Erneuerte EU-Sozialagenda: Richtungskorrektur oder Flickwerk?

Erneuerte EU-Sozialagenda: Richtungskorrektur oder Flickwerk?

Im Juli präsentierte die Europäische Kommission „Eine erneuerte Sozialagenda: Chancen, Zugangsmöglichkeiten und Solidarität im Europa des 21. Jahrhunderts“. In der öffentlichen Diskussion in Österreich ging diese Initiative in der „Staubwolke der einstürzenden“ Regierung unter. Schade, da sich ein näherer Blick auf die Sozialagenda lohnt, wie die nachstehende Einschätzung zeigt.

 

Gescheiterte Reformbemühungen …
Bereits nach den gescheiterten Referenden zum Entwurf einer EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden im Frühjahr 2005 zeigten Analysen, dass die als mangelhaft wahrgenommene soziale Ausrichtung der EU ein wesentliches Motiv für viele Nein-Stimmen war. Damit begann eine verhaltene Diskussion über die Notwendigkeit der Stärkung und Schär¬fung der sozialen Dimension der europäischen Politiken. Beim Frühjahrsgipfel am 13./14. März 2008 bestätigte der Europäische Rat, „wie wichtig die soziale Dimension der EU als Bestandteil der Lissabon-Strategie ist“, und hob insbesondere hervor, „dass die Wirtschafts-, die Beschäftigungs- und die Sozialpolitik stärker miteinander verzahnt werden müssen“.1 „Der Europäische Rat sieht dem Vorschlag der Kommission für eine erneuerte Sozialagenda mit Interesse entgegen; diese Agenda sollte eine entscheidende Rolle bei der Stärkung der sozialen Dimension der Lissabon-Strategie spielen, indem sie den neuen Realitäten in Gesellschaft und Arbeitswelt in Europa Rechnung trägt und auch Themen wie Jugend, Bildung, Migration und demografische Entwicklung sowie Fragen des interkulturellen Dialogs behandelt.“2
Doch bevor diese erneuerte Sozialagenda das Licht der Welt erblickte, erschütterte im Juni 2008 das irische Nein zum Reformvertrag von Lissabon die EU. Und wiederum spielten soziale Aspekte beim Votum eine entscheidende Rolle. Eine Erhebung im Auftrag der EU-Kommission ergab, dass „hauptsächlich junge Leute, Frauen und Arbeitslose gegen den Vertrag gestimmt hatten. Die Mehrheit der Berufstätigen, Manager und Rentner gaben dem Vertrag von Lissabon ihre Zustimmung.“3 Auch kommissionsintern gab es Stimmen, die die zunehmende Öffnung der Einkommensschere in Irland als wesentlichen Grund für den Erfolg der Gegner des Reformvertrages anführten.
Hinsichtlich ihrer notwendigen strukturellen Reformen ist die EU in den letzten Jahren von einer „Reformunfähigkeit“ charakterisiert, die jedem einzelnen ihrer Mitgliedsstaaten längst eine „rote Karte“ aus Brüssel eingebracht hätte. Vor diesem Hintergrund lohnt ein Blick auf die erneuerte Sozialagenda.

... und ein zu später Rettungsversuch
Am 2. Juli veröffentlichte die Europäische Kommission (= EK) die Mitteilung „Eine erneuerte Sozialagenda: Chancen, Zugangsmöglichkeiten und Solidarität im Europa des 21. Jahrhunderts“4. Diese baut einerseits auf den Ergebnissen der von der EK im Jahr 2007 durchgeführten öffentlichen Konsultationen über eine „Bestandsaufnahme der sozialen Wirklichkeit in Europa“ auf, andererseits sollen mit ihr konkrete Maßnahmen für die Umsetzung der neuen gesellschaftlichen Vision der EK für das Europa des 21 Jahrhunderts5 umrissen werden.
Den Ausgangspunkt der Überlegungen stellen die unveränderten, grundlegenden sozialen Ziele Europas dar, wie sie auch in der Charta der Grundrechte der EU zum Ausdruck kommen: „Die EU steht für harmonische, von Zusammenhalt und Integration geprägte Gesellschaften, die in funktionierenden sozialen Marktwirtschaften angesiedelt sind und die die Grundrechte respektieren.“6 Diese Ziele müssen aufgrund der neuen Entwicklungen – Globalisierung, technologischer und demografischer Wandel, Einwanderung und Klimawandel – zwar nicht verändert werden, wohl aber müssen die Mittel zu ihrer Erreichung an die neuen Rahmenbedingungen angepasst werden. Insbesondere an das deutlich gesteigerte Tempo des Wandels unserer Gesellschaften.
Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass den Europäern – so jedenfalls die Sicht der EK – heute beispiellose Chancen und mehr Wahlmöglichkeiten unter verbesserten Lebensbedingungen offenstehen. „Allerdings gibt es nach wie vor eine Schattenseite: Noch immer gibt es zu viele Nichterwerbstätige bzw. Arbeitslose und zu viele Schulabbrecher, was dazu führt, dass weiterhin zu viele Menschen (insbesondere Kinder und ältere Menschen) in Armut leben und sozial ausgegrenzt sind.“7 Außerdem kommen neue Probleme hinzu: eine Steigerung des Altenquotienten, eine Zunahme der Wohlstandskrankheiten, die 2008 einsetzende globale Konjunkturabschwächung sowie der drastische Anstieg der Lebensmittel- und Ölpreise. Alles dies belastet den armen Teil der Bevölkerung überproportional.
Deshalb brauche es eine erneuerte Sozial¬agenda. Diese darf sich nicht auf die klassischen Gebiete der Sozialpolitik beschränken, sondern muss bereichsübergreifend und mehrdimensional sein: Von der Arbeitsmarktpolitik bis zur Bildung, Gesundheit, Einwanderung und interkulturellem Dialog.
Dabei muss ihr „Schwerpunkt darauf liegen, den Bürgern die Möglichkeiten und die Fähigkeiten an die Hand zu geben, um ihr Potenzial voll ausschöpfen zu können, und zugleich denjenigen, die hierzu nicht in der Lage sind, zu helfen“.8

Mehrdimensionaler Ansatz – oder „von jedem Dorf ein Hund“?
Gestützt auf die drei Pfeiler Chancen, Zugangsmöglichkeiten und Solidarität werden danach für die sieben Prioritäten
1. Kinder und Jugendliche – das Europa von morgen,
2. in Menschen investieren, mehr und bessere Arbeitsplätze schaffen, neue Kenntnisse und Fertigkeiten entwickeln,
3. Mobilität,
4. länger und gesünder leben,
5. Bekämpfung der Armut und der sozialen Ausgrenzung,
6. Diskriminierungsbekämpfung und
7. Chancen, Zugangsmöglichkeiten und So¬lidarität auf globaler Ebene
nicht weniger als 31 Vorhaben (= Umsetzungsmaßnahmen) festgelegt.
Diese reichen von
- vagen Absichtserklärungen (z. B. sich für die soziale Verantwortung von Unternehmen einzusetzen) über die Ankündigung der Vorlage einer Reihe von
- Berichten und Konzepten (z. B. dem „1. Zweijahresbericht über die Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse“, über die „Verfügbarkeit von Kinderbetreuungseinrichtungen“ sowie eines umfassenden „Konzeptes in Bezug auf Kinderarmut“),
- Grünbüchern (z. B. über „Arbeitskräfte im Gesundheitswesen“),
- Vorschlägen für Empfehlungen (z. B. über die „Aktive Eingliederung“ oder über „Grenzüberschreitende Interoperabilität elektronischer Patientenakten“),
- Initiativen (z. B. für „Neue Kompetenz für neue Beschäftigungen“ oder zur „Verbesserung der digitalen Kompetenz und zur Überwindung der digitalen Kluft“),
- Mitteilungen (z. B. über „Schulbildung“, über die „Mehrsprachigkeit in der EU“, über „Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung“ oder über „Gesundheitliche Benachteiligungen“) bis zu einem
- „Richtlinienvorschlag über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung“.
Im Detail ist dazu anzumerken: Der letzterwähnte „Richtlinienvorschlag“ könnte nicht unerhebliche finanzielle Konsequenzen haben. Die Notwendigkeit. „das Nahrungsmittelhilfeprogramm für die bedürftigsten Bevölkerungsgruppen Europas neu zu strukturieren und erheblich auszuweiten“9, stellt wohl kaum einen Beweis für eine erfolgreiche Sozialpolitik dar. Auf den von der EK angekündigten „Ersten Zweijahresbericht über Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse“ darf man gespannt sein, ist doch die Diskussion gerade in diesem Bereich ein guter Indikator für den jeweils aktuellen Grad der neoliberalen Marktgläubigkeit in der EK. Einige Vorschläge, wie jener für eine „Richtlinie über Europäische Betriebsräte“, waren seit Jahren in den Laden, jetzt sind sie wenigstens am Tisch.
Positiv hervorzuheben ist auch die Feststellung der Kommission, „dass das BIP als Messgröße für die Wirtschaftsleistung nicht ausreicht, um politische Antworten auf die komplexen Fragen der heutigen Zeit zu formulieren“10. Als reiner Durchschnittswert gibt das BIP insbesondere keinerlei Auskunft über die Verteilung des Wohlstands. Es ist daher zu begrüßen, dass die Kommission die Entwicklung von Zielvorgaben für das Wohl der Bürger unterstützen wird, die über das Bruttoinlandsprodukt (= BIP) hinausgehen.
In Summe stellt die Agenda also einen wahrhaft bunten Strauß an Vorhaben dar. Es stellt sich nur die Frage, ob dieser Strauß imstande ist, Antworten auf die neuen Herausforderungen zu geben, oder ob er nur der Verzierung der einseitig auf die Interessen der Unternehmer ausgerichteten Lissabon-Strategie dient? Bevor dieser Frage nachgegangen wird, sollen aber zunächst einige Fakten zur sozialen Realität in Erinnerung gerufen und die sozialen Erwartungen der EU-BürgerInnen dargestellt werden.

Armutsgefährdung nimmt zu!
Eine gute Quelle dafür stellt der „Vierte Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt“ (= kurz: „4. Kohäsionsbericht“) mit dem Titel: „Wachsende Regionen, wachsendes Europa“11 dar, den die EK im Mai 2007 vorlegte. Seinen Angaben zufolge fehlen zur Erreichung der Beschäftigungsziele von Lissabon in der Union noch immer 23,5 Millionen Arbeitsplätze. 2004 waren durchschnittlich 16% der EU-Bevölkerung, das sind 75 Millionen Menschen (!), armutsgefährdet. Neben den AlleinerzieherInnen ist das Armutsrisiko besonders hoch bei jungen Menschen (19% in der Altersgruppe der unter 18-Jährigen) und bei den über 65-Jährigen. Interessant, weil normalerweise nicht angesprochen, ist aber auch eine andere Feststellung der EK in diesem Zusammenhang: „Die Mitgliedsstaaten mit dem geringsten Anteil an armutsgefährdeten Menschen weisen normalerweise auch die gleichmäßigste Einkommensverteilung auf.“12
Eine Zunahme der Einkommensdisparitäten, wie sie sich allein schon aus der Zunahme neuer, atypischer Beschäftigungsformen ergibt, lässt die Zahl der armutsgefährdeten Beschäftigten (= working poor) steigen. In Österreich betrug die Armutsgefährdung in Haushalten mit teilweiser Erwerbstätigkeit 1999 8%, 2006 aber bereits 15%. In Haushalten ohne Erwerbstätigkeit betrug die Armutsgefährdung demgegenüber bereits 1999 25%, 2006 aber schon 32%.

Öffnung der Einkommensschere: ein blinder Fleck
Im oben erwähnten „4. Kohäsionsbericht“ wurde die Bedeutung der Einkommensverteilung für die soziale Lage in den Mitgliedsstaaten angesprochen. Leider findet sich in der erneuerten Sozialagenda kein entsprechender Hinweis. Es wird nur allgemein auf die „Globalisierung als die prägende Kraft unserer Zeit“ hingewiesen, aber ihre Auswirkungen auf die Verteilung der Einkommen werden nicht erwähnt. Dabei ist die Bedeutung von Änderungen in der (funktionalen) Einkommensverteilung und ihrer Auswirkungen auf die Binnennachfrage evident. Als „unverdächtige“ Zeugen dafür seien das österreichische Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (BMWA) sowie das Deutsche Finanzministerium angeführt.
Im vom BMWA im Frühjahr 2008 publizierten „Österreichischen Außenwirtschaftsleitbild“ ist zu lesen: „Tatsache ist, dass im Zuge der Globalisierung in den letzten Jahrzehnten die Einkommensverteilung in den Industriestaaten eher ungleicher geworden ist. Zahlreiche Studien zeigen die Zusammenhänge von rückläufiger Lohnquote und Globalisierung (siehe IMF, 200713) bzw. dasselbe Phänomen auch als Folge der EU-Erweiterung.“14 Den Ursachen der stark rückläufigen Lohnquote soll auch eine vom Finanzministerium der BRD ausgeschriebene Studie auf den Grund gehen, insbesondere der Frage, ob es sich hierbei um eine vorübergehende oder nachhaltige Entwicklung handelt. Beantwortet werden soll auch die Frage, ob der Faktor Arbeit angemessen am wirtschaftlichen Erfolg partizipiert? Siehe Ausschreibungstext im Kasten.
Allerdings kann vermutet werden, dass, wenn sich selbst schon Finanzministerien diese Frage stellen, die evidente Antwort nur mehr „Nein“ lauten kann. Dies legen auch jüngste empirische Befunde aus Österreich nahe. So nimmt etwa der Anteil der Gewinneinkommen an der gesamten exportinduzierten Wertschöpfung zulasten der Lohn- und Gehaltseinkommen deutlich zu. „Ein Euro an Exporten war im Jahr 1995 mit Unternehmensgewinnen im Ausmaß von 0,12 Euro und mit Löhnen und Gehältern im Ausmaß von 0,34 Euro verbunden; acht Jahre danach lagen diese Werte bei 0,17 bzw. 0,26 Euro.“16 Somit erhöhte sich der Gewinnanteil um 42%, wohingegen der Lohnanteil um 24% abnahm. Solange aber der Faktor Arbeit nicht angemessen am wirtschaftlichen Erfolg beteiligt wird und sich dies in einer zunehmend ungleicheren Einkommensverteilung niederschlägt, stellen alle Maßnahmen im Sozialbereich nur „end of the pipe“-Reparaturen dar. Nachhaltig sind diese natürlich nicht.

Soziale Erwartungen der BürgerInnen
Im April 2008 wurden in einer „Eurobarometer“-Umfrage17 die Erwartungen der EU-BürgerInnen über die soziale Realität in zwanzig Jahren abgefragt. Die Befragung beleuchtet die Einschätzungen, ob eine Verbesserung oder eine Verschlechterung der allgemeinen Lebensbedingungen erwartet wird, wie sich die sozialen Verhältnisse bis 2028 entwickeln werden und wie die Gesellschaft mit den zukünftigen Herausforderungen umgehen sollte.
Fast die Hälfte der Befragten (49%) glaubt, dass es in den nächsten 20 Jahren zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen kommen wird. Nur 38% glauben an eine Verbesserung. In den Mitgliedsstaaten der alten EU15 beträgt der Anteil der Pessimisten alarmierende 56%, gegenüber nur 24% in den neuen Mitgliedsstaaten.
Bezüglich der Entwicklung der sozialen Verhältnisse glauben
- 80%, dass es zu einer Zunahme der sozialen Ungleichheit kommen wird, wobei dies 90% der Deutschen, aber „nur“ knapp mehr als die Hälfte der Esten und Malteser glauben;
- 70% glauben, dass es schwieriger sein wird, eine leistbare Wohnung zu finden, und
- 57% gehen von Lohnverlusten aufgrund der Konkurrenz mit den Schwellenländern aus.
Als wichtige Antworten der Politik auf die erwarteten Entwicklungen sehen 90% Maßnahmen, die zu einem signifikanten Rückgang der Einkommensdisparitäten führen! Immerhin 44% befürworten es stark, dass zukünftige Politiken auf eine Reduktion von finanziellen Ungleichheiten zielen sollten.
Insgesamt zeigt sich, dass im Bewusstsein der BürgerInnen Fragen der Einkommensverteilung eine zentrale Rolle spielen und von der Politik insbesondere Antworten in diesem Bereich erwartet werden.

„Camouflage“ der Lissabon-Strategie
Damit kommen wir zur Beantwortung der oben gestellten Frage: Ist die erneuerte Sozialagenda imstande, Antworten auf die neuen Herausforderungen zu geben, oder dient sie nur der sozialen Verprämung der „Lissabon-Strategie“?
In der Einleitung der Agenda wird festgestellt, dass die BürgerInnen in der Lage sein sollten, „sich aktiv in die Gesellschaft, in der sie leben, einzubringen und sich zu integrieren. Menschen und Regionen, die überfordert sind und mit dem schnellen Tempo des Wandels nicht Schritt halten können, müssen unterstützt werden.“18
Dazu ist zweierlei anzumerken:
Einerseits wird hier eine Sichtweise vertreten, die das Scheitern, das „Nicht-mithalten-Können“ als eine selbst verschuldete Misere sehen, der die Betroffenen schon selbst entrinnen müssen. Deshalb sollen die Autonomie und die Selbstverantwortung der bereits Exkludierten oder vom Ausschluss Bedrohten gefördert werden. „Chancen“ und „Zugangsmöglichkeiten“ sollen verbessert werden, selbst schuld, wer sie dann nicht nützen kann. Diese Betrachtung von gesellschaftlichen Entwick¬lungen in individuellen, persönlichen Kategorien ist zwar derzeit Mainstream. Für eine sozialere Gesellschaft zielführend ist sie allerdings nicht.
Andererseits sieht sich die Agenda „voll im Einklang mit der Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung und untermauert diese Strategie“. Die „Lissabon-Strategie ist aber eine ,Verstärker-Strategie‘ zur Dynamisierung der Binnenmarktkräfte und baut vor allem auf Innovationen, technischen Fortschritt und der stetigen Höherqualifizierung der Arbeitskräfte19“ auf. Damit „produziert“ sie gerade jenen sozialen Reparaturbedarf, der mit der Sozialagenda dann nachträglich behoben werden soll.
Aus diesen Gründen kann die Sozialagenda keine nachhaltigen Antworten auf die neuen Herausforderungen geben – bestenfalls hechelt sie den Entwicklungen immer nur hinterher. Insofern erfüllt sie wohl eher nur „polit-ästhetische“ Funktionen.
Die Neue Züricher Zeitung (NZZ), in EU-Fragen in der Regel ein „neutraler Externer“, gibt auf unsere Frage eine ähnlich eindeutige Antwort: „Es ist mit den Händen zu greifen und in allen Brüssler Cou¬loirs zu hören: Nach all der Kritik, sie habe die Sorgen der Bürger aus den Augen verloren und stattdessen eine ,neoliberale‘ Politik zugunsten der Großunternehmen betrieben, will die Kommission Barroso mit ihrer ,erneuerten Sozialagenda‘ ge¬gen Ende ihrer Amtsperiode ihr Image korrigieren und die ,soziale Dimension‘ Europas betonen … Eine klare Strategie oder auch nur ein Zusammenhang ist kaum zu erkennbar, vom meisten wird der umworbene Bürger nie erfahren.“20 Dem ist – bis auf einen Aspekt – wenig hinzuzufügen.

„Die EU“: der falsche Sündenbock!
Ein letzter, allerdings entscheidender As¬pekt ist aber bei der Beschäftigung mit der Sozialagenda noch zu berücksichtigen: „Maßnahmen in sozialen Bereich fallen primär in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten, … Die Befugnisse und Zuständigkeiten der EU in diesem Bereich sind beschränkt.“21 Vielmehr als die „Methode der offenen Koordination“ – also Anreize zur gemeinsamen Selbstverpflichtung ih¬rer Mitglieder – steht der EU im Sozialbereich nicht zur Verfügung. Und da Einigkeit darüber besteht, dass „die Entscheidungen über soziale Maßnahmen möglichst bürgernah, also auf nationaler Ebene oder darunter getroffen werden“22 müssen, erntet die EU bei Initiativen im Sozialbereich in der Regel rasch die „rote Subsidiaritäts-Karte“. Für die berechtigten Forderungen nach einer Stärkung der sozialen Dimension ist „die EU“ bei der derzeitigen Kompetenzlage also die falsche Adresse. So wird es auch vom BMWA gesehen.
„Ob die Schaffung eines echten „Europäischen Sozialmodells“ – wie es auch in der Lissabon-Agenda eingemahnt wird – dem Druck der Globalisierung besser standhalten könnte als die gegenwärtige, „fragmentierte“ Konstellation der Sozialpolitik in der EU, ist eine offene Frage. Zum einen wird die Fragmentierung der Sozialpolitik solange bestehen bleiben, solange Sozialpolitik eine Kompetenz der Mitgliedsstaaten bleibt und die Union nur koordinierende Funktion hat. … Dennoch ist mittelfristig im Zuge der Angleichung der Einkommensniveaus in der EU auch eine Annäherung an das Ideal eines ,Europäischen Sozialmodells‘ zu erwarten.“23
Die Stärkung der sozialen Dimension liegt also in der Kompetenz der jeweiligen Mitgliedsstaaten. Sie sind dafür verantwortlich. Die inhaltlich berechtigten Forderungen nach „einer grundsätzlichen Neuausrichtung der EU-Politik hin zu einer echten Sozialunion“24 berücksichtigen nur leider nicht die bestehenden rechtlichen Grundlagen. Bis zu deren Schaffung bleibt „der EU“ nur die Rolle als willkommener Sündenbock.



1 „Tagung des Europäischen Rates vom 13./14. März 2008 in Brüssel – Schlussfolgerungen des Vorsitzes“ EK 7652/08, Seite 4
2 Ebenda, Seite 9
3 www.wiwo.de/politik/informationsmangel-misstrauen-nationalstolz-298027/
4 KOM (2008) 412
5 „Chancen, Zugangsmöglichkeiten und Solidarität: eine neue gesellschaftliche Vision für das Europa des 21. Jahrhunderts“, KOM (2007) 726 vom 20. November 2007
6 KOM (2008) 412, Seite 5
7 Ebenda, Seite 3
8 Ebenda, Seite 4
9 Ebenda, Seite 15
10 Ebenda, Seite 20
11 Den 4. Kohäsionsbericht gibt’s unter:
ec.europa.eu/regional_policy/sources/docoffic/
official/reports/cohesion4/index_de.htm
12 4. Kohäsionsbericht, Seite 30
13 IMF (2007), World Economic Outlook April 2007
14 „Die Zukunft Europas“, Fritz Breuss, in „Das Ös¬terreichische Außenwirtschaftsleitbild“, BMWA April 2008, Seite 47
15 „Deutsches Ausschreibungsblatt“ vom 14. April 2008, B: Thema 13/08
16 „Österreich auf dem Weg in eine „Basar-Ökonomie““, FIW-WIFO Presseaussendung von 5. August 2008
17 „Europeans’ social expectations in 20 years’ time”, EK, MEMO/08/467 von 2. Juli 2008
18 Sozialagenda, Seite 4
19 „Die Zukunft Europas“, Fritz Breuss, in „Das Ös¬terreichische Außenwirtschaftsleitbild“, Seite 39
20 „Die EU-Sozialagenda als ,Flickwerk‘ ohne viel Mehrwert“, NZZ Online vom 2. Juli 2008
21 Sozialagenda, Seite 3
22 A. a. O.
23 „Die Zukunft Europas“, Fritz Breuss, in „Das Ös¬terreichische Außenwirtschaftsleitbild“, BMWA April 2008, Seite 47
24 „EU-Sozialpaket“, ÖGB, 2. Juli 2008

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