Die Rolle der öffentlichen Hand und die Erbringung von Gesundheits- und Sozialleistungen

Die Rolle der öffentlichen Hand und die Erbringung von Gesundheits- und Sozialleistungen

Der Sozialstaat steht aufgrund von gesellschaftlichen Veränderungen und finanziellen Einschränkungen unter einem permanenten Reformdruck. Auch die sozialen und gesundheitlichen Dienstleistungen der Daseinsvorsorge bilden in dieser Hinsicht keine Ausnahme.

 

Steigende Kosten und knappe Ressourcen im öffentlichen Bereich führen zu Reformvorschlägen, die auf einen verstärkten Wettbewerb und eine marktwirtschaftliche Gestaltung als Hebel für größere Effizienz und Kostensenkungen setzen. Eine verstärkte Privatisierung und De-Institutionalisierung der Daseinsvorsorge – so wird argumentiert – sei notwendig, um Einsparungen zu erzielen und das Dienstleistungsangebot besser an die tatsächliche Nachfrage anpassen zu können. Aus ökonomischer Sicht stützen sich diese Argumente auf die Annahme, dass eine marktwirtschaftliche Gestaltung immer auch zu einem verbesserten Ressourceneinsatz und damit zu größtmöglicher Wohlfahrt führt. Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, dass diese Annahme in Bezug auf soziale Dienste und Gesundheitsdienstleistungen problematisch ist. Der Sozial- und Gesundheitsbereich ist durch Eigenschaften gekennzeichnet, die ohne öffentlichen Eingriff zu Marktversagen führen würden. Neben diesen Marktversagen stellen auch normative und gesellschaftspolitische Überlegungen wichtige Argumente für eine starke Rolle der öffentlichen Hand in diesem Dienstleistungsbereich dar.
Der Sozialbereich ist reich an Beispielen, in denen aus dem Konsum bestimmter Dienstleistungen für die Gesellschaft ein größerer Nutzen hervorgeht als für das Individuum, das die Leistung konsumiert. Man spricht in diesen Fällen von positiven Externalitäten. Private Anbieter und Verbraucher berücksichtigen in ihrem Entscheidungsverhalten vielfach nicht den zusätzlichen Nutzen, der aus ihren Handlungen für die Gesellschaft entsteht. Ohne öffentlichen Eingriff würde es zu einer geringen Nachfrage bzw. einem knappen Angebot der Dienstleistung kommen. Im gesundheitlichen Bereich stellen Impfungen ein gutes Beispiel für eine positive Externalität dar: Eine Person, die sich gegen eine infektiöse Krankheit impft, verringert die Verbreitungsmöglichkeiten der Krankheit und generiert somit einen positiven Effekt für die Allgemeinheit. Den Kosten der Impfung, die in einem rein marktwirtschaftlichen System vom Einzelnen getragen werden müssten, steht in diesem Fall ein unberücksichtigter sozialer Nutzen entgegen. Kinderbetreuung eignet sich ebenfalls gut für den Nachweis von positiven Externalitäten. Zahlreiche Studien belegen, dass bereits im vorschulischen Alter die Weichen für die zukünftige kognitive Entwicklung von Heranwachsenden gestellt werden. Zudem ist die frühkindliche Lebensphase besonders wichtig, um etwaige Defizite, die aufgrund des familiären Umfelds bestehen (z. B. im Fall von Kindern aus sozial schwachen Haushalten), auszugleichen. Da viele Eltern nicht genug Ressourcen besitzen, um qualitativ hochwertige vorschulische Kinderbetreuung „einzukaufen“, würde es bei rein marktwirt¬schaftlicher Regelung Kinder ge¬ben, denen eben diese vorenthalten bleibt. Damit würde nicht nur den betreffenden Kindern ein Nutzen entgehen, sondern auch der Gesellschaft insgesamt.

Qualität der Leistung unmittelbar nicht einschätzbar
Effiziente Märkte setzen voraus, dass die Konsumenten und Konsumentinnen auf Basis vollkommener Information ihre Entscheidungen treffen können. Das bezieht sich in erster Linie auf die Beschaffenheit der Produkte, die angeboten und gekauft werden. Tatsächlich bestehen aber in vielen sozialen Bereichen große Schwierigkeiten für den Verbraucher, die Qualität der angebotenen Dienstleistung zu beurteilen. Viele soziale und gesundheitliche Dienstleistungen sind durch einen hohen Komplexitätsgrad gekennzeichnet, d. h. dass die Qualität der Leistung nicht unmittelbar eingeschätzt werden kann. Das kann auch daran liegen, dass bestimmte Dienstleistungen in Einrichtungen erbracht werden, die sich dem Einblick von Außenstehenden weitgehend entziehen: Angehörige von Personen, die in einem Altersheim untergebracht sind, können beispielsweise nur in sehr begrenztem Ausmaß die Situation innerhalb der Einrichtung beobachten. Zudem werden zahlreiche soziale Dienstleistungen von Verbrauchern oftmals unregelmäßig bzw. nur über bestimmte Zeiträume in Anspruch genommen. Im gesundheitlichen Bereich stehen vielfach Ereignisse im Mittelpunkt der Dienstleistung, die im Leben nur selten oder gar ein einziges Mal vorkommen (wie z. B. ein Herzinfarkt). Die Leistungen von Betreuungseinrichtungen (sowohl für Kinder als auch für Ältere) werden typischerweise ebenfalls nur über bestimmte Zeiträume in Anspruch genommen. Der Wissensvorsprung des Dienstleisters gegenüber dem Verbraucher könnte in einem marktwirtschaftlichen Kontext, wo Profitmaximierung im Vordergrund steht, dazu führen, dass bei der Qualität der Leistung Abstriche gemacht werden, um die Gewinnspanne zu erhöhen. Die Auslagerung von Dienstleistungen aus dem öffentlichen in den privaten Bereich kann dazu führen, dass sich das Risiko von Informationsasymmetrien erhöht, weil die öffentliche Hand durch die Abgabe der Funktionen auch auf kurz oder lang das spezifische Know-how verliert, das für das Monitoring des Bereichs notwendig ist.

Argumente für starke öffentliche Präsenz
Weitere Argumente für eine starke öffentliche Präsenz im Bereich sozialer und gesundheitlicher Dienstleistungen gehen von Überlegungen aus, die über die Existenz von Marktversagen hinausgehen. Insbesondere müssen im sozialen Bereich immer auch Fragen der Verteilungsgerechtigkeit mit berücksichtigt werden. Verteilungsgerechtigkeit ist dann verwirklicht, wenn alle Mitglieder der Gesellschaft in ausreichendem Maße an den Ressourcen und Chancen, die dieser zur Verfügung stehen, teilhaben. Dienstleistungen im sozialen und gesundheitlichen Bereich sollen nicht nur die erwünschte Qualität besitzen, sondern auch für alle Bevölkerungsschichten zugänglich sein. Profitorientierte Anbieter haben naturgemäß ein Interesse, ihre Dienstleistungen an zahlungskräftige Kunden zu verkaufen. Es stellt sich die Frage, ob nach einer Privatisierung bestimmte (aus wirtschaftlicher Sicht nicht interessante) Zielgruppen in ausreichendem Maß im Angebot berücksichtigt werden oder gar den Zugang zu einer bestimmten Dienstleistung verlieren. Um einen gerechten Leistungszugang sicherzustellen, muss die öffentliche Hand eingreifen. Je stärker der universale Zugang zu einer bestimmten Leistung betont wird, umso größer ist die Rolle, die der öffentlichen Hand zukommt. Zwar kann argumentiert werden, dass Verteilungsgerechtigkeit über die Umverteilung des Steuersystems und über die Zahlung von Transferleistungen am effizientesten erreicht werden kann: Bei monetären Leistungen hat das Individuum in höherem Maße als bei Sachleistungen die Möglichkeit, ein seinen Präferenzen und Bedürfnissen entsprechendes Paket an Leistungen zu schnüren. Allerdings muss das auf individueller Ebene Zutreffende nicht auch für die Erbringung einer sozialen Dienstleistung insgesamt gelten. In vielen Bereichen sind Sachleistungen besser als Geld¬leistungen dazu geeignet, Ressourcen einer Zielgruppe von Bedürftigen zukommen zu lassen. Es gilt zu berücksichtigen, dass sozial schwache Bevölkerungsgruppen eine besonders schlechte Ausgangsposition haben, um die Bedeutung und Qualität von Dienstleistungen korrekt einzuschätzen. In vielen Fällen besitzen die Empfänger und Empfängerinnen von sozialen Dienstleistungen nur einen eingeschränkten Entscheidungsspielraum, oftmals ist es sogar so, dass sie nicht diejenigen sind, die tatsächlich über die Inanspruchnahme der Dienstleistung entscheiden.

Gleichstellung von Mann und Frau
Da es sich im Sozial- und Gesundheitsbereich vielfach um Leistungen handelt, die ursprünglich im Haushaltsbereich angesiedelt waren und von Frauen erbracht wurden bzw. werden, geht es bei der Bereitstellung dieser Dienstleistungen auch um die konkrete Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern. Die großen Ungleichheiten, die zwischen Männern und Frauen am Arbeitsmarkt beobachtet werden können, hängen in hohem Maße mit der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zwischen (bezahlter) Erwerbstätigkeit und (unbezahlten) Tätigkeiten im Haushalt zusammen. Frauen haben typischerweise schlechtere Beschäftigungs- und Einkommenschancen, weil sie aufgrund von familiären Verpflichtungen in geringerem Ausmaß im Arbeitsmarkt integriert sind und oft brüchige Erwerbskarrieren aufweisen. Die Bereitstellung von ausreichenden, qualitativ hochwertigen und leistbaren Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, Behinderte und Ältere ist demnach eine zentrale unterstützende Maßnahme für die Durchsetzung von größerer Gleichstellung von Frauen und Männern am Arbeitsmarkt. Die skandinavischen Länder, in denen die Erwerbsbeteiligung der Frauen im europäischen Vergleich am höchsten ist, haben mit einer gezielten Strategie, deren Umsetzung in den 1960er-Jahren begonnen hat, traditionelle Haushaltstätigkeiten wie Pflege und Kinderbetreuung über die Schaffung eines öffentlichen Angebots in den Arbeitsmarkt verlagert. Arbeitsplätze im Bereich der sozialen und gesundheitlichen Dienste sind dabei auch als konkrete Beschäftigungschancen für Frauen von großer Bedeutung.

Resümee
Zusammenfassend kann man sagen, dass eine rein marktwirtschaftliche Gestaltung den Zielsetzungen und der Komplexität des Sozial- und Gesundheitsbereichs nicht gerecht wird. Der Rückzug des Staates aus diesen Bereichen könnte zu einer Reihe von unerwünschten Folgen führen:
- Bei sozialen und gesundheitlichen Diensten müssen neben privaten auch öffentliche Kosten und Nutzen gegeneinander abgewogen werden. Eine Privatisierung dieser Bereiche würde über das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage ein Gleichgewicht herbeiführen, das nicht der Maximierung der gesellschaftlichen Wohlfahrt entspricht.
- Durch die Einführung des Prinzips der Profitmaximierung kann es bei den sozialen und gesundheitlichen Diensten auch zu erhöhten Kosten kommen. So wird beispielsweise im Gesundheitsbereich die Nachfrage maßgeblich vom Angebot bestimmt (Patienten unterziehen sich den Untersuchungen und Eingriffen, die ihnen von Ärzten empfohlen werden). Profitorientierte Anbieter können demnach einen Anreiz haben, den Verbrauchern nicht notwendige oder besonders teure Dienstleistungen anzubieten.
- Bei den meisten Dienstleistungen im Sozial- und Gesundheitsbereich besitzt der Dienstleister einen großen Wissensvorsprung gegenüber dem Verbraucher. Es kann bei Einführung von marktwirtschaftlichen Regeln also auch dazu kommen, dass Anbieter ihre Gewinnspanne erhöhen, indem sie die Qualität der Leistung drücken, ohne dass dies für die Verbraucher unmittelbar nachvollziehbar ist.
- Diese Probleme sind dadurch verschärft, dass sozial schwache Bevölkerungsschichten eine wichtige Zielgruppe für die Nutzung von sozialen und gesundheitlichen Diensten darstellen. Diese Personengruppen befinden sich oft in einer schlechten Ausgangsposition, um die Qualität von Leistungen beurteilen zu können bzw. um angesichts eines bestimmten Angebots die beste Entscheidung zu treffen.
- Fragen der sozialen Gerechtigkeit und breitere wirtschaftspolitische Zielsetzungen spielen im Bereich der sozialen und gesundheitlichen Dienstleistungen eine zentrale Rolle. Die Bereitstellung von leistbarer und qualitativ hochwertiger Infrastruktur im Betreuungs- und Sozialbereich stellt einen wichtigen Beitrag für die eigenständige Erwerbstätigkeit der Frauen dar. Weiters kann der Staat als Arbeitgeber auch positive Impulse zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen geben.
Die Entscheidung, in welcher Form sich die öffentliche Hand an der Erbringung einer bestimmten Dienstleistung beteiligen soll, hängt im Wesentlichen von der Kombination an Marktversagen und Problemstellungen ab, die diesen Bereich kennzeichnen. Von Bedeutung ist diesbezüglich die Frage, inwiefern die Qualität einer Leis¬tung von den Konsumenten und den zuständigen Behörden beobachtet und kontrolliert werden kann. Je schwieriger die Qualität der Dienstleistung eingeschätzt werden kann und je größer Informationsasymmetrien sind, umso eher sollte die öffentliche Hand die Dienstleistung selbst erbringen. Zudem stellt sich das Problem, ob erhöhter Wettbewerb zu einem Leistungsangebot führt, das nicht nur die erwünschte Qualität besitzt, sondern auch alle bedürftigen Personen erreicht. Je höher der Stellenwert von sozialer Gerechtigkeit ist, umso stärker sind die Argumente für den Verbleib der Dienst¬leis¬tung im öffentlichen Bereich.

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