Die interessanteste Stadt Österreichs

Die interessanteste Stadt Österreichs

Linz ist Kulturhauptstadt Europas 2009. Ausgerechnet Linz: Jene Stadt, an der lange Zeit alle vorbeigefahren sind, auf großzügig ausgebauten Autobahnen, und solches Verhalten in keiner Weise für anstößig hielten.

 

Weil Linz offenbar wenig zu bieten hatte außer Industrienebel, einem historisch zweifelhaften Ruf und mehr oder weniger trockenen Linzer Torten. Und weil – immerhin vertritt die Kulturhauptstadt Linz auch die Republik Österreich! – die Kultur offenbar woanders zuhause ist. In Wien natürlich und in Salzburg, vielleicht auch in Graz. Überall dort also, wo bürgerliche Eliten Geschmack hatten und haben, ihn pflegen und leben. Diese Form von Kultur war für die Linzer Stahlstadtkinder unerreichbar. Ihnen blieb in der Stadt der Arbeiter und der Industrie nur der trotzige Stolz, anders zu sein. Um irgendwann das Beste daraus zu machen, mit allen Kräften, für die eigene Zukunft. Im Linzer Kulturhauptstadtjahr ist diese Zukunft fassbar. Die Kulturhauptstadt Linz hat mit den Vorstellungen, die über sie noch in vielen Köpfen stecken, wenig gemeinsam. Die Veränderung ist fundamental. Nur: Wer weiß das schon? Also müssen die überholten Bilder der Vergangenheit abgelöst werden durch solche, die von der Gegenwart erzählen. Und diese Gegenwart braucht eine Deutung, die erklärt, was wirklich geschehen ist.

Linzer Erfolgsgeschichten
Dabei erweisen sich zwei Aspekte als besonders bemerkenswert. Der erste: Linz ist zu einer wirtschaftlich prosperierenden Standortregion geworden, die sich im globalen Wettbewerb und entlang seiner Vorgaben zu bewegen weiß. Der nach vorne orientierte Pragmatismus, welcher der Stadt eigen ist, hat sich viele Märkte erschlossen. Und der zweite: Linz hat auch kulturell enorm aufgeholt, hat massiv in die Lebensqualität seiner BewohnerInnen investiert und die Voraussetzung dafür geschaffen, dass Kultur zu einem Bewusstseinsfaktor wurde. Natürlich ist solche Gegenwart kein Zufall, sondern das Produkt nachvollziehbarer Entwicklungen. Die schwierige, aber rundum erfolgreiche wirtschaftliche, technische und auch politische Sanierung der Schwerindustrie gehört ebenso dazu wie die Erfolgsgeschichte der Ars Electronica, die seit 1979 auf dem Feld der damals Neuen Medien in und für Linz ein weltweit vernetztes, einzigartiges Kompetenzzentrum mit mehreren Aktionsfeldern geschaffen hat. Die Konstellation hätte kaum zukunftshaltiger sein können – in der Vitalisierung überholter industrieller Gegebenheiten wie in der Pionierleistung einer nachhaltigen Eroberung virtueller Realitäten und Territorien.
Während dieser letzten Jahrzehnte hat Linz einen beispiellosen Aufschwung genommen, der irgendwann nach Diversifizierung verlangte – auf dem Feld der Wirtschaft deutlich rascher als auf jenem der Kultur. Entsprechend präsentiert sich der Wirtschaftsraum Linz heute über die klassischen Konzerne der Stahlverarbeitung und der Chemie hinaus mit einer Branchenvielfalt, die für große Dynamik sorgt. Die Kultur ihrerseits ist einem Profil verhaftet, das in den 1980er- und 1990er-Jahren aufgebaut wurde und nun der prüfenden Erneuerung bedarf.

Erneuerung des Neuen
Genau an diesem Punkt setzt das Linzer Kulturhauptstadtprojekt 2009 an. Anders als im berühmt gewordenen Beispiel von Glasgow, wo 1990 erstmals in der Geschichte dieses Formats keine klassische Kulturstadt ins europäische Rampenlicht trat, geht es hier in keiner Weise darum, eine Industriestadt überhaupt erst kulturell wettbewerbsfähig zu machen. Linz09 bedeutet vielmehr, auf hohem Niveau eine neue Phase kultureller Praxis zu initiieren und dafür, wenn immer möglich, qualitätvolle Beispiele sowie kulturpolitische Begründungen und Werkzeuge zu liefern. Zugleich kommt der Verbindung lokaler mit internationalen Ressourcen eine besondere Bedeutung zu.
Das tönt bei weitem abstrakter, als es in Wirklichkeit ist. Denn das Kulturhauptstadtjahr meint erst einmal ein großes Fest, das nach Gastgeberqualitäten verlangt, nach fähigen Autorinnen und Autoren in nahezu sämtlichen Sparten und Disziplinen, nach Zeremonienmeistern, aber auch nach einem neugierigen, gerade dem Unbekannten gegenüber offenen Publikum. Dazu ist ein Programm nötig, das sich ebenso auf eigene und vorhandene Stärken stützt wie auch subtil versucht, noch unbesetzte Räume produktiv zu machen.
Im Falle von Linz liegt es nahe, dafür die Freiheit zu nutzen, zwischen Wien und Salzburg vieles nicht anbieten zu müssen, was in diesen beiden Städten zum Standardprogramm gehört. Umgekehrt darf und soll entwickelt und hergezeigt werden, was sich nur Linz leisten kann: aus dem einfachen Grund, weil hier jenseits von Traditionslast und Prestigeverpflichtungen, kulturellem Erbe und Marktzwängen experimentiert werden darf. Im Versuch, so etwas wie ein zeitgemäßes Modell kultureller Selbstthematisierung und europäischen Lernens zu etablieren.

Verhältnis von Kultur und Wirtschaft
Dabei ist die gelebte Wirklichkeit von Linz entscheidend. Das unternehmerische wie das soziale Klima und so etwas wie Mentalität insgesamt ergeben im unvermeidlichen Standortwettbewerb letztlich gewichtigere Vorzüge als ästhetische Argumente, die Stadtgestalt oder Beiträge zum Schaulaufen internationaler Architektur.
Aus diesem Grund wird beispielsweise entscheidend sein, wie sich Linz in den kommenden Jahren jener Herausforderung der Creative Industries stellt, die europaweit seit kurzem als Testfälle erfolgreicher Stadtgesellschaften gehandelt werden. Es muss gelingen, diese Bereiche innovativer Wirtschaft in der Stadt so zu verankern, dass sie den Arbeitsmarkt positiv beeinflussen. Mit anderen Worten: Sie müssen etwa den Abgängern der Linzer Kunstuniversität die Möglichkeit bieten, in der Stadt zu bleiben, statt in die Metropolen zu ziehen und das immer interessanter werdende Feld zwischen Kultur und Wirtschaft zu bearbeiten.
Überhaupt muss das Verhältnis von Kultur und Wirtschaft im Sinne gegenseitiger Klärung der Interessen und Möglichkeiten, aber auch der Unvereinbarkeiten neu vermessen werden. Schließlich gilt für Linz, was für ganz Europa gilt: In Zeiten stagnierender oder schwindender öffentlicher Kulturbudgets und zugleich steigender Ansprüche seitens derselben Öffentlichkeit müssen neue Partnerschaften gesucht und gefunden werden. Und zwar jenseits herkömmlicher Sponsoringbeziehungen – immerhin haben wir das, was als Ökonomisierung der Kultur bezeichnet werden kann, ebenso eindrücklich vor Augen wie die Kulturalisierung der Ökonomie. Will sagen: Aus der einstigen Opposition hat sich längst eine Wechselwirkung ergeben, die es gesellschaftlich zu nutzen gilt.
Wie aber soll das alles bewerkstelligt werden? Und welche Rolle vermag Linz09 dabei realistischerweise zu spielen?
Bereits im Vorfeld der Kulturhauptstadt wurde deutlich, wie sehr ein derartiges Großprojekt völlig neue Anspruchs- und Beurteilungsgrößen mit sich bringt und dabei erhebliche Angriffsflächen bietet. Konflikte entstehen und müssen ausgetragen werden ohne Garantie, befriedigende Lösungen zu finden. Linz09 kommt die Aufgabe zu, sich mit der Arbeit am Programm zugleich um alle nur erdenklichen Bruchstellen, Verwerfungen oder auch nur Patterns zu kümmern, entlang derer Neues entstehen kann. Ohne sich selbst als Projekt und die Beteiligten in Kultur, Politik und Wirtschaft zu überfordern, und ständig mit dem Ziel, Nachhaltigkeit herzustellen.

Linz 2009 ist Linz 2015
Nachhaltigkeit ist einer der Begriffe, die in der populären Wahrnehmung wohl sämtlicher aktuellen Kulturhauptstadtprojekte zwischen Norwegen, Ungarn, Estland und Österreich, aber auch in deren Planung am meisten strapaziert werden. Was hier in Kultur investiert wird, soll sich mittel- und langfristig lohnen oder gar auszahlen. Allerdings gehen die Meinungen darüber, was das bedeutet, beträchtlich auseinander. Während die einen sämtliche Bauwerke und infrastrukturellen Maßnahmen bilanzieren, die im Rahmen oder auch nur im Sog einer Kulturhauptstadt erstellt werden, verstehen andere darunter die Summe all jener Prozesse und Bewegungen, die Lerneffekte generieren für das gesamte soziale Gefüge. Wobei solche Effekte ja nie für sich stehen, sondern im Idealfall einen bestimmten, bearbeitbaren Horizont abstecken.
Im Falle von Linz09 markiert dieser Horizont eine mehr oder weniger zufällige Zeitmarke. Linz 2009 ist Linz 2015: Der Claim stellt Nachhaltigkeitseffekte in einen überprüfbaren Zusammenhang. Sechs Jahre nach dem Kulturhauptstadtjubel soll Linz einen Gewinn einfahren, der die Nachhaltigkeit erweist. Einen Gewinn, in dem ein Zuwachs an Möglichkeiten feststellbar ist. Als Aufbruch aus der Zufriedenheit in eine nächste Dimension städtischer Qualität, die Linz vor eine echte Herausforderung stellt. Wie damals, im Jahre 1985, als der damalige Bürgermeister verkündete, Linz werde die sauberste Industriestadt Österreichs – und Linz kaum zehn Jahre später den Wahrheitsbeweis antrat. Was könnte heute ebenso mutig und unerreichbar greifbar sein als Zukunftsbestimmung?

Die Herausforderung
Der Versuch einer Antwort: Linz wird 2015 die interessanteste Stadt Österreichs sein – das mag für viele Ohren utopisch klingen und liegt doch durchaus in der Logik aktueller Wirklichkeit. Denn Linz ist schon heute eine interessante Stadt. Eine Stadt mit forschem Tempo, eine Stadt der Ermöglichung, eine unzimperlich lösungsorientierte Stadt, eine soziale Musterstadt, eine ländliche Stadt, eine reiche Stadt, eine international aufgeschlossene Stadt. Und eine Stadt, in der Kultur, Industrie und Natur eine Verbindung eingehen wie kaum irgendwo sonst.
Ein solches Ziel verlangt nach der Bündelung sämtlicher Kräfte. Wobei bloße Muskelmasse nicht ausreicht – gefragt ist jene Spielintelligenz, die das urbane Spiel souverän steuert, ohne um jeden Preis gewinnen zu wollen. Weil klar ist, dass eine Vielzahl von AkteurInnen eingebunden werden muss, weit über die Politik und ihren Wirkungsbereich hinaus, und samt deren Zielen. Das heißt: Es müssen Strategien städtischer Entwicklung gefunden werden, die sich der Komplexität und den Widersprüchen des städtischen Lebens stellen und dennoch darauf aus sind, die Richtung zu halten. Hin zu jenem Horizont einer dichten, vitalen und aufregenden Stadt, die ihren eigenen Stil neu definiert, ohne sich selbst untreu zu werden. Und die imstande ist, die eigene Position zu schärfen. Als Alternative für alle, beispielsweise, denen Wien zu unübersichtlich, zu energiezehrend und zu geschichtslastig ist, und denen die besondere (und erfolgreiche!) Linzer Dynamik in idyllischer Umgebung mehr behagt. In einer derartigen Vision spielt Kultur eine Schlüsselrolle – als Indikator sowohl der Bereitschaft wie auch der Fähigkeit zur Selbstreflexion, aber auch als konkreter Anspruch, die Optionen einer postmodernen Zivilgesellschaft mitteleuropäischen Zuschnitts zu nutzen – für die Bevölkerung der einstigen Stahlstadt und ihre Projekte, aber auch für das Stadtgefüge selbst, das diesen Menschen Heimat ist und Basislager eines Fortschritts, der die Geschichte der europäischen Stadt seit jeher auszeichnet.

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