Soziale Dienstleistungen und Europarecht

Soziale Dienstleistungen und Europarecht

Was sagt Brüssel zu den Besonderheiten von Rettung, Feuerwehr, Kindergärten und Seniorenheimen?

 

Bereits seit etlichen Jahren wird auf europäischer Ebene im Rahmen der allgemeinen Debatte über Leistungen der Daseinsvorsorge (im Gemeinschaftsrecht DAWI genannt) auch die gemeinschaftsrechtliche Einordnung von sozialen Dienstleistungen diskutiert. Darunter wird ein breites Feld von Leistungen verstanden, das von der Jugendwohlfahrt über den Zivil- und Ka¬tastrophenschutz, das Feuerwehr- und Rettungswesen, den sozialen Wohnbau bis hin zu sozialen Betreuungseinrichtungen, Kindergärten und Alten- oder Pflegeheimen reicht.
Nicht wenige dieser Leistungen werden in Österreich schwerpunktmäßig von den Städten und Gemeinden angeboten. Sie sind daher von dieser Debatte unmittelbar betroffen. Aktuell sieht die Europäische Kommission keinen legislativen Handlungsbedarf, sondern allenfalls Informationsdefizite bei den beteiligten Fachkreisen. Sie versucht diese durch im Internet publizierte F.A.Q. zu bereinigen.1 Die Debatte könnte jedoch durch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon neuen Schwung bekommen. Dieser sieht nämlich in seinem Art. 14 eine neue Rechtsgrundlage vor, aufgrund derer Rat und Parlament, also nicht mehr nur die Kommission allein, einen allgemeinen Rechtsakt für Daseinsvorsorgeleistungen erlassen könnten.
Eine neue Studie im Auftrag des Sozialministeriums versucht nun, mögliche Problemfelder des sozialen Sektors zu identifizieren, die in einem solchen Rechtsakt geregelt werden könnten. Dazu wird ausführlich auch auf den aktuellen Stand des Gemeinschaftsrechts eingegangen und untersucht, auf welche Weise schon jetzt das Gemeinschaftsrecht Einfluss auf die Organisation des sozialen Sektors nimmt.2

Auch soziale Dienstleistungen können wirtschaftliche Leistungen sein
Soziale Dienstleistungen sind nicht schon allein aufgrund ihres „sozialen“ Charakters aus dem Anwendungsbereich des EG-Vertrags ausgenommen. Soziale Dienste werden vielmehr im Gegenteil in aller Regel als wirtschaftliche Tätigkeit anzusehen sein und unterfallen daher den Grundfreiheiten des gemeinsamen Marktes genauso wie dem gemeinschaftlichen Wettbewerbs- und Beihilfenrecht.
Der Begriff des Unternehmens umfasst nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung.3 Das heißt, auch eine öffentlich-rechtliche Körperschaft wie eine Gemeinde oder ein gemeinnütziger Verein kann grundsätzlich ein Unternehmen iSd EG-Vertrags sein.
Auch eine fehlende Gewinnerzielungsabsicht schließt nicht per se und ohne Hinzutreten anderer Merkmale die Unternehmenseigenschaft aus. Diese kann schließlich auch dann vorliegen, wenn kein unmittelbarer entgeltlicher Leistungsaustausch zwischen der Einrichtung und ihrem „Kunden“ besteht. So können beispielsweise Krankenanstalten nach der gemeinschaftlichen Rechtsprechung durchaus unternehmerisch tätig sein, auch wenn die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Patienten und der Anstalt in einem Sachleistungssystem über einen Dritten, nämlich die Krankenversicherung des Patienten, abgewickelt werden.4

Ausnahmen zugunsten sozialer Einrichtungen?
Ausnahmsweise nicht erfasst sein könnten allenfalls jene Bereiche, in denen Leistungen gemeinnützig, unentgeltlich und allein durch Freiwillige erbracht werden. In ihrer Mitteilung zu Leistungen der Daseinsvorsorge5 legt die Kommission ihre Auffassung dar, dass Tätigkeiten von Einrichtungen, die weitgehend soziale Aufgaben ohne Gewinnabsicht erfüllen und deren Zweck nicht in der Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit besteht, von den wettbewerbs- und binnenmarktrechtlichen Vorschriften der Gemeinschaft in der Regel nicht erfasst sind. Darunter sollen nach Auffassung der Kommission diverse nichtwirtschaftliche Tätigkeiten von Einrichtungen wie Gewerkschaften, politischen Parteien, Kirchen und religiösen Gemeinschaften, Verbraucherverbänden, wissenschaftlichen Gesellschaften, Wohlfahrtseinrichtungen sowie Schutz- und Hilfsorganisationen fallen.6
Dem ist dem Grunde nach zuzustimmen. Es ist jedoch zu beachten, dass mit der Aufnahme in diese Aufzählung keine gemeinschaftsrechtliche Carte Blanche in dem Sinne verbunden ist, dass die Tätigkeit einer dort genannten Einrichtung niemals am Maßstab des Gemeinschaftsrechts gemessen werden könnte. Ausgenommen ist nur die jeweilige nichtwirtschaftliche Kerntätigkeit der entsprechenden Einrichtung. Wird diese über ihr politisches, wissenschaftliches oder soziales Tätigkeitsfeld hinaus auch wirtschaftlich tätig, so unterliegt diese unternehmerische Tätigkeit sehr wohl den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften. Darauf weist auch die Kommission in der erwähnten Mitteilung ausdrücklich hin, stellt allerdings in Aussicht, das besondere soziale und kulturelle Umfeld, in dem diese wirtschaftlichen Tätigkeiten ausgeübt werden, entsprechend berücksichtigen zu wollen.
Rechtsgrundlage dafür wird in der Regel Art. 86 Abs. 2 EG sein, der festlegt, dass für Unternehmen, die mit Daseinsvorsorgeleistungen betraut sind, die Wettbewerbsregeln nur insoweit gelten, als dadurch nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgaben rechtlich oder tatsächlich behindert wird. Die Bedeutung dieser Dienstleistungen wird auch im Vertrag von Lissabon durch ein neues Protokoll über Dienste von allgemeinem Interesse7 unterstrichen. Eine wesentliche Änderung der materiellen Rechtsgrundlage ist damit aber nicht verbunden.

Binnenmarktregeln und neue Dienstleistungsrichtlinie
Anbieter aus anderen Mitgliedstaaten können sich grundsätzlich auf die Grundfreiheiten des Binnenmarkts berufen, wenn ihnen der Marktzutritt aufgrund gesetzlicher Vorgaben verweigert wird. Zu denken wäre an Landesgesetze, die die Genehmigung für den Betrieb von Pflegeeinrichtungen an eine Bedarfsprüfung knüpfen. Allerdings können solche Regelungen aus Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein.
Aktuell prüft der EuGH etwa Regelungen zur Bedarfsprüfung im österreichischen Krankenanstaltensektor.8 Das Beispiel zeigt im Übrigen deutlich, dass die Ausnahmen, die im Zuge der Verhandlungen zur neuen Dienstleistungsrichtlinie9 festgelegt wurden, nur bedingt von Bedeutung sind. Die RL nimmt nun zwar weitgehend soziale Dienste von ihrem Anwendungsbereich aus (Art. 2 Abs. 2 lit. j), dies dispensiert aber nicht von einer Beurteilung nach der im Primärrecht verankerten Dienstleistungsfreiheit, die unabhängig von der RL zur Anwendung kommt.

Wettbewerbs- und Beihilfenrecht
Weitere wichtige Einfallspforten des Gemeinschaftsrechts sind das Wettbewerbs- und das Beihilfenrecht. Die Mitgliedstaaten haben in aller Regel ein vitales Interesse an der Aufrechterhaltung einer flächendeckenden Versorgung mit sozialen Diensten zu (Mindest-)Standards, die sie selber vorgeben.
Sofern diese Dienste in einem wettbewerblich orientierten Umfeld im Markt erbracht werden sollen, kann es notwendig werden, regulierend einzugreifen, um die Erfüllung der Aufgaben der Daseinsvorsorge sicherzustellen. Ein solch regulativer Einsatz kann einerseits in der Finanzierung von Ausgleichszahlungen für Leistungen bestehen, die im Markt nicht erbracht werden können. Dies ist gemeinschaftsrechtlich unter beihilfenrechtlichen Gesichtspunkten relevant. Andererseits kann der regulative Eingriff aber auch in der Gewährung besonderer oder ausschließlicher Rechte an die Erbringer von Daseinsvorsorgeleistungen bestehen, die diesen ermöglichen sollen, ihre Leistungen in dem von der öffentlichen Hand gewünschten Ausmaß anzubieten. Die Gewährung solcher besonderen oder ausschließlichen Rechte im Sinne von Art. 86 Abs. 1 EG stellt noch keinen Wettbewerbsverstoß dar.
Hierbei ist jedoch zu beachten, dass wirtschaftliche Vorgänge, die kein Potenzial zur Belastung des Binnenmarkts aufweisen, unter bestimmten Voraussetzungen ausgeklammert sein können. Soziale Dienste werden in vielen Fällen auf lokaler und regionaler Ebene in kleinteiligen Wirtschaftsstrukturen mit geringen Umsätzen erbracht. Nationale Regelungen in diesem Bereich werden daher in aller Regel nur wenig Potenzial zur Verfälschung der Handelsströme im Binnenmarkt oder zur Verfälschung des Wettbewerbs aufweisen und oft auch kaum relevante Marktzutrittsschranken für Unternehmer aus anderen Mitgliedstaaten errichten. Es ist daher sinnvoll, die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben auf solche Arten von sozialen Diensten nur eingeschränkt anzuwenden, um u. U. erhebliche regulative Belastungen zu vermeiden, ohne dass dem vergleichbare Gewinne für den Binnenmarkt entgegenstünden.

Vergaberecht
Abschließend ist als wesentliches Regulierungsfeld noch das Vergaberecht zu nennen. Hier stellt sich die Frage, inwieweit Subventionen der öffentlichen Hand ohne vorangegangenes Vergabeverfahren gewährt werden dürfen. Vergaberechtlich wäre dies jedenfalls dann zulässig, wenn die geförderte Einrichtung mit der öffentlichen Hand rechtlich und organisatorisch eng verbunden ist. Hier setzt allerdings die Rechtsprechung des EuGH zur sogenannten Inhouse-Problematik sehr enge Grenzen, die allenfalls in einem Rechtsakt des Gemeinschaftsgesetzgebers zu korrigieren wären.
Ansonsten wird es sich bei sozialen Dienstleistungen überwiegend um sogenannte nicht prioritäre Dienstleistungen handeln, für die nur ein abgeschlanktes Vergaberegime gilt. Vor besondere Schwierigkeiten stellt die Praxis die vergaberechtliche Vorgabe, technische Spezifikationen für die Auftragsunterlagen in einem präzisen Lastenheft vorab festzulegen und bekanntzugeben. Dadurch erscheint es vielfach nicht mehr möglich, die Spezifikationen im Einzelfall den Bedürfnissen der Betroffenen anzupassen. Um dieses Problem zu überwinden, könnte allerdings verstärkt auf funktionelle Leistungsmerkmale abgestellt werden. Schließlich bleibt zu beachten, dass für das Nachfrageverhalten der öffentlichen Hand, auch wenn es nicht unter die Vergaberichtlinie fällt, jedenfalls vergaberechtliche Vorgaben aus dem Primärrecht zu beachten sind. Die Rechtsprechung leitet aus den Grundfreiheiten die allgemeinen Grundsätze der Gleichbehandlung und der Transparenz ab, die auch bei der Beauftragung sozialer Dienstleistungsträger zu beachten sein werden. Die Kommission hat die daraus erfließenden Leitlinien in einer Mitteilung zusammengefasst.10 Auch hier stellt sich aber die Frage, ob den Besonderheiten des sozialen Sektors nicht besser durch einen verbindlichen Rechtsakt des Gemeinschaftsgesetzgebers Rechnung getragen werden sollte.

Weiterführend
Eilmansberger/Herzig, Soziale Dienstleistungen von allgemeinem Interesse – Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Soziales und Konsumentenschutz 2008, abrufbar unter www.bmsk.gv.at
cms/site/attachments/4/8/4/CH0129/
CMS1229678459611/dt_studie_endg.pdf.


1 Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen vom 20. 11. 2007: SEK (2007) 1516 endg und SEK (2007) 1514 endg. Abzurufen unter
ec.europa.eu/comm/competition/state_aid/
legis¬lation/faq_sieg_de.pdf.
2 www.bmsk.gv.at/cms/site/attachments/4/8/4/
CH0129/CMS1229678459611/dt_studie_endg.pdf.
3 Rs C-41/90, Höfner und Elser, Slg 1991, I-1979, Rn 21.
4 Rs C-157/99, Smits und Peerbooms, Slg 2001, I-5473, Rn 53 ff.
5 Mitteilung der Kommission zu Leistungen der Daseinsvorsorge, ABl 2001 C 17/4.
6 Mitteilung Daseinsvorsorge (FN 5), Rn 30.
7 ABl 2007 C 306/158.
8 EuGH Rs C-169/07, Hartlauer; die E des EuGH, die für den 10. 3. 2009 angekündigt ist, lag bei Drucklegung noch nicht vor. Vgl dazu auch jüngst Kröll in Eilmansberger/Herzig, Soziales Europa – Beiträge zum 8. Österreichischen Europarechtstag 2008 (in Druck).
9 RL 2006/123/EG, ABl 2006 L 376/36.
10 ABl 2006 C 179/2.

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