Das Dornbirner Kulturleitbild und die Weigerung, eine Festival-Stadt zu sein

Das Dornbirner Kulturleitbild und die Weigerung, eine Festival-Stadt zu sein

Vor vier Jahren wurde das Kulturleitbild vom Dornbirner Stadtrat einstimmig beschlossen. Damit wurde auch der Grundstein gelegt, dass das Projekt nicht zu einem Kurzzeitfeuerwerk wurde, sondern weiterhin dem langfristigen Aufbau der Dornbirner Kulturlandschaft diente und noch dient.

 

Kommunale Kulturleitbilder, polyzentrische Vernetzungen

Meine anfängliche Skepsis, die mit dem Begriff „Kulturleitbild“ verbunden war, ist bereits in der Startphase des Projekts gewichen, als zum Auftakt und auf Basis der von Reinhard Kannonier, Rektor an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung in Linz, erstellten Vorstudie acht Diskussionsforen zu Musik, darstellende Künste/Literatur/Film, städtische Kultureinrichtungen, Bildung, Jugend und Integration, Bürgerbeteiligung, Medien und Marketing sowie Kultur und Wirtschaft eingerichtet wurden. Aufgenommen wurden Beiträge von über 100 Personen aus allen Bevölkerungskreisen, ergänzt durch eine gut besuchte öffentliche Podiumsdiskussion im ORF-Landesstudio Dornbirn und eine Diskussionsplattform im Internet. Dieser Kommunikationsprozess, der für die kommenden Jahre für Dornbirn maßgeblich war und ist, trug bei, den Blickwinkel auf die Kernpunkte der Kulturarbeit zu lenken.

Kultur zwischen Peripherie- und Zentrumsbewusstsein
Kulturleitbilder können auf den unterschiedlichen Wirkungsebenen ein wichtiges stabilisierendes Instrument sein. Und zwar dann, wenn sie aus überschaubaren kommunalen und in weiterer Folge regionalen Situationen heraus entwickelt werden und nicht nur als selbstgenügsame Orientierungshilfe für die nächsten Jahre dienen, sondern kumulativ wachsend ihren Ansatz flächenübergreifend ergänzen oder mit nachbarschaftlichen Situationen verknüpfen.
Die Stadt Dornbirn ist eine relativ junge Stadt, die aus einer Streusiedlung mit einzelnen Dorfzentren erst Anfang des 20. Jahrhunderts eine städtische Identität entwickelte und somit ein überschaubares historisches Beispiel dafür ist, wie regionale Entwicklungsprozesse den Lebensraum in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht prägen. Dornbirn ist mit über 45.000 Einwohnern das Handels-, Industrie- und Wirtschaftszentrum einer Region, die ständig zwischen Peripherie- und Zentrumsbewusstsein hin- und herpendelt. Vom Entwicklungsansatz her ist sie eine topografisch sehr breit gezogene Stadt, was sich auch in einem breiten – sprich vielfältigen – Kulturleben ausdrückt.
Aufgrund der über Jahrzehnte starken wirtschaftlichen Position dürfte der Druck, sich sein urbanes Selbstbewusstsein über eine prononcierte Kulturschiene zu holen, eher gering geblieben sein. Diesen Part hat man immer großzügig dem 10 km entfernten Bregenz überlassen, das sich als Landeshauptstadt des westlichsten österreichischen Bundeslandes einer stärkeren Profilierungssituation ausgesetzt hat. Bregenz hat mit den Bregenzer Festspielen ein Signal geschaffen, das weithin über den Bodensee auch in den Schweizer und deutschen Raum leuchtet.
Als eine von mehreren, in der Landeshauptstadt ansässigen Landeseinrichtungen hat sich vor zwölf Jahren das Kunsthaus Bregenz als weiterer kultureller Architektur-Leuchtpunkt am Bodensee mit einem radikal schicken Name-dropping-Programm hinzugesellt. Bregenz ist also Festival-Stadt, Dornbirn dagegen ist keine Festival-Stadt. Zumindest keine, in der ein Festival dominant alle sonstigen Kulturaktivitäten überstrahlen würde. Doch die Bregenzer Festspiele sind nicht die einzige Festival-Situation, die sich direkt um die Dornbirner Gemeindegrenzen herum abspielt. So ist die äußerst beachtete Schubertiade Hohenems mit ihren Spielstätten Schwarzenberg und Hohenems ein Magnet für ein internationales Kammermusik-Publikum. Nach dem Abgang der Schubertiade aus dem 20 km entfernten Feldkirch hat sich dort die Stadt sofort um ein Ersatzfestival bemüht.
Berührungspunkte gibt es auch zu dem von der deutschen Bodenseestadt Friedrichshafen im Verbund mit weiteren Gemeinden organisierten „Bodenseefestival“.
Man kann sich nun fragen: was bleibt dann für Dornbirn noch übrig? Und genau das ist der Punkt: Nämlich sehr viel, auch wenn es natürlich immer noch ein bisschen mehr sein könnte.

Dornbirn: Vielfältige Ansätze, langfristige Perspektiven
Einer, der die Spannung, die in dieser Fragestellung liegt, von Anfang an sofort erkannt hatte, war Reinhard Kannonier. Es war ein Glücksfall, ihn als externen Kulturexperten für die Begleitung und Erarbeitung des Leitbildprozesses ins Boot holen zu können. Kannonier, der vergleichende Studien des Kulturlebens in europäischen Städten wie Bologna, Leipzig, Laibach angestellt hatte und federführend am Linzer Kulturleitbild mitgewirkt hatte, war sich der Brisanz, wie es um den kulturellen Grad einer weitgehend pragmatisch und alltagspraktisch agierenden Stadt steht, die zudem mit dem Untergang der Textilindustrie in den 1980er-Jahren eine große Krise zu meistern hatte, durchaus bewusst. Ähnliches gilt ja für Linz, und wenn wir nun die Maßstäbe aufblasen, ist Linz mit der Nachbarschaft zur Festspielstadt Salzburg in einer ähnlichen Lage wie Dornbirn zu seiner nachbarschaftlichen Festspielsituation. Linz hat es vorbildlich verstanden, über den Kulturbereich einen Imagetransfer zu schaffen, der die angeschlagene Industriestadt wieder zu neuer Attraktivität führte. Dornbirn hat eine andere Strategie gewählt. Das Kulturleben hat auf den ersten Blick gewiss nicht die Ausstrahlung wie das manch anderer Städte. Und dennoch zeichnet sich die ¬Situation in Dornbirn nun schon seit gut 20 Jahren durch eine Stärke aus, die in der Außenbetrachtung oftmals übersehen wird. Diese Stärke von Dornbirn heißt, auf einen Supermarkt der Stars und Sensationen zu verzichten und weitgehend unaufgeregt und angemessen sein kulturelles Potenzial aus einem vielfältigen und von zahlreichen Bürgerinnen und Bürgern mitgetragenen ganzjährigen Angebot zu schöpfen. In Abwandlung eines Zitates des langjährigen Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann könnte man sagen, dass sich das kulturelle Potenzial einer Stadt nicht allein an seinen Kulturbauten wie Festspielhäuser und Museen ablesen lässt, sondern daran, wie viele Menschen in einem kulturellen Aktivitätsfeld stehen.

Reges Kulturleben in Dornbirn
Und diese Indikatoren sind in Dornbirn, auf seine Einwohnerzahl (ca. 45.000) bezogen, sicher sehr hoch. Dies zeigt sich an etwa 2.000 Musikschülerinnen und -schülern, einem semiprofessionellen Jugendsinfonieorchester, einer Stadtbücherei mit über 400.000 Entlehnungen jährlich, einem Kulturzentrum Spielboden mit ca. 600 fördernden Mitgliedern, einer vom Stadtarchiv betreuten historischen Reihe mit rund 600 Abonnenten, einer neuen Naturschau „inatura“ – zu 50% von Stadt und Land getragen – mit 80.000 Besuchern jährlich und natürlich sonstigen zahlreichen Einrichtungen und Aktivitäten.
Mit der Entscheidung, ein Kulturleitbild zu erarbeiten, wurde an einem Punkt angesetzt, an dem nun auf eine in den letzten 20 bis 25 Jahren erfolgte Entwicklung aufgebaut werden konnte. Der Zeitpunkt war richtig, gleichsam aus einer Basissituation heraus die einzelnen Institutionen wachsen zu lassen und nun in eine Gesamtbetrachtung zu führen. Reinhard Kannonier spricht von den „städtisch-kulturellen Gründerjahren“, in denen es seit Beginn der 1980er-Jahre zu einem beachtenswerten infrastrukturellen und inhaltlichen Auf- und Ausbau von Kultureinrichtungen wie Kulturhaus mit einer klassischen Konzert- und Theater-Aboreihe, Stadtbücherei, Stadtmuseum, Stadtarchiv, Naturschau „inatura“, Jazzseminar als Abteilung der Musikschule, aber auch Vereinen wie neuer Spielboden, Vorarlberger Architekturinstitut, Kunstraum Dornbirn und weiteren kulturellen Einrichtungen in ehemaligen Industriearealen kam. Dazu haben sich noch temporär kleinere Festivals als Intervention im öffentlichen Raum etabliert. Zitat Reinhard Kannonier aus dem Kulturleitbild:
„Dornbirn hat mit diesen Maßnahmen beste Voraussetzungen dafür geschaffen, im Konzert der Anbieter ringsum ernstzunehmend mitzuspielen. Die Stadt kann darin eine eigene, sehr spezielle solistische Position einnehmen, gleichzeitig die Identifikation der eigenen Bevölkerung mit der Stadt (die in Dornbirn ohnehin sehr hoch ist) und ihrem kulturellen/künstlerischen Angebot erhöhen sowie die Lebensqualität für Neuzugänge attraktivieren, ohne dabei auf flüchtige kulturelle Kurzzeitfeuerwerke zu setzen.“

Bewusster Verzicht auf Umwegrentabilität
Damit ist Dornbirn ein Gegengewicht zu einer Tendenz, die über die argumentative Brücke der „Umwegrentabilität“ zu einer Verschiebung der Kulturlandschaft zu Festivals und Events geführt hat und führt.
Hans-Werner Holub und Veronika Eberharter vom Institut für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik an der Universität Innsbruck haben bereits in den frühen 1980er-Jahren auf die gefährlichen Auswirkungen einer Kulturpolitik hingewiesen, die auf kurzfristig messbare Nachfragewirkungen setzt. Dies führe zu einer Umstrukturierung des kulturellen Angebots: von Maßnahmen, die langfristig angelegt sind, wie etwa der Aufbau einer regionalen Kulturszene, zu kurzfristigen Veranstaltungen, von kulturellen Veranstaltungen, die für die Bürger der Region gedacht sind. zu „außengerichteten“ Aktivitäten und von einer Palette kleinerer Veranstaltungen zu Großanlässen. Ihr Fazit: „Vollständig aus dem Blickfeld verschwindet ferner eine Reihe anderer ökonomischer Wirkungen des kulturellen Sektors, die man mit Hilfe von Umwegrentabilitäten nicht erfassen kann: die Attraktivität einer Region wegen ihres kulturellen Rufes, der durch dauerhafte kulturelle Bemühungen und nicht durch Großveranstaltungen hervorgerufen wird. Der langfristige Aufbau eines solchen Images kann sich auch ökonomisch lohnen, selbst wenn dies nicht exakt rechenbar ist.“ (Holub/Eberharter „Beleben Kulturausgaben die Wirtschaft?“, Neue Zürcher Zeitung vom 24./25. Juli 1994).
Abschließend bleibt nur noch festzustellen, dass es keine Patentrezepte gibt. Auch Kulturleitbilder können diesen Anspruch nicht erheben. Aber wir können sisyphus-artig daran arbeiten: auf einer etwas stabileren Basis, mit hoffentlich größtmöglicher Sensibilität für gesellschaftspolitische Entwicklungen, mit einem klaren Bekenntnis zu den sozial relevanten Werten des Kulturbereichs und mit dem Bewusstsein, dass weder eine allzu ausgeprägte kulturelle Planwirtschaft noch der sogenannte freie Markt eine ideale Lösung darstellen.

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