder weil das Angebot zu teuer ist, ohne diese Unterstützungsleistungen aus.
Dieses Angebot an Betreuung in der Familie, dessen Preise sich am Beginn dieses Jahrzehnts auf etwa 1.500 Euro im Monat eingependelt hatte (vgl. Prochazkova/Schmid 2005), ist/war5 für viele pflegebedürftige Personen und ihre Angehörigen kostengünstiger als die Kosten (Verwertung des Eigentums, Kostenbeiträge, Angehörigen- bzw. Erbenregress, siehe Schmid 2008) von Pflegeheimen. Vor diesem Hintergrund bildete sich in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein schwarzer Markt vermittelter Betreuungskräfte, vor allem aus der Tschechischen Republik und der Slowakei, aber auch (in geringerem Ausmaß) aus Polen und Ungarn, heraus. Hier wurden und werden Betreuungsleistungen in Privathaushalten um gerade noch erschwingliche Preise, aber fernab jeder arbeits- und gewerberechtlichen Regulierung erbracht. Üblicherweise lösen sich 2 BetreuerInnen in der Betreuung eines Haushaltes im 14-Tage-Turnus ab6. Die monatliche Belastung des einzelnen Haushalts macht etwa 1.500 Euro aus7.
Als Folge der von polizeilichen Anzeigen ausgelösten großen „Pflegedebatte“ (eigentlich eine „Betreuungsdebatte“) des Sommers 2006 wurde 2007 eine gesetzliche Regelung der pflegeergänzenden Haus¬betreuung, verbunden mit einer Förderung der entstehenden Mehrkosten, geschaffen. Mit dem Hausbetreuungsgesetz und der Novelle zur Gewerbeordnung wurde die legale Möglichkeit für selbständige und unselbständige Hausbetreuung geschaffen. Mit dem neuen § 21b des Bundespflegegeldgesetzes gibt es nun die Möglichkeit, dass pflegebedürftigen Personen 80% der durch die Sozialversicherungspflicht ihrer jetzt legalen BetreuerInnen entstehenden Mehrkosten gefördert werden (dies wurde nun nach einer Evaluierung von Sozialminister Buchinger auf 100% der entstehenden Mehrkosten ausgeweitet).
Freilich, Geld (allein) pflegt und betreut nicht. Für die nicht von Familie, Nachbarschaft, soziale Dienste und 24-Stunden-BetreuerInnen abgedeckten Pflege- und Betreuungsbedürfnisse müssen Lösungen gefunden werden. Vor Ort, also in der Gemeinde.

Literatur
Badelt, Christoph/Holzmann-Jenkins, Andrea/Matul, Christian/Österle, August (1997): Analyse der Auswirkungen des Pflegevorsorgesystems. Wien.
Behning, Ute (1999): Zum Wandel der Geschlechterrepräsentation in der Sozialpolitik. Ein policy-analytischer Vergleich der Politikprozesse zum österreichischen Bundespflegegeldgesetz und zum bundesdeutschen Pflege-Versicherungsgesetz, Opladen.
Bundesministerium für Soziale Verwaltung (1979): Kampf gegen die Armut in Österreich – Maßnahme – Probleme – Konzepte, Wien.
Hovorka Hans/Bauer, Ingrid/Sigot, Marion/Schmid, Tom (1996): Familienpolitische Begleitstudie zum Pflegegeld (FAPFL), Endbericht, Wien – Klagenfurt/Celovec.
Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen (ÖBIG)/ Bundesministerium für soziale Sicherheit und Generationen (BMSG, 2004): Ausbau der Dienste und Einrichtungen für pflegebedürftige Menschen in Österreich – Zwischenbilanz. Endbericht. Wien.
Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO, 2008): Mittel- und langfristige Finanzierung der Pflegevorsorge. Wien (Forschungsbericht).
Pfeil, Walter (1994): Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, Wien.
Prochazkova, Lucie/Schmid, Tom (2005): Pflege im Spannungsfeld zwischen Angehörigen und Beschäftigung. Wien (unveröffentlichter Projektendbericht).
Prochazkova, Lucie/Schmid, Tom (2006a): Pflege und Betreuung im Spannungsfeld zwischen Nötigem, Wünschenswertem und Finanzierbarem. In: Soziale Sicherheit 11/2006. Wien. S. 454–464.
Prochazkova, Lucie/Rupp, Bernhard/Schmid, Tom (2008): Evaluierung der 24-Stunden-Betreuung. Wien (unveröffentlichter Projektbericht).
Rupp, Bernhard/Schmid, Tom (2007): Die „Bis-zu-24-Stunden-Betreuung“ aus rechtlicher Sicht. In: Soziale Sicherheit 12/2007, S. 586–598.
Schmid, Tom (2008): Regress in der niederösterreichischen Sozialhilfe. Wien (SFS-Studie).
Sommerer, Renata (2006): Ausländische Krankenpflege in Österreich. Nichtveröffentlichte Diplomarbeit am Studiengang Sozialarbeit der Fachhochschule St. Pölten.



1 So bereits Badelt et.al. 1997 und wiederum das ÖBIG 2004.
2 Hier wird es nach der am 24. 9. 2008 beschlossenen Novelle zum BPGG erhebliche Verbesserungen geben, in dieser Novelle ist auch erstmals wieder eine kräftige Erhöhung des Pflegegeldes enthalten.
3 Siehe z. B. Hovorka et.al. 1997.
4 Dieser Zusammenhang ist noch sehr wenig erforscht (vgl. z. B. Behning 1999), hier bestünde seitens der Sozialwissenschaften großer Nachholbedarf.
5 Seit Dezember 2007 ist z. B. der Angehörigenregress im NÖSHG weitgehend abgeschafft.
6 Siehe Prochazkova/Schmid 2006, Sommerer 2006.
7 Wenn man von der Beobachtung der Websites der Vermittlungsagenturen ausgeht, kann von einem leichten Preisverfall seit Anfang dieses Jahrzehntes ausgegangen werden, siehe dazu mehr weiter unten in diesem Bericht.

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