„Europas Städte – die Stiefkinder der Union?“

„Europas Städte – die Stiefkinder der Union?“

Christian Ude, Oberbürgermeister von München

 

An den Beginn seines Festvortrages zu dem Thema „Europas Städte – die Stiefkinder der Union?“ stellte der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude ein klares Bekenntnis zu Europa: „Die Städte, und zwar nicht nur in Österreich und Deutschland, sondern überall in Europa, waren Vorreiter der europäischen Einigung. Wir haben mit Städte-, Gemeinde- und Kreispartnerschaften das größte Programm des Kennenlernens und Meinungsaustauschs auf diesem Kontinent eingeleitet und durchgeführt, bevor die staatliche Ebene überhaupt so weit war. Darauf können wir stolz sein.
Wir sollten uns aber auch dazu bekennen: Natürlich wollen wir die europäische Einigung. Und selbstverständlich sind die Städ¬te hauptsächlich Gewinner des Einigungsprozesses. Das weiß jede Exportstadt, die den Großteil innerhalb der Europäischen Union absetzt. Das weiß jede touristisch attraktive Stadt, die jetzt von dem grenzenlosen Europa profitiert. Das weiß jedes Unternehmen, das Fachkräfte aus ganz Europa rekrutiert. Trotzdem erhebt sich natürlich die Frage: Spielen die Städte und Kommunen in Europa die Rolle, die ihnen zukommt?“

Stärkere Vertretung auf europäischer Ebene
Die Städte seien die Zukunftswerkstatt des Kontinents, die Europäische Kommission habe das 1990 mit einer Zahl, die viele damals gar nicht glauben konnten, selbst festgestellt, so Ude. So hat die Kommission 1998 ermittelt, dass 80% der europäischen Bevölkerung in Städten oder städtischen Ballungsräumen leben. Logischerweise erheben sich viele große Fragen wie die Frage betreffend den Strukturwandel der Wirtschaft, aber auch die demografische Entwicklung oder die Integration zugewanderter Gruppen vor allem in den Städten. Das müsste sich in europäischen Gremien und auch in europäischen Haushalten widerspiegeln, davon könne aber keine Rede sein. Deswegen gelte es, den Kommunen zu einer noch stärkeren Vertretung auf europäischer Ebene zu verhelfen, so der Münchner Oberbürgermeister.
Kritik an Europa sei richtig und wichtig, es sollten aber nicht nur nationale Machtkämpfe zum Maßstab gemacht werden, sondern objektiv geprüft werden, was Europa bringe. Das sei nämlich gerade bei internationalen Krisen sehr viel!
Gerade beim Thema „Europas Städte – Stiefkinder der Union?“ sei keine „pausbäckige Zustimmung“ angesagt, obwohl der Vertrag von Lissabon auch Schritte in die richtige Richtung aufweise, auf die insbesondere die kommunale Familie stolz sein kann. Der Rat der Gemeinden und Regionen Europas – RGRE – und auch die Städtebünde verschiedener Nationen haben zum ersten Mal darauf gedrängt – was beschämend spät für Europa sei –, dass im Vertrag von Lissabon die lokale Selbstverwaltung als Teil nationaler Identität vorkommt. Und damit nicht genug: Die kommunale Selbstverwaltung wird erstmals in das Subsidiaritätsprinzip einbezogen, also in das Prinzip, wonach Europa sich zurückzuhalten hat, wenn etwas dezentral ebenfalls geregelt werden kann. In einem beigefügten Dokument – was protokollarisch nicht der allerbeste Platz sei – werden immerhin auch die Dienste von allgemeinem Interesse erwähnt, die in den Ermessensspielraum der Verantwortungsträger vor Ort gestellt werden. „Das sind Schritte in die richtige Richtung, die deutlich machen: Richtig ist es nicht, über Europa die Nase zu rümpfen oder Ressentiments weiter zu verbreiten, sondern richtig ist es, sich in Europa so zu engagieren, damit endlich auch kommunale Belange aufgegriffen und in die Wege geleitet werden“, so Ude.

Europäische „Unzulänglichkeit“ bei Daseinsvorsorge
Aber es gebe noch ein großes Feld an Unzulänglichkeiten, und das sei der Umgang mit der kommunalen Daseinsvorsorge. Dass diese in Europa eine so geringe Rolle spiele, sei historisch insofern zu erklären, als Daseinsvorsorge fast nirgendwo so ausgeprägt ist wie in Deutschland und Österreich. Ude wies darauf hin, dass es vor zwei Jahren gelungen sei, auch die französischen Bürgermeister, sowohl die der großen, der mittleren und der kleinen Städte Frankreichs, als Bündnispartner zu gewinnen. Ude: „Und ich meine, wir müssen die Netze auswerfen, um weitere Städtebünde in Europa zu mobilisieren, denn als zwei unter 27 Staaten werden wir uns nicht durchsetzen. Das wird uns nur gelingen, wenn die kommunale Familie Europas zueinander findet, wobei das Problem besteht, dass manche eine kommunale Daseinsvorsorge beziehungsweise Selbstverwaltung verteidigen müssten, die sie gar nicht hätten beziehungsweise die ihnen national noch gar nicht gewährt ist. Das Ganze ist deswegen so schwierig, weil es den fortentwickelten Stand von Selbstverwaltung und Daseinsvorsorge wie in Österreich und Deutschland leider nicht in allen 27 Staaten gibt.“

Recht der Städte auf „Selbstbestimmung“
Das sei wichtig, da die BürgermeisterInnen immer verdächtigt werden, sich dem rauen Wind des Wettbewerbs verweigern zu wollen, weil dann aufkäme, dass Private alles besser und billiger machen, so Ude. Anhand der Wasserversorgung der Stadt London und der drohenden Gefahr der Ausschreibungspflicht des öffentlichen Nahverkehrs zeigte Ude die katastrophalen Ergebnisse auf, die eintreten können, wenn essenzielle Leistungen der Daseinsvorsorge privatisiert werden. „Es ist von zentraler Bedeutung, dass wir die freie Wahl haben. Ein Europa der freien Wahl muss auch die freie Wahl gewähren, wie eine Stadt ihren Nahverkehr organisieren will, ob sie es selbst machen will, weil es sich 100 Jahre lang bewährt hat, oder ob sie privatisieren will, was sie immer schon durfte, wenn sie wollte“, so Ude.

Rekommunalisierung
Es dürfe keinen Zwang zur Privatisierung geben, und diejenigen, die ihm schon erlegen seien – meist war ein finanzieller Zwang –, bereuen es heute bitter. „Das Programm der Stunde – man glaubt es nicht! – heißt: Rekommunalisierung.“ So versuche Hamburg wieder, ein Energieunternehmen aufzubauen, nachdem es die weltberühmten Hamburger Elektrizitätswerke verkauft hatte. In Kiel sei geplant, Stadtwerke zu gründen, weil die eigenen veräußert wurden. Am Bodensee tun sich sieben Gemeinden zu einer gemeinsamen Entsorgungsgesellschaft zusammen, nachdem man die traditionelle Müllabfuhr versilbert hat. „Vermeiden Sie also bitte den Fehler, etwas zu veräußern, was Sie dann ein paar Jahre später reumütig durch kleine und teure Neugründungen wieder ausgleichen müssen! Ich denke, wir sollten dem Zeitgeist gleich widerstehen, an der kommunalen Daseinsvorsorge festhalten und sie auf europäischer Ebene verteidigen“, schloss der Oberbürgermeister von München.

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